Mit knapp 200 Millionen Einwohnern ist Nigeria nicht nur das bevölkerungsreichste Land Afrikas, sondern auch die größte Volkswirtschaft des Kontinents. In dem von Krisen geschüttelten westafrikanischen Riesen wird nun nicht wie zunächst geplant am 16. Februar 2019, sondern am 23. Februar gewählt. Auch die für den 2. März 2019 angesetzten Gouverneurs- und Landesparlamentswahlen wurden verschoben. Sie finden nun im föderal organisierten Land am 9. März 2019 statt.
Am Freitagabend, also nur wenige Stunden vor Beginn der Wahlen, musste die Unabhängige Wahlkommission des Landes (INEC) einräumen, dass sie einen reibungslosen Verlauf und damit freie, faire und glaubwürdige Wahlen nicht garantieren könne. Dabei hatten in den letzten Monaten und Wochen sowohl die Regierung als auch die Wahlkommission wiederholt betont, dass die Wahlvorbereitungen optimal voranschreiten würden und dass es zu keinen Komplikationen kommen würde. Nun sind die 84 Millionen Wahlberechtigten und damit so viele wie noch nie zuvor am nächsten Samstag erneut aufgerufen, den Präsidenten und die Zusammensetzung der Nationalversammlung zu bestimmen. Experten und Politiker befürchten nun, dass die Wahlverschiebung eine negative Auswirkung auf die Wahlbeteiligung haben wird. Viele Menschen mussten schließlich zu weitentfernten Orten reisen, an denen sie sich für den Wahlgang registriert hatten. Ob viele von ihnen die Reise noch einmal auf sich nehmen werden bzw. diese bezahlen können, ist fragwürdig.
Wer steht zur Wahl?
In beiden Wahlgängen treten insgesamt 73 Präsidentschaftskandidaten, 91 Parteien und mehr als 22.000 Politiker an. Zu besetzen sind neben dem Präsidenten 360 Sitze im Repräsentantenhaus, 109 Sitze im Senat, 29 Gouverneursposten und 991 Sitze in den 36 Landesparlamenten. Um die Wahl zu gewinnen, wird ein Präsidentschaftskandidat auch in diesem Jahr eine einfache Mehrheit und über 25% der Stimmen in mindestens zweidrittel der 36 Bundestaaten benötigen. Gouverneure werden nach dem gleichen Prinzip auf Länderebene bestimmt. Um Abgeordneter zu werden, reicht es bereits, die meisten Stimmen in einem Wahlkreis zu erhalten. Gewählt wird in mehr als 120.000 Wahllokalen.
Die besten Aussichten auf Erfolg haben die Kandidaten der zwei größten Parteien Nigerias – dem All Progressive Congress (APC) und der Peoples Democratic Party (PDP). Die APC wurde 2013 als Parteienbündnis gegründet und konnte im Jahre 2015 sowohl die Präsidentschaftswahl gewinnen als auch die Mehrheit im Repräsentantenhaus und im Senat erringen. Die PDP regierte das Land seit seiner Re-Demokratisierung im Jahre 1999 bis zu den Wahlen im Jahre 2015 ununterbrochen.
Für die APC tritt mit Muhammadu Buhari der amtierende Präsident erneut zur Wahl an. Der inzwischen 76jährige ehemalige General, ein Muslim aus dem Norden, der nach einem Militärputsch die Regierungsgeschäfte bereits von 1983 bis 1985 führte, konnte sich in den Wahlen von 2015 gegen seinen Vorgänger Goodluck Jonathan von der PDP durchsetzen. Diese Wahl wird in Nigeria als historisch bezeichnet, weil zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit des Landes im Jahre 1960 ein Oppositionspolitiker auf demokratische Weise einen Machtwechsel herbeiführen konnte. 2019 wird Buhari von Atiku Abubakar herausgefordert. Der schwerreiche 72jährige Muslim, der ebenfalls aus dem Norden stammt, tritt für die PDP an. Von 1999 bis 2007 regierte er das Land als Vizepräsident an der Seite von Präsident Olusegun Obasanjo.
Wähler sind enttäuscht von Buhari
Der Wahlerfolg Buharis in 2015 war für viele Nigerianer verheißungsvoll, denn Jonathan konnte als Präsident nicht überzeugen. Zum Ende seiner Legislaturperiode kontrollierte die Terrororganisation Boko Haram große Gebiete im Nordosten des Landes, die Wirtschaft befand sich bereits in der Rezession und die in Nigeria endemische Korruption hatte unter Jonathan ungekannte Ausmaße erreicht. Die Versprechen Buharis, Boko Haram innerhalb von wenigen Monaten zu besiegen, die Wirtschaft aus der Krise zu führen und konsequent gegen Korruption vorzugehen sowie der Überdruss der Bevölkerung nach 16 Jahren PDP an der Macht waren entscheidend für den damaligen Wahlerfolg. Die anfängliche Euphorie nach der Wahl ist jedoch inzwischen einer weitverbreiteten Ernüchterung gewichen. Viele Nigerianer sind von Buhari enttäuscht. Daran schuld ist nicht nur eine wegen Krankheit mehrmonatige Auszeit des Präsidenten in 2017, sondern vor allem die fehlende Tatkraft der Regierung. Das Land steckt noch immer in der Wirtschaftskrise, die Korruption reicht weiterhin bis in die höchsten politischen Ämter und die Sicherheitslage hat sich zuletzt drastisch im gesamten Land verschlechtert.
Prekäre Sicherheitslage in Nigeria
Die vielen Sicherheitsprobleme des Landes setzen Buharis Image besonders zu. Im Nordosten des Landes wüten noch immer die von der Regierung bereits als besiegt erklärten Islamisten von Boko Haram. Mindestens 1.200 Menschen starben im letzten Jahr bei gewaltsamen Auseinandersetzungen, Anschlägen und Überfällen der Terroristen. Zum Jahreswechsel konnte die vom Islamischen Staat unterstützte Splitterfraktion Islamic State West Afrika Province (ISWAP) zudem zahlreiche Stützpunkte der nigerianischen Armee einnehmen und so die Kontrolle über weite Gebiete entlang der Grenze zu Niger und des Tschadsees erlangen. Vergleichbare Erfolge verzeichneten die Terroristen zuletzt im Jahre 2014.
Die Sicherheitslage ist jedoch nicht nur im Nordosten des Landes problematisch. Der in Zentralnigeria (Middle Belt) zunächst um Landnutzung geführte Ressourcenkonflikt zwischen der ethnisch gemischten, aber überwiegend christlichen Bauernbevölkerung und den mehrheitlich muslimischen Fulani-Hirten ist von der Regierung zu lange unterschätzt worden und eskaliert nun entlang ethnoreligiöser Grenzen. Die Auseinandersetzung soll 2018 mehr als 1.600 Todesopfer gefordert haben. In den letzten drei Jahren sollen es insgesamt mehr als 3.700 gewesen sein.
Die Auseinandersetzung zwischen Bauern und Hirten hat außerdem gemeinsam mit dem islamistischen Terror im Nordosten eine humanitäre Krise ausgelöst. Allein in 2018 sind beide Konflikte zusammen für ein Neuaufkommen von knapp 500.000 Binnenflüchtlingen verantwortlich. Die UN schätzt die Gesamtzahl an Menschen, die sich aufgrund der Konflikte auf der Flucht befinden bzw. in Auffanglagern im Norden des Landes leben, auf etwa 1,9 Millionen. Besonders prekär ist die Situation vieler Flüchtlinge in den von Boko Haram und ISWAP terrorisierten Gebieten. Dort bemühen sich internationale Hilfsorganisationen, darunter UNHCR, die Caritas und die Malteser, das Leid der Menschen in den oft überfüllten Lagern so gut wie möglich zu lindern.
2018 haben außerdem ethnoreligiöse Auseinandersetzungen wie erst kürzlich die Gewalteskalation in Kaduna oder die Zusammenstöße mit dem schiitischen Islamic Movement in Nigeria zahlreiche Todesopfer gefordert. Organisiertes Banditentum, Entführungen mit Lösegeldforderung und Mord haben darüber hinaus in allen Landesteilen zugenommen. 2018 waren vor allem die Einwohner in den nördlichen Bundesstaaten Zamfara, Katsina und Sokoto von bewaffneten Überfällen betroffen. Allein in Zamfara kamen im letzten Jahr mehrere hundert Zivilisten ums Leben. Etwa 30.000 haben aus Angst vor erneuten Überfällen ihre Siedlungen verlassen.
Warten auf den Wirtschafts-aufschwung
Die Sicherheitslage ist nicht das einzige gravierende Problem des Landes. Buhari übernahm 2015 die Regierungsgeschäfte inmitten der schwersten Wirtschaftskrise des Landes seit 25 Jahren. Er versprach nicht nur, das Land schnell aus der Rezession zu führen, sondern auch die Wirtschaftstätigkeit zu diversifizieren, um mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Das Problem der nigerianischen Wirtschaft besteht darin, dass diese und damit die Einnahmen des Staates in hohem Maße von der Öl- und Gasproduktion im Süden des Landes abhängig sind. Öl- und Gasexporte betragen 90% des nigerianischen Gesamtexports und tragen mit bis zu 70% zum staatlichen Haushalt bei. Der Industriezweig ist jedoch nur für etwa 9% des nigerianischen BIP verantwortlich.
Mit dem Preisverfall von Öl und Gas auf dem Weltmarkt im Jahre 2014 stürzte das Land in eine tiefe Rezession. Die einst hohen Wachstumszahlen der nigerianischen Wirtschaft von bis zu 7% fielen nach unten und erreichten einen Tiefpunkt im Jahre 2016. Nach Angaben des IMF schrumpfte das BIP damals – begleitet von einem rasant schnellen Wertverlust der einheimischen Naira – um 1,62%. Inzwischen haben sich die Preise für Öl und Gas erholt und das Land hat die Talsohle der Rezession überschritten. 2017 erzielte Nigeria ein Wirtschaftswachstum von knapp 1%. 2018 dürften es 1,8% gewesen sein. Diese Wachstumsraten jedoch sind in einem Land mit 42%iger Arbeitslosigkeit bzw. Unterbeschäftigung unzureichend, um die weitverbreitete Armut signifikant zu senken. Etwa 87 Millionen Menschen fristen ein Dasein mit weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag. Damit ist Nigeria weltweit das Land mit den meisten Menschen, die in extremer Armut leben. Hinzu kommt eine Geburtenrate von durchschnittlich knapp sechs Kindern pro Frau. Die Bevölkerung des Landes wächst rasant und wird laut UN etwa 400 Mio. Menschen im Jahre 2050 betragen. Angesichts dieser demographischen Entwicklung bräuchte es schon zweistellige Wachstumszahlen, um den Wohlstand im Land spürbar zu heben.
Bei einem Durchschnittsalter von etwa 18 Jahren ist Nigerias Bevölkerung außerdem sehr jung. Viele junge Menschen sind von Arbeitslosigkeit und Armut betroffen und verlassen das Land in Richtung Europa. Die Migration aus Nigeria macht sich seit Jahren auch in Deutschland bemerkbar. In der Statistik des BAMF steht das Land mit etwas mehr als 10.000 Anträgen in 2018 auf Rang vier der Herkunftsländer der Asylbewerber, fast gleichauf mit dem drittplatzierten Iran. Außerdem leben in Deutschland etwa 9.000 Nigerianer, deren Asylgesuch abgelehnt wurde. Sie warten auf die Ausreise. Weitere 20.000 Nigerianer haben gegen eine Ausweisung geklagt, doch die meisten müssen mit einer Niederlage vor Gericht rechnen. Nur etwa 15% der Asylsuchenden aus Nigeria, zumeist Flüchtlinge aus dem von Boko Haram terrorisierten Nordosten des Landes, wird in Deutschland ein Schutzstatus zuerkannt.
Im August 2018 besuchte Bundeskanzlerin Angela Merkel Nigeria. In einem Treffen sicherte sie Buhari die Unterstützung Deutschlands bei der Entwicklung des Landes und damit bei der Beseitigung von Fluchtursachen zu. Ein weiteres Thema, das zwischen ihr und Buhari besprochen wurde, ist die eher schleppende Rückführung nigerianischer Staatsbürger, deren Asylgesuch in Deutschland abgelehnt wurde. Nigeria hat sich bisher nicht sonderlich kooperativ bei der Wiederaufnahme gezeigt.
Korruption und Infrastrukturbremsen Wirtschaftsentwicklung
Buhari wird nun vorgeworfen, dass er das Land in den letzten vier Jahren nicht konsequent genug aus der Öl- und Gasabhängigkeit zu führen versucht hat. Wichtige Reformschritte, um die Wirtschaft zu diversifizieren und die Märkte zu deregulieren, sind ausgeblieben oder der Korruption zum Opfer gefallen. Gerade die Korruption im Land wird als eines der größten Entwicklungshemmnisse bezeichnet. Zwar hat die Regierung Erfolge bei der Verfolgung von korrupten Amtsträgern und bei der Rückführung von veruntreuten Geldern erzielt, doch diese können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Nigeria unter einer der höchsten Korruptions- und Illicit-Financial-Flow-Quoten Afrikas leidet. Im jüngsten Korruptionswahrnehmungsindex von Transparancy International belegt Nigeria Rang 144 von 180 Ländern und rutschte damit seit Buharis Machtübernahme um acht Plätze ab.
Als problematisch für das Wirtschaftswachstum und eine erfolgreiche Diversifikation der Wirtschaftstätigkeit erweist sich zudem die Infrastruktur des Landes. Buhari wollte auch hier erhebliche Fortschritte erzielen, jedoch sind weite Teile des Straßensystems noch immer dringend sanierungsbedürftig. Der Ausbau des Eisenbahnschienennetzes kommt nur schleppend und nicht ohne chinesische Investitionsmittel voran. Außerdem sind etwa 40% der Bevölkerung weiterhin nicht an das Stromnetz angeschlossen. Die etwa 60%, die von einer Stromversorgung profitieren, müssen die täglichen, oft mehrstündigen Stromausfälle mit Dieselgeneratoren überbrücken.
Buharis Gegenkandidat ist ein alter Bekannter
Mit der Nominierung von Atiku Abubakar als Präsidentschaftskandidat der PDP hat Buhari einen ernstzunehmenden Gegenkandidaten erhalten. Atiku, ein ehemaliger Zollbeamter, der mit Geschäften im Logistik- und Ölsektor reich wurde, ist in der politischen Landschaft Nigerias kein unbeschriebenes Blatt. Bereits 1992 unternahm er einen Versuch, als Präsidentschaftskandidat der Social Democratic Party nominiert zu werden. Atiku konnte sich damals jedoch in den Primaries nicht gegen Moshood Abiola durchsetzen, dem späteren Gewinner der von General Ibrahim Babangida annullierten Wahl. Mit dem Tod von Militärdiktator Sani Abacha und dem Beginn der Re-Demokratisierung des Landes trat Atiku 1998 der PDP bei. Nur wenige Monate später gewann er an der Seite von Obasanjo die Präsidentschaftswahlen und regierte von 1999 bis 2007 das Land als Vizepräsident. 2007 wurde er allerdings wegen Korruptionsvorwürfen suspendiert. Seiner Suspendierung ging jedoch ein Zerwürfnis mit Obasanjo voraus. Atiku weigerte sich – auch um seine eigenen Präsidentschaftsambitionen durchzusetzen –, eine Änderung der Verfassung zu unterstützen, die Obasanjo eine dritte Amtszeit ermöglicht hätte. Atiku verließ die PDP, überstand die Korruptionsvorwürfe unbeschadet und trat erfolglos bei der Präsidentschaftswahl im Jahre 2007 als Spitzenkandidat der Oppositionspartei Action Congress an – heute ein wichtiger politischer Arm der APC.
In 2010 unternahm Atiku für die PDP und 2014 für die APC zwei weitere Anläufe, als Präsidentschaftskandidat einer großen Partei nominiert zu werden. 2010 scheiterte er jedoch in den Primaries an dem damaligen Präsidenten Goodluck Jonathan. 2014 musste er Buhari den Vorzug geben und unterstützte zunächst seinen Wahlkampf und später seine Präsidentschaft. Ende 2017 verließ Atiku die APC, um sich wieder der PDP anzuschließen. Im Oktober 2018 wurde er bei den Primaries der Partei als Spitzenkandidat für die anstehende Präsidentschaftswahl bestätigt.
Parteiübertritte als Folge von Opportunismus
Atikus jüngster Parteiübertritt ist der prominenteste, aber nicht der einzige in den letzten eineinhalb Jahren gewesen. Weitere prominente Wechsel von der APC zur PDP waren unter anderem der von Senatspräsident Bukola Saraki und der von Yakubo Dogara, dem Sprecher des Repräsentantenhauses. Der Parteiübertritt von gleich mehreren APC-Senatoren im letzten Juli verschob sogar das Mehrheitsverhältnis im Senat zugunsten der PDP. Noch im letzten Sommer sahen viele Experten in diesen Parteiübertritten Vorboten für eine Niederlage Buharis bei den anstehenden Wahlen. Schließlich läuteten vergleichbare Übertritte von der PDP zur APC die Niederlage Jonathans im Jahre 2015 ein. In den letzten Monaten hat es die APC jedoch geschafft, sich zu konsolidieren. Nun ist sie selbst erfolgreich, Mitglieder und Mandatsträgern der PDP abzuwerben.
Die vielen Parteiübertritte im Vorfeld der anstehenden Wahlen sind vor dem Hintergrund zu bewerten, dass die beiden großen Parteien Nigerias ideologisch kaum voneinander abzugrenzen sind. Die Wechsel sind daher weniger die Folge parteipolitischer Unterschiede, sondern überwiegend mit persönlichen Differenzen innerhalb der Parteien und vor allem mit der Hoffnung auf politische Ämter in der nächsten Legislaturperiode zu erklären. Politik in Nigeria ist schließlich ein Businessmodel. Viele Nigerianer sagen, ein politisches Mandat sei der schnellste Weg zum Reichtum. Die Gehälter von Abgeordneten der Nationalversammlung gehören, zählt man die großzügigen Zuschüsse mit, zu den höchsten der Welt. Minister-, Gouverneurs- und Direktorenposten eröffnen darüber hinaus die Möglichkeit, sich ungehindert zu bereichern. Klaus Pähler. ehemaliger Leiter des KAS-Büros in Abuja, schrieb in diesem Zusammenhang in einem Länderbericht im Jahre 2010, Politik sei Nigerias „extraktive Industrie“ Nummer eins, wohl noch vor der Ölindustrie des Landes. An dieser Einschätzung hat sich seitdem nicht viel geändert.
Mit dem monetären Anreizsystem der nigerianischen Politik geht ein Strukturproblem der Parlamente einher. Die Mandatsträgerschaft in der Nationalversammlung, aber auch in den Landesparlamenten ist von Nepotismus geprägt. Sie verbleibt entweder bei einem kleinen Kreis von politischen Eliten oder – was viel öfter vorkommt – sie rotiert zwischen ethnischen Gruppen, religiöser Zugehörigkeit und verdienten Parteimitgliedern, die noch nicht zum Zuge gekommen sind. Im Ergebnis werden etwa 60% bis 70% der Abgeordneten von ihrer Partei nicht für eine zweite Legislaturperiode nominiert. Das hat wiederum nach jeder Wahl einen erheblichen Erfahrungsverlust in den Parlamenten zur Folge. Die neu gewählten Abgeordneten müssen sich zunächst mit der Arbeitsweise eines Parlaments vertraut machen, weshalb die Nationalversammlung und die Landesparlamente lange brauchen, um arbeitsfähig zu werden. Ihre Stellung in der Gewaltenteilung vor allem im Verhältnis zur Exekutive ist deshalb vergleichsweise schwach.
Was versprechen die Spitzenkandidaten?
Auf den ersten Blick spiegelt sich die Ideologielosigkeit beider Parteien in den Wahlversprechen der zwei Spitzenkandidaten wider. Beide wollen die Wirtschaft ankurbeln und dadurch Millionen von Arbeitsplätzen schaffen, beide versprechen, die Sicherheitslage des Landes zu verbessern und die Korruption zu bekämpfen, und beide wollen in die Infrastruktur des Landes investieren. Dennoch sind in den Wahlprogrammen, die in den letzten Monaten entstanden sind, Unterschiede in der Wirtschaftspolitik festzustellen, die wohl zum ersten Mal seit der Re-Demokratisierung des Landes im Jahre 1999 einen Anflug von ideologischer Abgrenzung in einem Wahlkampf erahnen lassen.
Buhari möchte auch in Zukunft an das von der Verfassung des Landes vorgesehene Mischsystem der Wirtschaft, also an Staatsbetrieben, Staatsbeteiligungen und Direktsubventionen festhalten. Er will die Märkte nur langsam und schrittweise deregulieren. Im Gegenzug soll der öffentliche Sektor gestärkt und dadurch Arbeitsplätze geschaffen werden. Atiku dagegen setzt auf eine Verschlankung des Staates und somit auf Privatisierung und Deregulierung. Er möchte außerdem mit einer Senkung der Körperschaftssteuer Anreize für Investoren schaffen.
Die Wahlprogramme der zwei Spitzenkandidaten sind außerdem sehr ambitioniert. Es wird auf beiden Seiten nicht mit Versprechen gespart, die nur mit großen Mengen an Staatsgeldern zu finanzieren sein werden. Buhari möchte zum Beispiel im Agrarsektor mindestens 7,5 Mio. Arbeitsplätze mit Hilfe von Förderprogrammen schaffen. Über 10 Mio. Menschen sollen sich darüber hinaus in staatlich finanzierten Bildungsprogrammen für den Arbeitsmarkt qualifizieren. Der Technologie- und Kreativsektor soll zudem Fördergelder in Höhe von 500 Mio. US-Dollar erhalten. Dadurch sollen 500.000 Jobs kreiert und 200.000 junge Menschen ausgebildet werden. Weitere Arbeitsplätze sollen durch die Entstehung und Förderung von Industrieparks geschaffen werden, die sich über das ganze Land verteilen sollen.
Atiku verspricht hingegen, der Wirtschaft neue Impulse durch die Privatisierung von Staatsbetrieben und die Deregulierung der Märkte zu geben. Das BIP soll sich dadurch bis 2025 auf 900 Mrd. US-Dollar verdoppeln. Sektorenübergreifend würden drei Mio. zusätzlich Arbeitsplätze pro Jahr entstehen. Sein Plan sieht außerdem vor, dass jährlich 90 Mio. US-Dollar in die Infrastruktur des Landes investiert werden, damit Straßen wieder hergestellt und das Eisenbahnnetz zügig ausgebaut werden können. Er will außerdem 80 Mio. Menschen an die Stromversorgung anschließen und 50 Mio. Menschen aus der extremen Armut holen. Um all das zu erreichen, schätzen Experten jedoch, dass die Wirtschaftsleistung des Landes um jährlich mindestens 12% wachsen müsste. Zweifel, dass Nigeria dazu kurzfristig im Stande sein wird, sind mehr als berechtigt. Experten bemängeln zudem, dass beide Kandidaten keine Auskunft darüber geben, woher die staatlichen Investitionsmittel für die Entwicklung des Landes kommen sollen.
Ein Dilemma für den Wähler
Viele befürchten nun, dass sich bei einem Wahlsieg Buharis ein „weiter so“ einstellen und damit die Entwicklung im Land stagnieren wird. Hinzu kommt, dass Buhari zuletzt bei öffentlichen Auftritten nicht sehr souverän wirkte, ja zeitweise fahrig und nicht gut informiert. Dies hat wiederum neue Gerüchte entfacht, dass sein Gesundheitszustand nicht sonderlich gut sei. Atiku trauen wiederum viele eher zu, die Wirtschaft des Landes aus der Krise zu führen. Gegen einen Wahlsieg Atikus spricht jedoch, dass er in der Bevölkerung nicht besonders beliebt ist. Viele Menschen haben die Korruptionsvorwürfe gegen ihn nicht vergessen. Er soll sich bei der Privatisierung von Staatsbetrieben bereichert haben, die er als Vizepräsident zu verantworten hatte. Nun kandiert Atiku mit dem Versprechen, den Staat zu verschlanken, und viele Bürger befürchten, dass von einer erneuten Privatisierungswelle unter ihm nur wenige profitieren werden und dass außerdem damit die Korruption im Land wieder ausufern könnte.
Der Wähler in Nigeria steht somit vor einem Wahldilemma. Eigentlich bräuchte das Land dringend ein neues, ein frisches Gesicht. Jemand, der unverbraucht ist und Aufbruchsstimmung entfachen kann. In Nigeria steht jedoch ein solcher Kandidat nicht zur Wahl. Es gibt deshalb nicht wenige, die sich politikverdrossen zeigen, sich daher wahrscheinlich auch der Wahl verweigern werden. Nicht wenige sagen auch unter vorgehaltener Hand, die Demokratisierung des Landes sei gescheitert. Nach 20 Jahren sei es wieder Zeit für eine Militärdiktatur, die das Land befrieden und dem korrupten Establishment ein Ende bereiten soll. Diese Stimmen scheinen allerdings die Erfahrungen zu vergessen, die Nigeria unter dem Gewaltregime von Abacha machen musste. Zwischen 1993 und 1998 regierte Abacha das Land mit harter Hand. Seine Instrumente waren ein gnadenloser Polizeistaat, Zensur, Gefängnis und Folter.
Sind freie, faire und friedliche Wahlen zu erwarten?
Unter den beschriebenen Umständen ist es schwer, einen Favoriten zu benennen. Zudem spielen die für Nigeria typischen Konfliktlinien wie Religiosität und Ethnizität diesmal keine entscheidende Rolle. Buhari und Atiku sind beide Fulani und Muslime aus dem Norden. Beide haben außerdem einen christlichen Kandidaten aus dem Süden für die Vizepräsidentschaft nominiert. An der Seite Buharis tritt der amtierende Vizepräsident Yemi Osinbajo an, ein Yurubamann aus dem Südwesten. Atiku hat sich für den ehemaligen Gouverneur von Anambra State, Peter Obi, entschieden, ein Igbo aus dem Südosten. Der Norden scheint daher genauso wie der Süden, gespalten zu sein. Experten sagen deshalb einen knappen Wahlsieg für Buhari oder Atiku voraus. Der Ton im Wahlkampf wurde in der Folge immer schärfer. In den letzten Wochen ging es längst nicht mehr um Sachpolitik, um die besseren Entwicklungskonzepte für das Land oder darum, wer kompetenter wäre, die Regierungsgeschäfte zu führen. Die Schlagzeilen wurden stattdessen nur noch von Aussagen beider Seiten bestimmt, die die Integrität der Spitzenkandidaten und der führenden Parteifunktionäre untergraben sollten. Das Säbelrasseln wurde außerdem mehr und mehr von Berichten begleitet, die über Versuche informierten, die Wahlen zu manipulieren. Es heißt, die Unabhängige Nationale Wahlkommission, der es obliegt, freie und faire Wahlen zu organisieren, habe bereits mehrere Fälle von Wahlbetrug aufgedeckt. Dabei soll es um Stimmenkauf oder das Aufkaufen von Wählerregistrierungskarten gehen, wodurch in bestimmten Hochburgen entweder die Stimmabgabe für den einen oder den anderen Kandidaten verhindert werden soll oder die Karten zur Wahlfälschung durch Stimmabgabe zum Einsatz kommen könnten.
INEC selbst sah sich Vorwürfen von Seiten der PDP ausgesetzt, dass die Wahlen nicht gut vorbereitet seien, dass INEC außerdem nicht neutral sei, sondern Buhari zum Wahlsieg verhelfen werde. Die PDP warf der APC außerdem vor, ihre Regierungsvertreter würden Staatsgelder in Form von Direkthilfen und Mikrokredite an die Bevölkerung verteilen und sie damit für Buhari einnehmen. Dieser Vorwurf ist in der Tat nicht unbegründet. Aus gut informierten Kreisen heißt es, die „Geschenke“ der Regierung hätten zuletzt landesweit stark zugenommen und kämen vor allem Bürgern zugute, die eine Wählerregistrierungskarte vorzeigen können. Ende Januar hat Buhari außerdem Walter Onnoghen, den Chief Justice des nigerianischen Supreme Court, suspendiert. Onnoghen wird vorgeworfen, dass er Vermögen auf Auslandskonten nicht ordnungsgemäß deklariert haben soll. Problematisch ist jedoch, dass die Suspendierung des obersten Richters laut nigerianischer Verfassung die Zustimmung des Senats benötigt, die jedoch nicht eingeholt wurde. Die nigerianische Anwaltskammer und die Opposition beschuldigten Buhari daher, verfassungswidrig gehandelt zu haben. Zudem bezeichneten die Botschaft der USA, die Botschaft Großbritanniens und Vertreter der EU die Suspendierung des Chief Justice so kurz vor den Wahlen als äußerst bedenklich und forderten eine verfassungsrechtlich konforme Lösung. Der Chief Justice wäre ein wichtiger Protagonist, sollte eine Seite die Ergebnisse der Wahlen nicht anerkennen und diese vor Gericht anfechten. Dann würde der nigerianische Supreme Court als letzte Instanz entscheiden, ob die Wahlen rechtmäßig gewesen seien. Nun heißt es, Onnoghen sei auch deshalb suspendiert worden, weil die APC befürchte, der Richter könnte die Entscheidung im Sinne der PDP maßgeblich beeinflussen. Regierungsvertreter behaupten jedoch, die Suspendierung sei nicht nur rechtskonform, sondern stehe auch in keiner Verbindung zu den Wahlen. Es gehe allein um Korruptionsvorwürfe.
Aber auch die PDP musste sich mit einem schwerwiegenden Vorwurf auseinandersetzen. Alhaji Lai Mohammed, Minister für Information und Kultur, sagte erst vor Kurzem bei einer Pressekonferenz, der Regierung lägen glaubwürdige Informationen vor, dass die Opposition Aufstände entlang ethnoreligiöser Grenzen finanziell unterstützen würde und dafür Söldner aus Niger angeheuert habe. Damit solle das Land im Vorfeld der Wahlen weiter destabilisiert und die Kompetenz der Regierung diskreditiert werden. Beweise für die Anschuldigungen hat die Regierung jedoch nicht vorgelegt.
Zumindest dass die Wahlkommission die Wahlen nicht gut vorbereitet hat, hat sich in der Nacht von Freitag auf Samstag bewahrheitet. Die APC und die PDP beschuldigen sich nun gegenseitig, für die Verschiebung mitverantwortlich zu sein und dass dies ein gegenseitiger Versuch sei, die Wahlen zu manipulieren. Buhari und Atiku, die beiden Spitzenkandidaten, riefen außerdem die Bevölkerung auf, sich ruhig zu verhalten und am nächsten Samstag ihre Stimme abzugeben. Vor allem, dass es friedlich bleiben soll, ist ein wichtiger Aufruf. Denn nur wenige Stunden vor der Bekanntgabe der Verschiebung enthüllte die Landesregierung von Kaduna, dass Sicherheitskräfte am Freitag 66 Tote in Dörfern des Bundestaates gefunden hätten, darunter viele Kinder und Frauen. Inzwischen ist klargestellt worden, dass die Menschen bei Überfällen schon vor Tagen getöteten worden seien. Am Abend vor der Wahl mutmaßte man jedoch, sie seien Opfer politisch motivierte Gewalt, die in direktem Zusammenhang mit den Wahlen stehen würde.
Wie frei, wie fair und wie friedlich die Wahlen im Februar und März verlaufen werden, ist eine Frage, die sich nicht nur die Menschen im Land stellen, sondern auch die internationale Gemeinschaft. In Nigeria haben Manipulationsversuche und politisch motivierte Gewalt die meisten Wahlen der letzten 20 Jahre überschattet oder entscheidend geprägt. Warum sollte es 2019 anders kommen? Experten warnen daher vor politisch motivierter Gewalt, die eher nicht in Abuja oder Lagos, aber in vielen anderen Regionen eskalieren könnte. In den letzten ein bis zwei Wochen war in den Zeitungen des Landes bereits von ersten Zusammenstößen von APC- und PDP-Anhängern zu lesen, die Menschenleben gefordert haben. Die EU hat außerdem ein Team von Wahlbeobachtern entsendet. Auch die ECOWAS wird sich mit eigenen Vertretern an der Wahlbeobachtung beteiligen. Die USA und Großbritannien drohen sogar mit Sanktionen gegen jene, die sich des Wahlbetrugs schuldig machen. Doch wer Nigeria und den „winner-takes-it-all“-Charakter nigerianischer Wahlen kennt, der weiß, dass beide Seiten, die APC und die PDP, und viele ihrer Kandidaten jede Chance ergreifen werden, um die anstehenden Wahlen zu gewinnen.
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