Länderberichte
Der Medienberichterstattung und den Statements von Politikern war nach der Veröffentlichung des EU-Fortschritts-bericht 2012 eine positive Resonanz anzumerken. Diese ist besonders wichtig in einer Phase, in der die Frustration im Land über den schleppenden Fortgang des EU-Integrationsprozesse die positive EU-Stimmung zunichte zu machen droht. Nach der Vorstellung des Berichts und den Statements des EU-Erweiterungs-kommissars, Stefan Füle, und des EU-Botschafters in Mazedonien, Aivo Orav, keimt Hoffnung auf, dass endlich wieder Bewegung in Mazedoniens Integrationsprozess kommt. Dieser begann im April 2001 mit der Unterzeichnung des Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union und setzte sich seit 2005 mit der Erlangung des Kandidatenstatus fort. Bereits im Jahr 2009 war von der Europäischen Kommission erstmals eine Empfehlung zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen ausgesprochen worden, die seither jährlich wiederholt, aber von Griechenland wegen des sogenannten Namensstreits verhindert wurde. In dem jetzt vorgelegten Bericht, der mit 70 Seiten einen deutlich geringeren Umfang hat als der Bericht 2011, werden die Ergebnisse der Reformbemühungen der mazedonischen Regierung sowie wirtschaftliche und gesellschaftliche Parameter ausführlich erfasst.
Dem Fortschrittsbericht vorausgegangen war seit dem 15. März 2012 der Beginn eines so genannten Beitrittsdialogs auf hohem Niveau (High Level Accession Dialogue – HLAD), der einen Mechanismus darstellt, um die Reformbemühungen in Gang zu halten, ohne dass ein Termin für die Beitrittsverhandlungen feststeht. Die Gespräche zwischen der EU und Mazedonien finden seither in fünf Schlüsselbereichen statt. Dies sind: 1) Freie Meinungsäußerung und ethische Standards in den Medien; 2) Stärkung des Rechtsstaats; 3) Reform der öffentlichen Verwaltung; 4) Wahlrechtsreform und 5) Fortentwicklung der Marktwirtschaft. Der bisherige Prozessverlauf wurde von der EU Kommission als positiv bewertet und so rechnete man schon seit einigen Wochen mit einem ebenso günstig ausfallenden Fortschrittsbericht 2012 der Kommission.
Mazedonien wird darin zum wiederholten Mal die Erfüllung der politischen Kriterien für den Beitritt und der Kandidatenstatus bestätigt. Doch geht der Bericht in diesem Jahr einen wichtigen Schritt weiter. Die Europäische Kommission bietet zum ersten Mal eine Vorgehensweise an, die die Lösung des Namensstreits mit Griechenland in einem zu den Beitrittsverhandlungen parallel verlaufenden Prozess vorsieht. Das heißt, es wird von der Kommission nicht mehr verlangt, dass eine Einigung vor der Festlegung eines Datums für den Beginn der Beitrittsverhandlungen erfolgen muss. Der EU-Erweiterungskommissar Füle machte bei der Vorstellung des Berichts deutlich, dass die Kommission aber eine Lösung in einer frühen Phase der Beitrittsverhandlungen verlangt. Die Kommission unterstreicht, dass diese Herangehensweise eine intensive politische Verpflichtung beider Seiten vor der Tagung des Europäischen Rates im Dezember verlangt. Aber weder Füle noch der EU-Botschafter in Mazedonien bestätigten, dass dies auch eine Verpflichtung zur erneuten Verhandlung der Namensfrage zwischen Skopje und Athen vor Dezember bedeute. Sie machten nur deutlich, dass im Moment allein von den EU-Mitgliedstaaten abhänge, ob der Kommissionsvorschlag angenommen wird oder nicht. Die Kommission schlägt jedenfalls den Mitgliedsstaaten vor, die Beitrittsverhandlungen vor der endgültigen Lösung des Namensstreits zu beginnen.
Der Bericht der Kommission verweist in diesem Zusammenhang auch auf die Tatsache, dass die Beziehungen zwischen Griechenland und Mazedonien, insbesondere auf wirtschaftlicher Ebene und beim Tourismus, bereits sehr eng sind, dass sie aber bisher unter dem Einfluss der Namensfrage extrem leiden. Mazedonien wird deshalb aufgefordert, in den Bemühungen nicht nachzulassen, um mit Griechenland, aber auch mit Bulgarien in guten nachbarschaftlichen Beziehungen zu leben.
Die Entwicklung der politischen Kriterien in Mazedonien wird insgesamt als positiv bewertet. So wird gelobt, dass die mazedonische Regierung den High Level Accession Dialogue ins Zentrum ihrer politischen Agenda gerückt hat. Dennoch benennt der Bericht ebenso deutlich offen gebliebene Schwachstellen des Landes und seiner Regierung, wie z. B. die problematischen interethnischen Beziehungen und den schwierigen Versöhnungsprozess, Defizite der öffentlichen Verwaltung, Vetternwirschaft und Klientelismus, Unabhängigkeit der Justiz in der Praxis (hier insbesondere das Ernennungsverfahren von Richtern) sowie Versäumnisse bei der Wahlrechtsreform. Im Bereich des Wahlrechts und eines Wahlgesetzes wird z. B. mehr Transparenz bei politischen Kampagnen und Parteienfinanzierung angemahnt sowie eine Aktualisierung des Wählerverzeichnisses. Darüber hinaus wird eine gütliche Einigung mit Blick auf den vorgelegten Entwurf des so genannten Gesetzes der Verteidiger verlangt, das die Entschä-digungszahlungen an Opfer des Konfliktes von 2001 regelt. Hier wird eine Regelung auch im Sinne des Ohrider Abkommens gefordert. In den letzten Wochen hatte es um diesen Entwurf erhebliche Spannungen zwischen der Regierungspartei VMRO-DPNE und ihres albanischen Partners DUI gegeben, an dem fast die Regierungskoalition zerbrochen wäre, weil die DUI die Einbeziehung der ehemaligen UCK-Mitglieder (albanische Befreitungsarmee) verlangt.
Insgesamt mahnt der EU-Bericht die Umsetzung der Empfehlungen des letzen OSZE Wahlberichtes für Mazedonien an, attestiert aber ansonsten Fortschritte bei den politischen Kriterien sowie der gesamten Regierungsarbeit. Es wird aber hervorgehoben, dass mehr Anstrenungen für den interethnischen Dialog im Land durch alle Beteiligten unternommen werden müssten, um die Stabilität des Landes sicher zu stellen. Wie angespannt die Lage diesbezüglich ist, war an einer Reihe von Vorfällen in diesem Jahr zu erkennen (vgl. KAS-Länderbericht Mai 2012). Darüber hinaus geht der Bericht sehr ausführlich auf die wirtschaftliche Situation des Landes ein und hebt neben Fortschritten die extrem hohe Arbeitslosenquote als großes Problem hervor, von der besonders Jugendliche und Frauen betroffen sind. Insgesamt wird festgehalten, dass in vielen Bereichen verabschiedete Gesetze zwar den Regeln der EU-Normen entsprechen, es aber an ihrer Umsetzung in der Praxis mangelt.
Die mazedonischen Medien und die Politik setzen sich in diesen Tagen intensiv mit dem neuen Fortschrittsbericht auseinander. Die Reaktionen sind diesmal positiver als im vergangenen Jahr. Man ist zufrieden, dass die EU-Kommission eine konkrete Perspektive für den Fortgang des Integrationsprozesses eröffnet und sich auch dazu entschlossen hat, das Adjektiv „mazedonisch“ zu verwenden, was sie im letzten Bericht vermieden hatte. Dadurch war es im vergangenen Jahr zu erheblichen Verstimmungen zwischen mazedonischer Regierung und EU-Kommission gekommen.
Der von der EU-Kommission in Aussicht gestellte Schritt, trotz aller offensichtlicher Probleme des Landes, Beitrittsverhandlungen parallel zu den Gesprächen um die Lösung der Namensfrage zu beginnen, ist sicherlich ein Mittel, um nationalen Tendenzen und weiteren ethnischen Spannungen mit geeigneten Mitteln zu begegnen. Er zwingt die Parteien in der Regierungsverantwortung, sich über ethnische Grenzen hinaus mehr Gedanken zu machen, wie man an der gemeinsamen Sache, dem EU-Integrationsprozess, im Interesse der gesamten Bevölkerung arbeiten kann. Daher trägt der Tenor des diesjährigen Berichts vielleicht dazu bei, Frustration zu vermeiden und für eine Reformstimmung im Land zu sorgen. Vor allem in einer Phase, in der es in der Regierungskoalition zwischen VMRO-DPMNE und ihrem albanischen Koalitionspartner DUI ziemlich rumort, ist diese von der EU-Kommission angedeutete Option wichtig und kommt zum richtigen Zeitpunkt.
Mit Blick auf den Namensstreit hat die griechische Regierung durch ihren Außenminister Dimitris Avramopoulos kurz vor Bekanntgabe des Fortschrittsberichts ein Memorandum an den mazedonischen Außenminister Nikolai Popovski mit einem Vorschlag zur Lösungsfindung gesandt, was von der EU-Kommission positiv bewertet wurde. Darin regt der griechische Außenminister die Unterzeichnung eines Memorandums zwischen beiden Staaten an, das die Lösungsfindung beschleunigen soll. Griechenland schlägt demnach vor, dass beide Seiten die existierenden Grenzen als unverletzlich anerkennen und diese auch nicht gewaltsam verändern wollen. Die territoriale Integrität und die politische Souveränität des jeweils anderen Staates solle auf gegenseitigem Respekt beruhen und garantiert werden. Der zukünftige Name der Republik Mazedonien solle eine geographische Spezifizierung enthalten, um eine Verwechslung mit der nordgriechischen Region auszuschließen. Dieser Vorschlag der griechischen Seite ist allerdings vom Prinzip her nichts Neues, deshalb kann man nur hoffen, dass Griechenland mit diesem Schritt seinen Willen zur Einigung unterstreicht. Der Memorandumsvorschlag zieht als Grundlage für eine Lösungsfindung auch Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen heran, die die Existenz des Streites und die Bedeutung einer Lösungsfindung für den Frieden in der Region hervorheben. In Mazedonien jedenfalls würde die Annahme der im EU-Fortschrittsbericht in Aussicht gestellten Option zum Beginn von Beitrittsverhandlungen sicherlich dem Reformstau entgegenwirken und auch anti-europäischen Ideen weniger Raum lassen.