Veranstaltungsberichte
Zunächst lud die Konrad-Adenauer-Stiftung zu einem Mittagsgespräch nach Braunschweig in das Theologische Zentrum ein, wo neben Dr. Stefan Luft auch der Bundestagsabgeordnete Carsten Müller MdB seine Einschätzung zu den gegenwärtigen Flüchtlingsbewegungen gab. Am Abend folgte ein weiterer Vortrag des Privatdozenten in einem Gasthaus in der Wedemark, politisch begleitet von der Landtagsabgeordneten Editha Lorberg MdL.
Carsten Müller MdB schilderte in seiner Einleitung zunächst die Reaktion des Deutschen Bundestages auf die ersten Flüchtlingsströme im Sommer wenige Monate zuvor und machte deutlich, wie präsent und bedeutend das Thema in Deutschland ist und auch bleiben wird. Man habe die Entwicklung schlichtweg lange Zeit verdrängt, als die ersten Flüchtlinge in tausender Größen auf der Insel Lesbos oder Lampedusa angekommen sind, so der Bundestagsabgeordnete. Daher sei es unter den heutigen Umständen umso wichtiger, dass drüber gesprochen wird und Experten angehört werden. Ebenso berichtete er von persönlichen Eindrücken in der Landesaufnahmebehörde in Braunschweig, wo es, wie in allen Behörden bundesweit, ganz klar an Personal fehlt und darin mündet, dass die Flüchtlinge monatelang auf ihr Erstgespräch beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) warten müssen. Damit benannte er nur eines der gegenwärtig zu bewältigenden Probleme für die Politik und Gesellschaft. Auch Editha Lorberg MdL gab in ihrer Einleitung zu verstehen, die Politik habe vor dem, was sich bereits vor Jahren ankündigte, ein Stück weit die Augen verschlossen. Nun sei es die Aufgabe auch für die Gesellschaft, die Herausforderung anzunehmen und für die Politik, die Situation auf landes- und kommunalebene bestmöglich zu bewältigen. Die Wiederherstellung eines allgemeinen Gleichgewichts sei jedoch eine weltpolitische Aufgabe, so die Landtagsabgeordnete.
Der Politikwissenschaftler Dr. Stefan Luft befasst sich bereits seit vielen Jahren mit der Migrations- und Integrationspolitik, hat einige Publikationen dazu veröffentlicht und bot daher einen differenzierteren Blick auf die aktuellen Ereignisse. Luft gab den Zuhörern zunächst einen Überblick über die allgemeinen Migrationsbewegungen weltweit. In so einem Fall, wie den aktuellen Flüchtlingsströmen nach Europa, müsse klar benannt werden, welche Akteure neben den Flüchtlingen betroffen sind. Denn in den meisten Fällen handelt es sich gleichermaßen um eine Krise in den Herkunfts- und Transitländern, wie auch den Aufnahmeländern. Der Migrationsexperte betonte zu Beginn seines Redebeitrages, dass die Länder in Europa jedoch nicht das Zentrum der Aufnahmeländer weltweit darstellen.
Es gibt 59,5 Mio. Flüchtlinge weltweit, eine Größenordnung, die es seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr gegeben hat, so der Experte. 19,5 Mio., die sich in den verschiedenen Flüchtlingslagern befinden und 1,8 Mio. Asylsuchende, dazu 38,2 Mio. Flüchtlinge, die als Binnenflüchtlinge registriert sind. Die höchste Zahl der Binnenvertriebenen befinde sich in Syrien und Kolumbien, daneben weitere Staaten in Afrika. Was die Zielländer betrifft, so stellt Dr. Luft fest, dass „die ärmsten Länder weltweit die meisten Flüchtlinge aufnehmen. 86% der Flüchtlinge leben in Entwicklungsländern.“ Zu den Ländern mit einer hohen Flüchtlingsquote zählen u.a. die Türkei, Pakistan und der Libanon, vor allem aufgrund der Nähe zu den Krisenstaaten. Allein im Jahr 2014 seien weltweit 1,7 Mio. neue Asylbewerber hinzugekommen. Insgesamt sind es jedoch nur fünf Mitgliedstaaten der EU, die ¾ aller Flüchtlinge innerhalb der Europäischen Union aufgenommen haben im Jahr 2014. Dazu zählen Deutschland, Schweden, Italien, Frankreich und Ungarn. Mit diesen und vielen weiteren interessanten Zahlen und Statistiken veranschaulichte der Politikwissenschaftler in seinem Vortrag die Entwicklung globaler Migrationsbewegungen. Als Gründe für die Bewegungen nennt Dr. Luft unter anderem den institutionellen Zerfall von Staaten, die Auswirkungen von Bürgerkrieg, die prekäre Situation in vielen Flüchtlingslagern sowie wirtschaftliche Ursachen, vor allem in den Westbalkanstaaten.
Im Kontext einer sich in den vergangenen 10-15 Jahren entwickelnden Migrationspolitik der Europäischen Union, ging Dr. Stefan Luft in seiner Präsentation ebenso darauf ein, wie versucht wurde und wird auf die vielen Migrationsbewegungen zu reagieren und diese zu steuern. Denn mit dem Wegfall der Binnenkontrollen entwickelte sich stattdessen eine europäische Grenzpolitik im Schengen-Raum, „um dort ein äquivalent zu schaffen und die Zugänge in irgendeiner Weise zu kontrollieren“, erklärte Dr. Luft. Demnach wurden sowohl sichtbare, als auch unsichtbare Grenzen durch das europäische Grenzregime geschaffen. Zu den sichtbaren Grenzen zählen u.a. Grenzanlagen oder Ausreiseverhinderungen, dabei werden auch Nachbarstaaten in die Grenzpolitik der EU einbezogen. Doch anstatt mit dem Fall der Mauer zu lernen, wurden seit 1989 weltweit über 40 neue Mauern errichtet, um ungewünschte Migrationsbewegungen zu steuern, so der Migrationsexperte. Die „intelligenten“ Grenzen oder englisch auch „smart borders“ genannt, gehören zu den unsichtbaren Grenzen: mit modernster Technik ausgestattete Überwachungssysteme, beispielsweise mittels der Vernetzung von Satellitensystemen und der Koordination durch die europäische Grenzschutzagentur Frontex. Gleichzeitig stellt Dr. Luft fest, dass mit derartigen Systemen und der Verwaltung vieler Daten die Frage nach der Bewältigung der großen Zahl an Flüchtlingen jedoch nicht geklärt wird. Wichtiger seien jedoch die Rettung der Menschenleben, die gerechte und tatsächliche Verteilung der Vertriebenen auf die Mitgliedstaaten der EU, um die Herausforderung zu bewältigen und der faktische Vollzug des restriktiven Teils des Ausländerrechts.
Das Stichwort der Bewältigung aufgreifend, thematisierte Luft schließlich, was getan werden kann und sollte, um die Flüchtlinge mit Bleiberecht in die Gesellschaft zu integrieren. Eine wichtige Rolle spielen lokale Vereine, die freiwilligen Feuerwehren, Caritas und ähnliche Einrichtungen, „weil über diese Vereine auch häufig Arbeitsplätze vergeben werden“, so der Politikwissenschaftler. Die strukturelle Integration meint die Integration in das Bildungswesen und den Arbeitsmarkt, zu der kulturellen Integration gehöre die Sprache wie die Sekundärtugenden Pünktlichkeit, Sauberkeit und Ordnung beispielsweise. Als dritten Punkt einer erfolgreichen Integration erwähnte Dr. Luft die Übernahme der jeweiligen gesellschaftlichen Normen des Ziellandes.
Die Fragen des Publikums in Braunschweig und der Wedemark richteten sich gleichermaßen an den Wissenschaftler und an die politischen Vertreter. Neben der Frage nach einer allgemeinen Einschätzung, ob Deutschland das wirklich bewältigen könne, wurden ebenso Wünsche und Forderungen an die Politik geäußert, die Ursachen in den Herkunftsländern zu mindern, die Kommunen zu entlasten und eine erfolgreiche Integration zu gewährleisten.
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