Seit Monaten wird über einen Friedensplan diskutiert, zu dem es bislang keine konkreten Informationen gibt. Welche Ziele die US-Regierung für ihren „Deal des Jahrhunderts“ zwischen Israelis und Palästinensern verfolgt, lässt sich bestenfalls erahnen. Die zwischenzeitlich umgesetzte Entscheidung zur Verlegung der Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem in Verbindung mit der Ankündigung, bilaterale Unterstützung für die Palästinenser zurückzuhalten, lassen aber erahnen, dass man die Summe der heiklen Endstatusfragen verringern, eine Komplexitätsreduzierung erzwingen und so den Nahostkonflikt in leichten Dosierungen lösen will. So wächst der Eindruck, die USA entschieden einseitig zugunsten der israelischen Positionen und verspielten ihre Rolle als neutrale Vermittlerin. Zudem wird die bisherige Position der Staatengemeinschaft unterminiert, wonach Israelis und Palästinenser selbst die Verantwortung für Verhandlungslösungen zu den so genannten „Endstatus-Fragen“ tragen.
Wer UNRWA auflösen und den Flüchtlingsstatus in Frage stellen will, verkennt die völkerrechtlichen und humanitären Konsequenzen. Seit 1949 agiert UNRWA auf der Grundlage eines temporären, im dreijährigen Turnus zu erneuernden Mandats der VN-Generalversammlung und mit Zustimmung jener Länder, die bis heute palästinensische Flüchtlinge beherbergen. Auch Israel hat 1967, nachdem man Gaza und das Westjordanland besetzte, UNRWA um Unterstützung gebeten (und dies seitdem nicht widerrufen). Weil das Schicksal der im Zuge des ersten israelisch-arabischen Kriegs geflohenen etwa 775.000 Palästinensern nicht abschließend geklärt wurde, hat sich die Gruppe der Hilfsbedürftigen auf über fünf Millionen Flüchtlinge erhöht. Dabei könnte die Zahl noch höher sein, denn von den 12 Millionen Palästinensern, die es weltweit gibt, gelten knapp zwei Drittel als Flüchtlinge.
Es sei ein Unding, dass der palästinensische Flüchtlingsstatus vererbt würde, argumentieren Kritiker. Indes ist es völkerrechtlicher Standard, dass ein Flüchtlingsstatus an die nächste Generation weitergegeben wird, wenn hierfür die Kriterien weiterhin erfüllt sind. So wird auch mit den Sahrawi-Flüchtlingen verfahren, die in den 1970er Jahren flohen und heute in Lagern Mauretaniens und Algeriens auf die Lösung des Konflikts mit Marokko warten. Eine Auflösung von UNRWA würde folglich nichts an der Weitergabe des Flüchtlingsstatus ändern. Zum Vergleich: UNHCR, das „allgemeine“ Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, bezieht sich auf die völkerrechtlich bindende Genfer Flüchtlingskonvention, deren Definition auch für die Palästinenser Anwendung fände. Kein Staat kann einem Menschen seinen Flüchtlingsstatus nehmen, solange die völkerrechtlichen Kriterien erfüllt sind.
Es wird bemängelt, dass eine Integration der Betroffenen wegen attraktiver Hilfsleistungen verhindert würde. UNRWA kann für diesen Vorwurf nicht als Adressat herhalten, weil die Organisation schlichtweg kein politisches Mandat hat, sondern für humanitäre Hilfe mandatiert ist: sie leistet die schulische und medizinische Grundversorgung in den Flüchtlingslagern, bietet Hilfs- und Sozialdienste, hält die Infrastruktur aufrecht und vergibt Mikrokredite. Es wird sie solange brauchen, bis die Konfliktakteure eine gerechte Übereinkunft finden, die Klarheit über Rückkehr oder Integration, über Entschädigung oder Anerkennung des begangenen Leids geben wird. In besonders prekären Kontexten, wie beispielsweise in Gaza, ist UNRWA ein letzter Rettungsanker, um Hoffnung zu geben und die noch vorhandene Resilienz der Menschen zu stärken.
Aus humanitärer Perspektive wird ein ohnehin wankendes Kartenhaus frontal angegriffen. Denn UNRWA ist auf freiwillige Beitragszahlungen der Staatengemeinschaft angewiesen. Deshalb ist das Hilfswerk chronisch unterfinanziert. Besonders frappierend zeigt sich dies in Gaza, wo 1,3 Millionen Einwohner den Flüchtlingsstatus besitzen. Die ägyptisch-israelische Blockade, die Sanktionspolitik der Fatah-geführten Autonomiebehörde, die schlechte Regierungsführung der Hamas und der schleppende Wiederaufbau des Küstenstreifens in Folge von drei Kriegen in den letzten Jahren hat das dichtbesiedelte Gebiet an den Rand des Kollaps gebracht. Es steht kein sauberes Grundwasser zur Verfügung, die Stromversorgung liegt bei weniger als sechs Stunden täglich und die Arbeitslosigkeit liegt mittlerweile bei 49 Prozent. UNRWA stabilisiert die Lage allein schon aufgrund regelmäßiger Gehaltszahlungen an seine knapp 13.000 lokalen Mitarbeiter, von denen die meisten in den Schulen arbeiten. Sie sorgt dafür, dass 270.000 Kinder eine formelle Schulbildung genießen und der staatliche Gesundheitssektor entlastet wird. Eine verschärfte Finanzlage würde nicht nur die Lage in Gaza kippen lassen. Auch Israel wäre unmittelbar betroffen: Epidemien ließen sich nur schwer verhindern und Proteste, wie wir sie seit Ende März beobachten, würden an Radikalität gewinnen. In Gaza ist UNRWA alternativlos, da keine Organisation im Stande wäre, kurzfristig den Betrieb von 275 Schulen und über 20 Gesundheitszentren zu übernehmen und mit gleicher Verve fortzuführen.
Es geht angesichts der UNRWA-Debatte um Verlässlichkeit: mag sein, USA in Folge einer Prioritätenverschiebung bei den Palästinensern sparen müssen. Aber bislang lässt die US-Regierung offen, wie man den Anschluss an jene Konfliktregelung finden will, die im September 1993 im Rosengarten des Weißen Hauses den Politikern Mahmud Abbas und Shimon Peres zur Unterschrift vorgelegt wurde: für die Idee einer Zweistaatenlösung, wie sie damals im Rahmen des Oslo-Abkommens anvisiert wurde, gibt es unter Israelis und Palästinensern derzeit keine Mehrheit mehr. Unter den jungen Palästinensern, die knapp zwei Drittel der Bevölkerung in den besetzten Gebieten ausmachen, ist längst nicht mehr die Rede von einem eigenen Staat. Jenen, die keine eigene Erinnerung an den optimistischen Aufbruch der 1990er Jahre haben, geht es nur noch um ein Leben in Menschenwürde – ganz gleich, ob dies unter israelischer oder palästinensischer (oder einer anderen) Flagge realisiert wird. Um aber den Glauben an die Zweistaatenlösung wieder keimen lassen zu können, muss unter gegenwärtigen Bedingungen das US-Vermittlungsmonopol auf den israelisch-palästinensischen Konflikt hinterfragt werden. Ansonsten wird noch mehr destruktives Potenzial freigesetzt. Auch unter den Palästinensern gibt es nämlich Sympathien für eine Auflösung von UNRWA, um Israel als Besatzungsmacht an seine völkerrechtliche Verantwortung für 2,1 Millionen Flüchtlinge in Gaza und dem Westjordanland zu erinnern.
Die Forderung Washingtons, die reichen Golfstaaten sollten sich mehr engagieren, kann keine Alternative sein. Schon heute bezeugen wir entlang der Corniche von Gaza den Einfluss des Emirats Katar, das als zentraler Akteur zum Wiederaufbau des kriegsgeschüttelten Gazastreifens beiträgt und dabei politischen Einfluss geltend macht. Doha hält (weiterhin) an der Unterstützung für die Hamas fest. Um die USA an ihre eigenen Vermittlungsansätze zu erinnern (und die Europäer daran, dass sie eine historische Verantwortung für die Entwicklungen in ihrer südlichen Nachbarschaft haben), bedarf es eines multilateralen Ansatzes, der das Nahost-Quartett und die zentralen Akteure der Region – Ägypten, Jordanien, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate – zusammenbringt, um gemeinsam mit Israelis und Palästinensern über einen regionalen israelisch-arabischen Friedensplan zu verhandeln. Dann wird es bestenfalls auch wieder möglich sein, auf rationale Weise über die Flüchtlingsproblematik zu diskutieren. Denn Umfragen unter den Betroffenen zeigen: nur eine Minderheit will tatsächlich in das heutige Staatsgebiet Israels zurückkehren, während eine Mehrheit eine Integration in ihren Gastländern bevorzugt.
Dieser Meinungsbeitrag ist am 29. August 2018 auf der "Causa"-Seite des Tagesspiegels erschienen.