Veranstaltungsberichte
Gleich zwei Themengebiete standen im Zentrum einer Vortrags-/Diskussionveranstaltung, die i.R. der Ausstellung 'Gulag - Spuren und Zeugnisse' der Landesbeauftragten MV für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes im August im Schweriner Marstall stattfand. Unter sehr großem Interesse wurde über ‚Deutsche in sowjetischen Lagern’ sowie über ‚Speziallager auf deutschem Boden 1945-50’ informiert und diskutiert.
Dr. Hilger befasste sich mit dem Massenschicksal deutscher Gefangener in sowjetischen Lagern 1941-1956. Zunächst machte er darauf aufmerksam, dass es sehr unterschiedliche Häftlingsgruppen mit jeweils verschiedenem Status gegeben habe. Für seine weiteren Ausführungen schloss er die nachfolgenden Gruppen aus: Deutsche Wissenschaftler / Ingenieure / Facharbeiter, die aus der SBZ nach Russland verschleppt worden waren. Sowjetische Staatsbürger mit deutschem Hintergrund, z. B. die Wolgadeutschen. Deportierte Volksdeutsche aus anderen Gebieten, z. B. aus Rumänien, Ungarn.
Eine kleinere Gruppe sei die der ab 1945
zur Zwangsarbeit deportierten Reichsdeutschen
. Es habe sich um ca. 80.000 – 100.000 vornehmlich Männer zwischen 17 und 50 Jahren gehandelt. Sie seien hauptsächlich in den Kohlebergbau verbracht worden. Eine extrem hohe Sterblichkeitsrate bis 20 % verweise auf katastrophale Lager- und Arbeitsbedingungen. Die meisten der Überlebenden seien in den Jahren 1946 - 1949 repatriiert worden.
Die weitaus größere Gruppe sei die der
Kriegsgefangenen
. Exakte Zahlenangaben seien nicht möglich, sowjetische Unterlagen gehen von ca. 2,4 mio., deutsche Schätzungen von 3,1 mio. Gefangenen aus. Sofern keine Verurteilung z. B. aufgrund politischer oder Lagervergehen vorlag, seien diese Inhaftierten ausnahmslos in Kriegsgefangenenlagern untergebracht gewesen. Diese ab 1939 entstandenen Lager, die zunächst polnische und finnische sowie ab 1941 deutsche, österreichische, rumänische später auch japanische Kriegsgefangene aufgenommen haben, standen unter einer eigenständigen Verwaltung des Innenministeriums parallel zum Gulag. Es sei ein anderes System mit anderen Lebens- und Arbeitsbedingungen gewesen, gleichwohl mit vielen Querverbindungen zum Gulag-System. So seien z. B. in den Kriegsgefangenenlagern die Haftregime etwas gemäßigter gewesen, Postverkehr sowie Kontakte zur Zivilbevölkerung habe es gegeben, ebenso Chancen auf Repatriierung. Die Sterblichkeitsrate sei dennoch auch in den Kriegsgefangenenlagern mit bis zu 20 % sehr hoch gewesen. Die Repatriierungen für Nicht-Verurteilte wurden bis 1950 abgeschlossen.
Anders sei es für die ca. 35.000 deutschen
Kriegsgefangene verlaufen, die bis 1950 aus den unterschiedlichsten Gründen verurteilt
worden waren. Sie seien teil- und zeitweise in die Gulag-Lager eingewiesen worden. Ab 1950 seien sie unter verschärften Haftbedingungen wieder zurück in die Kriegsgefangenenlager gekommen.
In großen Wellen haben Repatriierungen stattgefunden, die letzten 1955-1956 in Kontext der Aufnahme diplomatischer Beziehungen und des Besuchs Konrad Adenauers in Moskau. Unter den ca. 10.000 letzten Heimkehrern seien ca. 3.000 Zivilisten gewesen, die seinerzeit in der SBZ / später in der DDR von sowjetischen Gerichten verurteilt und in die SU deportiert worden waren.
Bei der
Bewertung der Häftlingsschicksale und der dahinterstehenden sowjetischen Politik
gebe es sehr unterschiedliche Perspektiven. Betroffene / ehemalige Häftlingen verweisen i.d.R. darauf, dass Stalin sich an den deutschen Gefangenen habe rächen wollen. Die Sowjetmacht selbst hingegen habe sich stets darauf zurückbezogen, sich im Rahmen der Alliierten bewegt zu haben. Die gemeinsame alliierte Kriegsgefangenenpolitik hatte sich darauf festgelegt, dass man Kriegsverbrecher verfolgen solle, dass die Deutschen den Schaden, den sie angerichtet haben, durch Arbeit wieder gutmachen sollten, dass die Besatzungsmächte das Recht haben, ihre in den Besatzungszonen stationierten Truppen und ihre Politik zu sichern.
Angesichts der von der SU eingesetzten menschenverachtenden Maßnahmen könne man – so Dr. Hilger – jedoch nur zu dem Ergebnis kommen, dass die Sowjetmacht die alliierten Rahmenbedingungen ad absurdum geführt habe. Und dennoch: Trotz extrem hoher Sterblichkeitsraten, extrem schlechter Lager- und Arbeitsbedingungen etc. könne nicht von einem wahren Rachefeldzug Stalins gegen die Deutschen gesprochen werden. Die Behandlung Deutscher müsse vielmehr in einer gesamtstalinistischen internationalen Aufstellung nach 1945 verortet werden, bei der die SU in einem scharf verstandenen internationalen Klassenkampf gegen den äußeren Feind schnellstmöglich alles Greifbare ohne Rücksicht auf Verluste (aus den Gefangenen sollte möglichst viel herausgepresst werden) für die eigenen Ziele ausnutzen wollte.
Dr. Morré befasste sich mit der Thematik der
Speziallager
. Ab 1945 seien auf deutschem Boden in der SBZ 10 Speziallager überwiegend in bestehenden Lagereinrichtungen, d. h. in ehemaligen KZ’s oder Kriegsgefangenenlager, eingerichtet worden. Ca. 180.000 -190.000 Menschen seien bis 1950 in diesen Lagern inhaftiert gewesen. Ca. 1/3 dieser Menschen hätten die grauenhaften Haftbedingungen - Hunger, Kälte, keine medizinische Versorgung – nicht überlebt. Kontakte zur Außenwelt seien komplett unterbunden gewesen; selbst im Todesfall habe es keine amtliche Auskunft gegeben. Ein weiteres Kernproblem: Es gab keinerlei Chancen auf Entlassung.
Die Schließung der Lager bis 1950 habe im Zusammenhang mit der Gründung der DDR gestanden. Ein Großteil der Häftlinge sei bei Lagerauflösung in den Strafvollzug der DDR überstellt worden.
Grundlage der Speziallager war ein Befehl des NKWD vom 18.4.1945, der eine Inhaftierung an Ort und Stelle vorsah sowie nach einem Entnazifizierungsvorsatz der Siegermächte eine Belangung von Funktionsträgern des Nationalsozialistischen Systems einforderte. Allerdings: diese Inhaftierungsvoraussetzung sei mehr und mehr in den Hintergrund gerückt und zunehmend seien politisch unliebsame Personen inhaftiert worden. Ab 1946 habe man außerdem die Lager mehr und mehr für Menschen geöffnet, die vom sowjetischen Militärtribunal aus politischen Gründen verurteilt worden waren.
Im Vergleich zu den Gulag-Straflagern auf sowjetischem Boden müsse bei den Speziallagern von einem eigenständigen System gesprochen werden. Inhaftierte der Gulag-Straflager mussten z. B. im Bergbau arbeiten und es wurden antifaschistische Erziehungsmaßnahmen durchgeführt. Diese gab es in den Speziallagern nicht; auch waren keine Arbeitsmaßnahmen zur Erfüllung volkswirtschaftlicher Ziele vorgesehen, die Inhaftierten wären nicht dazu in der Lage gewesen.
In der sich anschließenden Diskussion wurden zahlreiche Themen angesprochen.
So ging es z. B. um die Frage, ob den
Westalliierten bekannt gewesen sei, dass die zunächst unter dem Vorwand einer Entnazifizierung angelegten Speziallager sich mehr und mehr zu Lagern für politisch unliebsame Bürger gewandelt hatten
.
Dr. Morré wies darauf hin, dass die Westalliierten zunächst nicht, später durchaus davon wussten. Gleichwohl seien ihre Reaktionen sehr zurückhaltend ausgefallen. Zunächst habe ein Desinteresse geherrscht. Schließlich habe man kaum Handlungsmöglichkeiten gesehen, zumal sich die SU auf die Jalta-Verhandlungen berufen habe. In gemeinsamen Gremien der Alliierten habe die SU leere Versprechungen gemacht. Auch die katastrophalen Zustände in den sowjetischen Kriegsgefangenenlagern hätten bei den westlichen Alliierten zunächst keine direkten Reaktionen hervorgerufen. Unmittelbar nach 1945 hatten die deutschen Soldaten in den Westalliierten keine Fürsprecher.
Abschließend ging es um die Frage, wie sich
insbesondere in den letzten Monaten die Zusammenarbeit mit russischen Historikern, Archiven, Aufarbeitungsinitiativen
entwickelt habe. Herr Dr. Morré als Direktor des Museums Karlshorst erinnerte, dass in Karlshorst die Wehrmacht am 8. Mai 1945 kapituliert habe. Das später entstandene sowjetische Militärmuseum sei 1994 in eine gemeinsame deutsch-russische Trägerschaft übergegangen, die Museen des Großen Vaterländischen Kriegs von Kiew und Minsk seien als institutionelle Mitglieder beigetreten. Die gemeinsame Initiative sei letztlich eine Geste der Versöhnung. Der Umgang mit der Vergangenheit sei gleichwohl jeweils höchst unterschiedlich. Während die deutsche Seite sehr stark auf eine Aufarbeitung des Vernichtungskrieges fokussiere, halte Russland am Nimbus des strahlenden Siegers fest. Das Selbstverständnis ‚Ruhm und Ehre der Sowjetarmee’ dürfe nicht beschädigt werden. Problematisch sei, dass die russischen Archive nach wie vor nicht zugänglich seien, was eine Aufarbeitung der Militärgeschichte verhindere. Eine Aufarbeitungskultur, wie sie sich in Deutschland entwickeln konnte, sei in der russischen staatlich gelenkten Öffentlichkeit mit einer weitestgehend gleichgeschalteten Presse nicht existent. Memorial als eine der ganz wenigen Initiativen werde durch Drangsalierungen permanent in ihrer Existent bedroht.