EdoMex und Coahuila – zwei sehr unterschiedliche Herausforderungen
Der Wahlkalender der 32 mexikanischen Bundesstaaten und die jeweils nationalen Wahlen (alle sechs Jahre werden Staatspräsident und Senat, alle drei Jahre die Abgeordnetenkammer gewählt) bescheren dem Land praktisch jedes Jahr Wahlen. In diesem Jahr 2023 war dies in den Bundesstaaten Coahuila und Estado de Mexico der Fall, wo Gouverneure und Landesparlamente gewählt wurden.
Die Realität beider Bundesstaaten könnte kaum unterschiedlicher sein:
Der Estado de México im Zentrum Mexikos ist mit rund 17 Mio. Einwohnern der bevölkerungsreichste Bundestaat (13,55% der Gesamtbevölkerung), mit seinen 22.500 km² stellt er allerdings nur 1% der gesamten Fläche des Landes. Das spiegelt sich auch in der Wirtschaftsleistung wieder: EdoMex erwirtschaftet immerhin 9,1% des gesamten BIP Mexikos.
Der an der Grenze zu den USA gelegene Bundesstaat Coahuila hingegen umfasst eine Fläche von 151.571 km (damit 7,7% der Gesamtfläche), hat allerdings nur 3,15 Mio. Einwohner und damit nur 2,5 % der Gesamtbevölkerung und trägt auch nur mit 3,6% zum gesamten BIP bei.
Beiden gemeinsam hingegen war bisher die politische Realität: Bis zu diesem Jahr 2023 wurden sie rund 90 Jahre lang ununterbrochen von der vormals alles dominierenden Partido Revolucionario Institucional (PRI) regiert.
Die politische Herausforderung war in beiden Fällen gleich: Aus der Sicht der Regierungskoalition unter der Führung von MORENA galt es, diese langjährigen PRI-Bastionen zu erobern, aus der Sicht der Oppositionskoalition „Va por México“ (bestehend aus der PRI, Partido Acción Nacional – PAN und Partido Revolución Democrática – PRD) sollte weiterer territorialer Zugewinn von MORENA verhindert werden[1] und insbesondere für die PRI galt es, den so wichtigen Bundesstaat EdoMex nicht auch an MORENA zu verlieren und damit weiter in die politische Bedeutungslosigkeit abzurutschen.
In beiden Fällen hatte die stärkste Oppositionspartei PAN im Rahmen der Koalitionsvereinbarung auf die Spitzenkandidatur verzichtet und PRI-Kandidaten den Vortritt gelassen, um ihrerseits dann in 2024 ein entsprechendes Vorgriffsrecht auf die Kandidatur in der Hauptstadt Ciudad de México und – in weniger expliziter Form –auch auf die Präsidentschaftskandidatur zu bekommen.
Wahlkampf, Prognosen und Ergebnisse
Auch wenn regelmäßig Umfragen aus beiden Bundesstaaten veröffentlicht wurden und in beiden Fällen TV-Debatten der Spitzenkandidaten stattfanden, konzentrierte sich das mediale Interesse im Wesentlichen auf den Estado de México. Dies ist angesichts der vorher beschriebenen Realitäten wenig verwunderlich.
Während es im Falle Coahuilas mehrere Wochen vor der Wahl noch nach einem eher knappen Ergebnis aussah und sich erst in den letzten 2-3 Wochen immer deutlicher ein doch sehr deutliches Ergebnis abzeichnete, waren die Umfragen im Falle Estado de México durchweg konstant und gingen immer von einem mehr oder weniger deutlichen Wahlsieg MORENAs aus. Dabei schwankten die Prognosen zwischen 10-20% Vorsprung.
Auch die beiden TV Duelle, aus denen die Herausforderin Alejandra del Moral als eindeutig überzeugender hervorging, änderten nichts Wesentliches an diesen Prognosen.
Der Wahlkampf selbst verlief in beiden Fällen nach traditionellen mexikanischen Mustern und ohne größere Zwischenfälle: umfangreiche Plakatierung, jede freie Wandfläche mit Wahlkampfslogans bemalt und eine ganze Serie von Wahlkampfauftritten, bei denen man sich jeweils quantitativ zu übertreffen versuchte, ohne dabei mit inhaltlichen Aussagen zu glänzen.
Auch das jeweilige Spitzenpersonal der Parteien auf nationaler Ebene war in beiden Lagern präsent, inkl. der potentiellen Präsidentschaftskandidaten insbesondere auf Seiten MORENAs.
Der Wahlsonntag 4. Juni 2023 selbst verlief auch ohne nennenswerte Zwischenfälle, das vorläufige amtliche Endergebnis lautete wie folgt:
COAHUILA:
Die „Alianza Ciudadana por la Seguridad”, bestehend aus PRI, PAN und PRD, mit ihrem Spitzenkandidaten Manolo Jiménez Salinas, erzielte 741.731 Stimmen (56,94%), während die Herausforderer Armando Guadiana Tijerina (MORENA), 279.894 Stimmen (21,48%), Ricardo Sóstenes Mejía Berdeja (Partido del Tarabajo-PT) 173.380 Stimmen (13,31%) und Lenin Pérez Rivera, Unidad Democrática de Coahuila 76.624 Stimmen (5,88%) auf insgesamt 40,67% kamen. Angesichts der fehlenden Einigkeit bei den Herausforderern lag der Abstand am Ende zwischen dem Erst- und Zweitplatzierten bei deutlichen 35%. Die Wahlbeteiligung in Coahuila lag bei 55,1%.
ESTADO de MÉXICO:
Die von MORENA angeführte Koalition “Juntos Haremos Historia" ging als eindeutiger Wahlsieger hervor.
Die Spitzenkandidatin Delfina Gómez erzielte 3.268.516 Stimmen, was 52,66 % entspricht. Von diesen Gesamtstimmen entfielen allein 2.184.706 auf MORENA und auf die PT 460.105.
Die Kandidatin der Koalition „Va por México“, Alejandra del Moral (PRI) erzielte 2.752.330 Stimmen (44,34%), damit betrug der Abstand zur Wahlsiegerin 8,32%. Hier lag mit 49,88% die Wahlbeteiligung noch niedriger als in Coahuila. Dabei trugen vor allem 1.748.271 PRI-Stimmen, 701.116 PAN-Stimmen und 183.079 PRD-Stimmen zum Gesamtergebnis bei.
Interpretation und Konsequenzen
Auch wenn die Ergebnisse in beiden Fällen den Prognosen weitestgehend entsprachen und damit echte Überraschungen ausblieben, sind die Konsequenzen im Hinblick auf die politischen Akteure (Koalitionen und Parteien) und vor allem mit Blick auf die im Jahr 2024 anstehenden Präsidentschaftswahlen durchaus signifikant.
Das Ergebnis in Coahuila zu Gunsten der Koalition PRI-PAN-PRD fiel vor allem deshalb so eindeutig aus, weil auf Seiten der MORENA-Koalition die jeweiligen Kandidaten aneinandergerieten, letztlich getrennt antraten und der Spitzenkandidat von MORENA selbst (Armando Guadiana) eine alles andere als überzeugende Wahlkampfperformance an den Tag legte. Allerdings muss man auch festhalten, dass trotz aller Bemühungen der „Va por México“-Koalition dieses Ergebnis als herausragenden Sieg zu feiern (was er ohne Zweifel war), stellte die Bedeutung der Wahl im Estado de México diese Tatsache klar in den Schatten. Immerhin gelang es der PRI, wenigstens einen der beiden Staaten zu halten und so eine komplette Niederlage zu vermeiden.
Im Estado de México stand weitaus mehr auf dem Spiel, von daher konzentrierten hier alle Parteien ihre Bemühungen. Auch standen sich hier zwei Kandidatinnen gegenüber, was mit Blick auf die Präsidentschaftswahl 2024 auch den Aspekt thematisierte, ob Mexiko „reif“ für eine Präsidentin sei (und mit Claudia Scheinbaum oder Lilly Téllez stehen ja potentielle Kandidatinnen bereit).
Das Ergebnis im Estado de México besiegelt und beendet eindeutig eine politische Ära in Mexiko, die durch die Allmacht der PRI bis zum Jahr 2000 und partiell letztlich bis 2018 (bis zum Wahlsieg MORENAs und AMLOs) Bestand hatte.
Dass die PRI nun nur noch zwei Gouverneure (in Durango und Coahuila – und dort auch „nur“ Dank der Koalition mit PAN und PRD) stellt, unterstreicht diese Tatsache.
MORENA konnte ihren seit 2018 begonnen territorialen Siegeszug fortsetzen und den bevölkerungsreichsten Bundesstaat Estado de México hinzugewinnen. 23 von 32 Bundesstaaten sind eine hervorragende Ausgangsposition für die Wahlen 2024.
Damit hat sich die politische Landkarte im Vorfeld der Wahl 2024 signifikant verändert:
Während 2012 noch 57,3% der Gesamtbevölkerung in den 32 Bundesstaaten von der PRI regiert wurden, sank dieser Anteil in 2018 auf 35,2% und nun 2023 auf klägliche 3,8%.
MORENA hingegen steigerte sich von 2012 0% auf 2018 35,2% und nun 2023 auf satte 71,2%.
Die PAN konnte bei beiden Wahlen nichts Sichtbares gewinnen (durch den Verzicht auf Spitzenkandidaturen), hat aber in beiden Fällen auch nicht signifikant zu beiden Ergebnissen beigetragen. Der Vergleich zu den Zwischenwahlen 2021 zeigt, dass die PAN in beiden Fällen deutlich weniger Stimmen in der Koalition beigetragen hat, was die einfache Erklärung beinhaltet, dass traditionelle PAN-Wähler nicht automatisch Koalitionsvereinbarungen folgen und Kandidaten anderer Parteien wählen.
Die andere wichtige Oppositionspartei Movimiento Ciudadano (MC) hatte komplett darauf verzichtet, in beiden Bundesstaaten anzutreten und konzentriert sich nun ausschließlich auf 2024, hat aber im unmittelbaren Anschluss an die Wahl vom 4. Juni 2023 erneut bekräftigt, sich keiner Koalition anschließen zu wollen. Auf eine entsprechende Einladung des PAN-Vorsitzenden, Marko Cortes, reagierte der Parteivorsitzende von MC, Dante Delgado, am Montag, den 5. Juni süffisant: „Sie sind immer wieder gescheitert und wollen nun, dass wir uns auf die Titanic begeben. Das ist unmöglich. Sie wollen uns als Violinisten in ihrem imaginären Konzert.“ [2]
Die Wahl vom 4. Juni ist auch der Startschuss für den nun beginnenden Wahlkampf 2024.
Die Herausforderungen auf beiden Seiten sind eindeutig:
Die Regierungskoalition will und wird nun sehr rasch die Kandidatenfrage klären, die im Vorfeld drohte, etwas aus dem Ruder zu laufen.
Ein Abendessen am 5. Juni auf Einladung des Staatspräsidenten AMLO, an dem alle MORENA- Kandidatinnen und Kandidatenn, Claudia Sheinbaum, Marcelo Ebrard, Adán Augusto López und Ricardo Monreal sowie zahlreiche MORENA-Gouverneure teilnahmen, sorgte offenbar Dank der Autorität des Präsidenten für (vorläufige) Einigkeit und Ruhe. AMLO forderte offenbar, dass nun alle Kandidaten von ihren aktuellen Ämtern[3] zurücktreten sollten, um sich der MORENA-internen Umfrage zu stellen, die die Spitzenkandidatur definieren soll. Damit käme er einer zentralen Forderung von Marcelo Ebrard nach. Bereits am nächsten Sonntag, den 11. Juni, soll der Termin für diese Umfrage entschieden werden.
Damit würde sich das Panorama bei MORENA klären und die spannende Frage aufwerfen, wie sich die dann unterlegenen Kandidaten positionieren. Gerüchte, dass sich insbesondere Ebrard in einem solchen Falle ggf. MC anschließen könnte, halten sich hartnäckig.
Auf Seiten der Opposition ist das Panorama ungleich diffuser. Es gilt, nicht nur die Wahlniederlage im Estado de México zu verdauen und sich nicht allein in Schuldzuweisungen zu verlieren. Es wirft durchaus auch die Frage auf, ob diese Koalition wirklich addiert und quantitative Zugewinne ermöglicht. Gerade für die PRI, die vor der Herausforderung ihres politischen Überlebens steht, könnten Avancen von Seiten MORENA eine verlockende Alternative sein.
Aber auch die PAN steht vor komplexen internen Auseinandersetzungen, nicht nur aber vor allem im Kontext der Kandidatenfrage, sowohl auf nationaler Ebene, aber auch in politischen „hotspots“ wie der Ciudad de México oder PAN-Hochburgen wie Guanajuato. Das bis dato fast schon stoische Festhalten der PAN an der Koalition mit PRI und PRD wird intern und von externen Kommentatoren zunehmend hinterfragt. Diese Skepsis bekommt durch das beschriebene Ergebnis im Estado de México Gegenwind. Aber solange MC an ihrer (taktisch durchaus plausiblen) „splendid isolation“ festhält, dürfte es schwer werden, die erforderlichen Stimmen auf Seiten der Opposition anderweitig zu addieren.
Bei der Opposition ist derzeit weder das Verfahren, noch der Zeitplan noch die Kandidatenfrage geklärt. Der verbleibende Zeitraum wird immer enger und die Aussichten, MORENA tatsächlich noch an einer erneuten Regierungsperiode ab 2024 zu hindern, immer düsterer.
[1] Zwischen 2018 und 2022 hatten MORENA und ihre Koalitionspartner bereits 22 der 32 Bundesstaaten bei Landtagswahlen gewonnen, die PRI stellte vor dieser Wahl nur noch drei Gouverneure (Durango, Estado de Mexico und Coahuila), die PAN fünf (Yucatan, Guanajuato, Chihuahua, Aguascalientes und Queretaro) und Movimiento Ciudadano zwei (Nuevo Leon und Jalisco).
[2] Reforma, 6.6.2023 Seite 1
[3] Claudia Sheinbaum: Oberbürgermeisterin Ciudad de México, Marcelo Ebrard: Außenminister, Augusto Adan Lopez: Innenminister und Ricardo Monreal: Fraktionsvorsitzender MORENA im Senat.