Spätestens seit Mitte März dominiert der Kampf gegen COVID-19 nahezu komplett die Agenda aller namhaften in Genf vertretenen internationalen Organisationen. Diese Bemühungen standen auch bei der Weltgesundheitsversammlung am 18./19. Mai im Fokus. Hier konnte trotz erheblicher geopolitischer Spannungen im Umfeld des virtuellen Treffens eine ehrgeizige Resolution verabschiedet werden. Doch auch darüber hinaus gab es einige bemerkenswerte Entwicklungen im multilateralen Genf, nicht zuletzt durch die überraschende Rücktrittsankündigung des WTO-Generaldirektors Roberto Azevêdo.
Globale Gesundheit – Wegweisende Welt-gesundheitsversammlung
Auf der 73. Weltgesundheitsversammlung (WHA), die am 18.-19. Mai in verkürzter Form und erstmals virtuell abgehalten wurde, verabschiedeten die 194 Mitgliedstaaten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine wegweisende Resolution , um die COVID-19-Pandemie gemeinsam durch kollektive, globale Maßnahmen zu besiegen. Anstelle des eigentlich geplanten Themas "Pflegekräfte und Hebammen" stand der Kampf gegen die globale Pandemie neben der (Teil-)Neuwahl des Exekutivrats im Vordergrund. Eine Fortsetzung der verkürzten Sitzung der WHA ist Ende des Jahres (voraussichtlich im November) geplant.
Die konsequente Botschaft während des zweitägigen Treffens der Gesundheitsminister aller WHO-Mitgliedsstaaten – einschließlich der 14 an den Eröffnungs- und Abschlusssitzungen teilnehmenden Staatsoberhäupter (darunter auch Bundeskanzlerin Angela Merkel) – war die globale Einheit als mächtigstes Instrument zur Bekämpfung der Pandemie. Die von der Europäischen Union und ihren Mitgliedsstaaten initierte und von mehr als 140 Ländern mitgetragene Resolution ist eine konkrete Manifestation dieses Aufrufs und eine Roadmap zur Kontrolle des Pandemieausbruchs. Sie fordert eine Intensivierung der Bemühungen auf nationaler und internationaler Ebene zur Bekämpfung der Pandemie. Die Umsetzung würde eine koordiniertere, kohärentere und gerechtere Reaktion auf die Pandemie gewährleisten, die sowohl Leben als auch Existenzgrundlagen rettet. Die Resolution unterstreicht die Bedeutung der multilateralen Zusammenarbeit unter dem Dach der Vereinten Nationen zur Reaktion auf die Krise. UN-Generalsekretär Guterres kritisierte bei der WHA das weltweit uneinheitliche Vorgehen. Hingegen wurden die WHO und auch ihr Generaldirektor Tedros Ghebreyesus von zahlreichen Mitgliedsstaaten in ihren Videobotschaften demonstrativ für ihre führende Rolle bei der Steuerung der Reaktion auf diese Krise gelobt. Die Schlüsselrolle der WHO als Koordinatorin der Krise und ihre Verantwortung, einen gerechten Zugang und eine gerechte Verteilung aller wesentlichen Gesundheitstechnologien und -produkte zur Bekämpfung des Virus zu sichern, wird dabei – u.a. von der Bundeskanzlerin – unterstrichen.
Die zentralen Passagen der Resolution betreffen das Bekanntnis zu einem freiweilligen Bündeln von Patenten sowie die Forderung nach gleichem Zugang zu Impfstoff und Therapeutika. Explizit wird auch die Möglichkeit der Umgehung internationalen Patentrechts festgehalten (Erwähnung der Nutzung entsprechender Bestimmungen des TRIPS-Übereinkommens). Das ist durchaus ein weitgehender Schritt – u.a. die USA hatte versucht, diesen Passus zurückhaltender zu gestalten. Ebenfalls wichtig: Viele Regierungschefs und Minister auch größerer Länder stuften künftige COVID-19-Impfstoffe als globales öffentliches Gut ein: das impliziert Erschwinglichkeit und freien Zugang.
Die Resolution betont die Förderung der vom privaten Sektors und von Regierungen finanzierten Forschung und Entwicklung. Dies beinhaltet offene Innovation in allen relevanten Bereichen und den Austausch aller relevanten Informationen mit der WHO. Eine wichtige Rolle könnte die von Costa Rica vorgeschlagene COVID-19-Technologieplattform sein, die am 29. Mai starten wird und die darauf abzielt, die Zugangsbarrieren zu wirksamen Impfstoffen, Arzneimitteln und Gesundheitsprodukten zu beseitigen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt der Resolution ist die von vielen Ländern geforderte unparteiische, unabhängige und umfassende Untersuchung und Evaluierung der globalen Reaktion aller Regierungen und internationalen Gremien auf die Pandemie, einschließlich, aber nicht beschränkt auf die Arbeit der WHO. Die Resolution unterstreicht dabei, dass in der gegenwärtigen Situation das akute Krisenmanagement Vorrang hat. Zudem soll sowohl die Entstehung und Ausbreitung der Pandemie untersucht werden, als auch eine Überprüfung der Internationalen Gesundheitsvorschriften von 2005 erfolgen. Lehren aus der aktuellen Krise sind essentiell, um die globale Gemeinschaft für mögliche zukünftige Pandemien und Gesundheitskrisen zu stärken. Bundeskanzlerin Angela Merkel betonte die Bedeutung besserer Frühwarnmechanismen und Präventionsmaßnahmen und mehr Forschungskooperation. Ein Zeitrahmen für die Untersuchung wurde nicht festgelegt. Tedros bekräftigte bei der WHA, er würde eine unabhängige Bewertung zum frühesten geeigneten Zeitpunkt initiieren.
Bemerkenswert war zudem, dass mehrere Mitgliedstaaten in den Videobotschaften die Frage einer nachhaltigeren Finanzierung der WHO aufgriffen. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn mahnte zudem, man müsse die WHO unabhängiger von externer Einflussnahme machen. Er kündigte an, dass Deutschland mit Frankreich ein Konzept zur WHO-Reform vorlegen und während der EU-Ratspräsidentschaft weiter entwickeln würden.
Die Annahme der Resolution ist als Erfolg der WHA zu werten. Selbst wenn die Umsetzung natürlich von den Mitgliedstaaten abhängt, so kreiert sie doch ein wichtiges politisches Momentum. Im Vorfeld der WHA hatten nicht wenige Beobachter gefürchtet, dass geopolitische Spannungen vor allem zwischen den USA und China die WHA komplett überlagern würden. Dies bestätigte sich nicht in dem zuvor befürchteten Maße. Dennoch spielte der Zwist wiederholt eine Rolle. Der Auftritt der beiden globalen Schwergewichte hätte jedenfalls unterschiedlicher kaum sein können.
Zwar blockierte die USA die Resolution nicht und distanzierte sich lediglich von mehreren Formulierungen der Resolution – u.a. Forderungen nach einem allgemeinen, schnellen und gleichberechtigten Zugang zum Impfstoff und dem Aufruf zur Bündelung von Patenten. Forderungen zum Verzicht auf geistige Rechte würden zudem "die falsche Botschaft an Innovatoren senden, die für die Lösung, (…) von wesentlicher Bedeutung sind". Dennoch waren die USA das einzige Land, welches sich dezidiert kritisch äußerte: Auf der WHA trug Gesundheitsminister Alex Azar nochmals die Gründe für die Eskalation der Pandemie vor: Die WHO habe darin versagt, früh genug die nötigen Informationen über den Ausbruch von China zu beschaffen. Für öffentliches Aufsehen sorgte zudem ein während der WHA von Trump auf Twitter veröffentlichter Brief an WHO-Chef Tedros, der nochmal meist bereits bekannte Vorwürfe gegen die WHO erhebt. Zudem droht der US-Präsident mit einer Einstellung der Zahlungen und einem Überdenken der Mitgliedschaft in der WHO, wenn diese nicht innerhalb von 30 Tagen Reformvorschläge vorlegten. Tedros ging während der WHA nicht auf den Brief oder die Vorwürfe ein. Er verwies im Nachgang lediglich auf einen Bericht des für die Gesundheitsnotfallprogramme der WHO zuständigen unabhängige Aufsichtsgremium: dieses hatte die Führung durch die WHO im Rahmen der Krise gelobt und vor einer wachsenden Politiksierung der Antwort auf die Pandemie gewarnt.
Ganz anders China: Die WHO hatte sowohl Trump als auch den chinesischen Präsidenten Xi Jinping als teilnehmende Staatsoberhäupter an den Eröffnungs- und Abschlusssitzungen der WHA angefragt. Trumps Absage bot Xi Jinping eine Plattform, um seine Unterstützung für die Resolution zu bekräftigen und direkt zwei Milliarden US-Dollar für die Corona-Bekämpfung für die nächsten zwei Jahre anzukündigen. China verpflichtete sich zudem, der ganzen Welt den Impfstoff gegen COVID-19 zur Verfügung zu stellen, sollte China ihn als erstes Land entwickeln. Xi Jinping verteidigte sein Land gegen Vorwürfe und Kritik, die China eine Vertuschung des Ausbruches vorwerfen und betonte, man habe stets mit Offenheit (!) und Transparenz (!!) reagiert.
Die von 13 Ländern im Vorfeld der WHA erhobene Forderung nach einer WHA-Teilnahme Taiwans als Beobachter, die auch von den USA, Neuseeland, Japan, Kanada und Australien gestützt, von Peking und seinen Verbündeten aber empört abgelehnt wurde, ist hingegen auf die Folgesitzung im November vertagt. Noch am Wochenende hatte es offenbar intensive diplomatische Bemühungen gegeben, um einen offenen Eklat bei der zeitlich knapp bemessenen WHA zu dieser Frage zu verhindern.
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