Wütende Menschenmenge empfängt Präsident Buhari in Maiduguri
Der Bundestaat Borno im Nordosten Nigerias ist seit über zehn Jahren Schauplatz eines der blutigsten Konflikte der Welt. Die Auseinandersetzung mit der islamistischen Boko Haram und der Splitterfraktion Islamic State West Africa Province (ISWAP) dürfte bereits über 30.000 Tote gefordert haben und hat über zwei Millionen Menschen vertrieben. Die humanitäre Krise um den nahegelegenen Tschadsee herum ist deshalb immens. 2015 und 2019 feierte Präsident Muhammadu Buhari große Wahlerfolge im Bundestaat Borno. Er hatte versprochen, die Islamisten schnell zu besiegen. Doch als der Präsident letzte Woche die Hauptstadt Maiduguri besuchte, wurde sein Konvoi von einer aufgebrachten Menschenmenge entlang der Straßen vom Flughafen zum Stadtzentrum ausgebuht. Nur wenige Tage zuvor töteten islamistische Terroristen unweit der Stadtgrenze mehr als 30 Menschen im Schlaf und entführten viele Überlebende des Massakers.
Buhari, der ehemalige General im Dienst der nigerianischen Armee, der das Land als Juntachef bereits in den 1980er Jahren regierte, ist wegen seiner Sicherheitspolitik schwer in die Kritik geraten. Denn die anfänglichen Erfolge seiner ersten Regierung im Kampf gegen den Terrorismus brachten keine nachhaltigen Ergebnisse. Die Islamisten sind in den letzten Jahren deutlich stärker geworden. 2019 konnten sie sogar eine Reihe von Stützpunkten der nigerianischen Streitkräfte und der Multinational Joint Task Force überrennen und militärische Ausrüstung erbeuten. Im letzten Sommer blieb dem Militär nur der Rückzug in sogenannte Supercamps. Weite Teile des ländlichen Raums sind nun ungeschützt. Die Terroristen können sich ungehindert bewegen, morden und plündern. Sie operieren außerdem längst nicht mehr nur im Nordosten des Landes, sondern auch grenzüberschreitend. In Niger und Tschad binden sie wichtige Ressourcen entlang der Grenze zu Nigeria, die im Kampf gegen den Terrorismus in der nördlichen Sahelregion fehlen.
Islamisten nicht die einzige sicherheitspolitische Herausforderung
Boko Haram und ISWAP sind bei Weitem nicht die einzigen sicherheitspolitischen Herausforderungen Nigerias. Im Nordwesten des Landes marodieren gut bewaffnete Banden. Sie morden und plündern auch und haben bereits mehrere Tausend Menschen aus ihren Häusern vertrieben. Am letzten Samstag überfielen sie zwei Dörfer im Bundestaat Katsina und richteten ein Massaker mit 30 Toten an. Außerdem hat der seit Jahren in Zentralnigeria um Landnutzung geführte Konflikt zwischen überwiegend christlichen Bauern und muslimischen Fulanihirten bereits tausende Todesopfer gefordert. Der Konflikt trägt inzwischen auch ethnoreligiöse Züge und erfasst immer mehr den Süden des Landes. In der südlichen Küstenregion und vor allem im ölreichen Nigerdelta leben wiederum schwerbewaffnete Milizen, von denen eine Gefahr der Destabilisierung ausgeht. Der Golf von Guinea zählt darüber hinaus zu den Seeregionen, die weltweit am schwersten von Piraterie betroffen sind. Die meisten Zwischenfälle ereignen sich vor der Küste Nigerias. Die Täter sollen auf dem Festland leben. Gewaltkriminalität hat zudem in vielen Landesteilen zugenommen. Viele Landstraßen sind nicht mehr sicher befahrbar, weil das Risiko von Entführung und Raub deutlich gestiegen ist.
Eine weitere Bedrohung für den Frieden in Nigeria geht von dem Konflikt der Regierung mit der Bewegung Islamic Movement of Nigeria aus. Die Interessenvertretung der schiitischen Minderheit in Nigeria, etwa drei Millionen Menschen, organisiert in regelmäßigen Abständen Protestzüge in der Hauptstadt Abuja, bei denen es zu gewaltsamen Ausschreitungen und Toten kommt. Die Schiiten fordern die Freilassung ihres religiösen Führers, Ibrahim Zakzaky. Dieser sitzt seit 2015 im Gefängnis, obwohl ein rechtsgültiges Gerichtsurteil nicht vorliegt. Bei seiner Verhaftung nahe der Stadt Kaduna sollen außerdem über 300 Anhänger vom Militär erschossen worden sein. Die nigerianische Regierung hat im Sommer 2019 den Islamic Movement of Nigeria verboten. Experten warnen, dass sich die Schiiten schon bald und womöglich mit iranischer Hilfe radikalisieren könnten.
Sicherheitskräfte sind unterfinanziert und unterbesetzt
Ende Januar kritisierten die Abgeordneten beider Kammern der Nationalversammlung die Politik der Regierung und forderten über Parteigrenzen hinweg Buhari auf, die Generalinspekteure der Streitkräfte und der Polizei zu entlassen bzw. neu zu besetzen. Seitdem vergeht kaum ein Tag, an dem sich Prominente und zivilgesellschaftliche Akteure mit der gleichen Forderung öffentlich zu Wort melden. Nicht nur die Bevölkerung wird unruhig, sondern auch die Eliten des Landes sind inzwischen über den Zustand der Sicherheit besorgt. Doch Buhari zögert. Schließlich sind die Generalinspektoren enge Vertraute des Präsidenten, die er selbst ernannte und die ihm gegenüber stets loyal waren. Buhari bevorzugt altbekannte Durchhalteparolen. Man werde die Islamisten ausradieren. Oder er macht, wie bei seinem Besuch in Maiduguri, die Bevölkerung für die steigende Unsicherheit im Land verantwortlich. Er wirft den Menschen vor, sie würden Terroristen und Verbrechner unterstützen, anstatt mit den Sicherheitskräften zusammenzuarbeiten. Der Unmut der Menschen in Nigeria wächst deshalb. Es heißt, Buhari habe sich von den Menschen entfernt.
Eine Veränderung an der Spitze der Sicherheitsorgane allein wird das Sicherheitsproblem des Landes nicht lösen. Die Gründe für die wachsende Unsicherheit sitzen deutlich tiefer. Nigeria ist mit etwa 200 Mio. Einwohnern das bevölkerungsreichste Land Afrikas. Die chronisch unterfinanzierten und unterbesetzen Streitkräfte verfügen über etwa 120.000 Aktive im Militärdienst. Eine Reserve existiert nicht. Die Streitkräfte werden zudem fast im ganzen Land eingesetzt, um andere Organe bei der Bewältigung der Sicherheitsprobleme zu unterstützen. Auch die Polizei, deren Etat nicht ausreicht, verfügt nur über knapp 372.000 Beamte. Das entspricht einem Polizisten-Einwohner-Verhältnis von 1:543. Ein Wert, der weit unter der UN-Empfehlung von 1:450 liegt. Unberücksichtigt ist zudem bei dem nigerianischen Verhältnis, dass viele Polizisten nicht einen regulären Dienst ausüben, sondern gegen Bezahlung Personen- und Gebäudeschutz für Eliten und Unternehmen des Landes bereitstellen.
Fragmentierung, Korruption und Menschenrechtsverletzungen behindern den Kampf gegen Terrorismus und Gewaltkriminalität
Ein großes Problem, das einen effektiven Kampf gegen Terrorismus und Kriminalität verhindert, ist außerdem die starke Fragmentierung des Sicherheitsapparats. Neben Streitkräften und Polizei existieren Einheiten gegen Drogenhandel, gegen Menschenhandel, zwei sogar gegen Korruption. Der Zoll und die Einwanderungsbehörde sind auch selbstständige Einrichtungen. Dazu gibt es noch eine Reihe von kleineren Sicherheitsorganen und eine paramilitärische Einheit mit etwa 40.000 Beamten, die mit den italienischen Carabinieri oder der spanischen Guardia Civil vergleichbar ist.
Über fast zwei Dekaden hinweg sind neue Sicherheitsorgane in Nigeria entstanden, allerdings haben diese oft überlappende Mandate. Die Mandate der Polizei, der Antidrogenbehörde, der Paramilitärs, der Antikorruptionsbehörden oder dem Geheimdienst sind zum Beispiel in vielen Bereichen nicht klar abgegrenzt. Daher herrscht eine große Rivalität zwischen den Sicherheitsorganen, auch mit Blick auf die knappen Mittel des Staates. Nicht selten kommt es deshalb zu gegenseitigen Behinderungen bei Ermittlungen. Informationen werden vorenthalten. Schusswechsel zwischen Mitgliedern unterschiedlicher Sicherheitsorgane ereignen sich auch, wenn sie an einem Tatort parallel erscheinen oder zeitgleich den Versuch einer Verhaftung unternehmen. Ein gemeinsames, koordiniertes Vorgehen gegen Terrorismus und Kriminalität ist unter diesen Bedingungen schwierig.
In der Bevölkerung sind die Streitkräfte des Landes und die Polizei äußerst unbeliebt. Ein Grund dafür ist, dass sie von der endemischen Korruption durchdrungen sind, die für Nigeria typisch ist. Staatliche Gelder, die für den Kampf gegen Terrorismus und ausufernde Kriminalität vorgesehen sind, werden im großen Stile veruntreut. Daran hat sich auch unter Buhari nichts geändert, obwohl der konsequente Kampf gegen die Korruption im Land sein zweites zentrales Wahlversprechen war. Außerdem sind viele Sicherheitsorgane und speziell die Polizei dafür bekannt, Menschenrechte regelmäßig zu verletzten. Willkürliche Verhaftungen zum Beispiel, bei denen die Opfer misshandelt und erpresst bzw. nur gegen Bezahlung freigelassen werden, sind nichts Ungewöhnliches in Nigeria.
Dezentralisierung hätte Risiken zur Folge
Im föderal organsierten Nigeria wird seit Jahren diskutiert, ob die Polizeigewalt dezentralisiert werden sollte. Die Mehrheit der Gouverneure spricht sich für eine Landespolizei aus, mit der Begründung, dass sie dann effektiver auf Länderebene die Sicherheitsprobleme angehen könnten. Die Regierung jedoch zeigt keinen Willen, die Polizeistruktur zu verändern, möchte man doch dieses Gewaltmonopol nicht aus der Hand geben. Ein Grund dafür ist unter anderem auch die Befürchtung, dass die Gouverneure die Polizei missbrauchen könnten, um ihre Machtposition in den Bundestaaten zu festigen.
Ohnehin wäre die Dezentralisierung der Polizei ein schwieriges Unterfangen in Nigeria. Es müsste die Verfassung geändert werden, das Polizeigesetz auch, und auf Landesebene müssten in den 36 Bundestaaten neue Gesetze beschlossen und neue Strukturen eingeführt werden. Hinzu kommt, dass auch der Etat der Polizei an die Bundestaaten weitergereicht werden müsste. Für die Allokation wäre ein Mechanismus zu entwickeln, der dem Bedarf bzw. der Gefahrenlage in jedem einzelnen Bundestaates Rechnung trägt. Verteilungskämpfe zwischen Regierung und Bundestaaten und unter den Bundestaaten selbst würden vermutlich nicht ausbleiben. Eine schnelle Lösung der Sicherheitsprobleme des Landes ist deshalb von einer Dezentralisierung der Polizeigewalt nicht zu erwarten.
Private Bürgerwehren sind nicht die Lösung
Viele Gouverneure haben außerdem gehandelt. Sie haben landesfinanzierte Bürgerwehren aufgebaut, die vor Ort die Arbeit der Polizei unterstützen sollen. Sie tragen eigene Uniformen und sind sogar bewaffnet, auch wenn in den meisten Fällen nur mit einfachen Handwaffen. Einige tragen jedoch lokal produzierte Steinschlossgewehre (sog. Dane Guns), die eigentlich von Jägern benutzt werden. Die jüngste Initiative in diese Richtung ist der Zusammenschluss von drei Bundestaaten im Südwesten des Landes. Die Gouverneure von Ekiti, Ondo und Oyo haben Anfang des Jahres bekannt gegeben, dass sie gemeinsam die Operation Amotekun ins Leben rufen. Amotekun, ein Yorubawort, das Leopard bedeutet, soll die erste länderübergreifende Bürgerwehr in Nigeria werden. Die Maßnahme richtet sich vor allem gegen die Unsicherheit, die mit dem Vordringen von muslimischen Fulanihirten in den Süden des Landes einhergeht. Damit hätten insgesamt 26 von 36 Bundestaaten in Nigeria eigene Milizen. Diesen fehlt jedoch nicht nur die gesetzliche Legitimation und deren Mitglieder sind auch nicht gut ausgebildet. Es steht der Vorwurf im Raum, dass sich die Gouverneure mit diesen Milizen kleine Armeen halten, die auch gegen Gesetze verstoßen und unter Missachtung von Menschenrechten ihren Willen durchsetzen.
Rasantes Bevölkerungswachstum verschärft die Sicherheitslage
Ein Problem, das in der gegenwärtigen Debatte um die Sicherheit des Landes keine Rolle spielt, ist perspektivisch viel gravierender. Nigerias Bevölkerung wächst seit Jahrzehnten rasant. Die Geburtenrate liegt bei 5,5 Kindern pro Frau und zur Zeit steigt die Zahl der Einwohner jährlich um fünf Millionen Menschen. Die UN hat prognostiziert, dass im Jahre 2050 über 400 Millionen Menschen in Nigeria leben werden. Damit wäre Nigeria nach Indien und China und vor den USA das bevölkerungsreichste Land der Welt. Weltweit ist Nigeria bereits jetzt das Land mit den meisten Menschen, die von extremer Armut betroffen sind. Laut der World Poverty Clock leben gegenwärtig 48% der Einwohner Nigerias unter der Armutsgrenze von 1,90 USD, also etwa 95 Millionen Menschen. Um diesen Menschen eine Lebensgrundlage zu bieten, benötigt die Wirtschaft des Landes ein stabiles zweistelliges Wachstum. Doch die Wirtschaft wächst jährlich nur um 2% und die Aussicht auf eine bald steigende Konjunktur ist nicht gut. Unter diesen Bedingungen wird sich die Sicherheitslage des Landes weiter verschlechtern. Denn Menschen, denen eine wirtschliche Perspektive fehlt, neigen dazu, sich zu radikalisieren oder in die Kriminalität abzurutschen.
Keine Zeit zum Zögern
Die nigerianische Politelite kann es sich vor diesem Hintergrund nicht leisten, weiter zu zögern. Der Sicherheitssektor bedarf dringend einer umfassenden Reform. Die Entflechtung der Mandate der Sicherheitsorgane und die Verschlankung des Sicherheitsapparats wären ein guter Anfang. Entscheidend wäre auch ein konsequentes Vorgehen der Regierung gegen korrupte Kräfte innerhalb der Streitkräfte und der Polizei. Mit Blick auf die Bevölkerungsgröße benötigt Nigeria außerdem mehr Soldaten und mehr Polizisten, ansonsten wird das Land seine wachsenden Sicherheitsprobleme nicht in den Griff bekommen. Aber auch die demographische Entwicklung muss endlich auf die politische Agenda der Regierung. Buhari ist zwar ein Muslim und der muslimische Norden hat sich stets widerwillig gezeigt, das Thema anzugehen. Wenn sich Nigeria jedoch wirtschaftlich entwickeln und die Sicherheit seiner Bevölkerung langfristig gewährleisten soll, dann muss dem rasanten Bevölkerungswachstum entgegengewirkt werden. Dazu müssten Maßnahmen der Familienplanung, die kurzfristig zu Ergebnissen führen, ernsthaft erwogen und umgesetzt werden. Das kann auch mit Hilfe der internationalen Entwicklungszusammenarbeit geschehen.
Mit 13,5 Millionen Kindern, die keine Schule besuchen, ist Nigeria laut UNICEF auch in dieser Statistik weltweiter Spitzenreiter. Der weitaus größere Teil ist weiblich und lebt im muslimischen Norden. Investitionen in Bildung und hier vor allem in die Ausbildung junger Frauen wäre eine erprobte Herangehensweise, die mittel- bis langfristig nicht nur das Bevölkerungswachstum abbremsen, sondern auch das Radikalisierungspotential erheblich senken könnte. Die Regierung sollte deshalb auf die Menschen im Nordosten hören. Die aufgebrachte Menge, die Buhari mit Buhrufen in Maiduguri empfing, hatte eine Botschaft für den Präsidenten parat. Auf einem mehrere Meter langen Transparent, das entlang der Brüstung einer Brücke gespannt war, ist zu lesen gewesen: Weapons Kill Terrorists, Education Kills Terrorism. Die Menschen wissen, dass Waffengewalt allein die Sicherheitsprobleme Nigerias nicht lösen wird.
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