Länderberichte
Chaotische Regierungsführung
Die Regierungszeit des ehemaligen Staatspräsidenten Pedro Castillo zeichnete sich hauptsächlich durch eine chaotische Regierungsführung aus. Mit über achtzig verschiedenen Ministern sowie fünf kompletten Kabinettswechseln in knapp eineinhalb Jahren hält Castillo den Rekord der wohl volatilsten Regierung in der neueren Geschichte des Landes. Die Destabilisierung fand aber auch innerhalb der öffentlichen Institutionen statt, indem Castillo viele Beamte durch seine Anhänger austauschte, die ungeeignet und unvorbereitet hohe Positionen bekleideten. Vor allem junge Nachwuchskräfte flohen aus dem öffentlichen Dienst in den Privatsektor.
Castillo konnte zudem keine klare Linie in seiner Politik setzen. Eine kohärente Strategie der Regierung, die seine Amtszeit hätte kennzeichnen können, konnte wegen der wechselnden Kabinette kaum verfolgt werden. Seine Wahlversprechen, wie die Konstituierung einer neuen Verfassungsgebenden Versammlung und die Enteignung internationaler Bergbaufirmen, musste er gleich zu Beginn aufgeben. Im Laufe seiner Regierungszeit hatte Castillo sich politisch immer weiter von der linksradikalen Partei Perú Libre entfernt und stattdessen Verbündete in den Mitte-/Mitte-Links-Parteien im Kongress gesucht.
Die Schwäche der Regierung wurde von der Opposition im Kongress ausgenutzt. Gleich im ersten Jahr von Castillos Amtsübernahme wurden zwei Anträge gemäß Artikel 113 der peruanischen Verfassung gestellt, um den Präsidenten wegen „moralischer Untauglichkeit“ abzusetzen. Schon sein Vorgänger im Amt, Martín Vizcarra, wurde im November 2020 so aus dem Präsidentenamt entlassen.
Das erste Amtsenthebungsverfahren im November 2021 wurde u. a. aufgrund illegaler Kampagnenfinanzierung, Ernennung hochrangiger Beamter mit Verbindung zu terroristischen Gruppen und Vorteilsgewährung eingeleitet. Der Versuch scheiterte bereits in der Abstimmungsphase zum Antrag. Im zweiten Amtsenthebungsverfahren im März 2022 wurden dem Präsidenten Behinderung der Justiz, konkret die Einmischung in laufende Untersuchungen der Staatsanwaltschaft, die Einsetzung eines inoffiziellen „Schattenkabinetts“ sowie die Absicht, Landesterritorium an Bolivien abzutreten, zur Last gelegt. Letzterer Vorwurf entstammte einem Interview Castillos gegenüber CNN, das national und international für viel Spott sorgte („Mar para Bolivia“). Die Abstimmung im Kongress scheiterte jedoch erneut: Nur 55 der 130 Abgeordneten stimmten mit Ja, was nicht ausreichte, um den Präsidenten mit einem Quorum von zwei Dritteln der Stimmen abzusetzen.
Neue Korruptionsvorwürfe
In der zweiten Hälfte des Jahres 2022 verdichteten sich jedoch die Korruptionsvorwürfe. Daraufhin begann die Staatsanwaltschaft eine Strafermittlung gegen Castillo, in der sie den Anfangsverdacht darlegte, der Präsident leite mit der Absicht zur Erzielung illegaler Gewinne eine kriminelle Organisation, die die öffentliche Vergabe von Aufträgen auf verschiedenen staatlichen Ebenen kontrolliere und steuere. Hauptsächlich wurde die missbräuchliche Ausübung der Befugnisse des Präsidenten und seine damit verbundene Einflussnahme zum Vorwurf gemacht. Zuletzt kursierten Berichte, dass Castillo Kongressabgeordnete angeworben habe, damit diese gegen Zusicherung hoher Staatsposten für seine Initiativen abstimmen. Aufgrund dieser Vorwürfe hatte die Opposition am 01. Dezember 2022 ein drittes Amtsenthebungsverfahren eingeleitet, das für den 07. Dezember angesetzt worden war.
Die Geschäftsführerin einer großen Immobiliengesellschaft gab wenig später nach Bekanntwerden des neuen Amtsenthebungsverfahrens öffentlich zu, den ehemaligen Chefberater des Wohnungsbauministeriums bestochen zu haben, um Aufträge für ihr Unternehmen zu erhalten. Daraufhin bestätigte dieser die Vorwürfe gegenüber der Staatsanwaltschaft und behauptete ferner, dass das Geld auch für Castillo bestimmt gewesen sei. Dieser soll monatlich 50.000 Soles (ca. 12.500 Euro) erhalten haben, um den Wohnungsbauminister Geiner Alvarado in seinem Amt zu halten.
Castillo, konfrontiert mit konkreten öffentlichen Anschuldigungen, richtete daraufhin eine Botschaft an die Nation, in der er zwar Korruptionsfälle in seiner Regierung einräumte, aber weiterhin seine Unschuld beteuerte. In der Ansprache unterstrich der Präsident, dass er das verfassungsmäßige Recht des Kongresses, über seine Amtsenthebung zu bestimmen, respektieren werde.
Aktuelle Staatskrise
Am 07. Dezember, dem Tag des Amtsenthebungsverfahrens, richtete sich Präsident Castillo am Mittag plötzlich erneut mit einer weiteren Botschaft an die Nation, in der er dem Kongress vorwarf, das Gleichgewicht der Staatsgewalten verletzt zu haben. Er kündigte an, dass er eine Ausnahmeregierung einsetzen werde, um die Demokratie wiederherzustellen. Diese Notstandsregierung sah folgende Maßnahmen vor: die vorübergehende Auflösung des Kongresses der Republik, die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung, die innerhalb von neun Monaten eine neue Verfassung ausarbeiten sollte, die Verhängung einer landesweiten Ausgangssperre zwischen 22:00 und 4:00 Uhr sowie die Reorganisation des Justizwesens, explizit u. a. der Staatsanwaltschaft, des Nationalen Justizrates und des Verfassungsgerichts.
Die Generalstaatsanwaltschaft nahm kurz darauf in einem Kommuniqué Stellung, in dem sie betonte, dass diese Maßnahmen die peruanische Verfassung in flagranter Weise verletzten. Sie kündigte zudem eine Strafanzeige (denuncia penal) gegen den Präsidenten an. Das gemeinsame Kommando der Streitkräfte und der Nationalen Polizei veröffentlichte eine Stellungnahme, in welcher der Schutz der verfassungsmäßigen Ordnung bekräftigt und Castillos Vorgehen abgelehnt wurde. Mehrere Minister erklärten ihren Rücktritt. Zahlreiche führende Medien bewerteten die Aussagen Castillos als Staatsstreich.
Der Kongress der Republik zog seine angesetzte Sitzung über die Abstimmung zum Amtsenthebungsverfahren vor und bestätigte mit 101 Ja-Stimmen, sechs Nein-Stimmen und zehn Enthaltungen die Absetzung des Präsidenten Castillo wegen „moralischer Untauglichkeit“.
Nur Minuten nach der Wahl wurde der abgesetzte Präsident schließlich auf dem vermeintlichen Weg zur mexikanischen Botschaft von der Nationalen Polizei aufgrund der Strafanzeige der Generalstaatsanwaltschaft verhaftet. Am Nachmittag wurde die bisherige Vizepräsidentin Dina Boluarte als erste Frau in der über zweihundertjährigen Geschichte des Landes als das neue Staatsoberhaupt vereidigt.
Einschätzungen und Ausblick
Rückblickend scheint es erstaunlich, dass sich Castillo überhaupt so lange im Amt halten konnte. So wurde seine Legitimität aufgrund angeblichen Wahlbetrugs bereits vor Amtsantritt in Frage gestellt. Nennenswerte Gesetzesvorhaben oder Reformen setzte Castillo zwar nicht um, aber er konnte Zweckbündnisse für sich nutzen, um sich fast eineinhalb Jahre lang einer Amtsenthebung durch eine Zweidrittelmehrheit im Kongress zu entziehen. Bis zuletzt gingen viele Beobachter davon aus, dass auch das dritte Amtsenthebungsverfahren trotz der sich zuspitzenden Situation wieder scheitern würde. Letztlich brachte erst die öffentlich vorgetragene Beweislage den Präsidenten zu Fall.
Castillo hinterlässt ein Machtvakuum. Wichtige Initiativen im Bildungs- und Gesundheitssektor müssen umgesetzt werden. Die peruanische Wirtschaft kämpft zudem mit steigender Inflation und hoher Arbeitslosigkeit. Die politischen Lager sind polarisiert und die öffentlichen Institutionen geschwächt. Die neue Präsidentin Dina Boluarte müsste diesen Problemen begegnen. Ob sie jedoch die Gelegenheit bekommt, aktiv Politik zu gestalten, bleibt abzuwarten. Trotz ihrer Ankündigung einer „Waffenruhe“ mit dem Kongress ist eine Entspannung der politischen Dauerkrise wohl nicht zu erwarten. Um den Kongress zu besänftigen, müsste ihre politische Strategie darauf abzielen, die Opposition aktiv bei ihren Initiativen mit einzubeziehen.
Allerdings kommt der neuen Amtsinhaberin zugute, dass der Kongress, trotz seiner offensichtlichen politischen Differenzen mit der ehemaligen Vizepräsidentin derzeit kaum ein Interesse haben dürfte, auch Boluarte ihres Amtes zu entheben. Denn gemäß der peruanischen Verfassung würde zwar in einem solchen Falle der Kongresspräsident das Amt des Staatsoberhaupts übergangsweise übernehmen, doch wären dann auch Neuwahlen sowohl für das Amt des Präsidenten als auch für den Kongress zwingend abzuhalten. Da peruanische Kongressabgeordnete nicht zwei Legislaturperioden hintereinander gewählt werden dürfen und die aktuellen Umfragewerte der im Kongress vertretenen Parteien schlecht sind, liegt eine weitere Amtsenthebung für die meisten Parlamentarier aktuell wahrscheinlich außerhalb ihrer Ambitionen.
Dennoch haben die Entwicklungen am 07. Dezember gezeigt, dass in Peru politisch alles möglich ist. Eine Fokussierung auf die eigentlichen Herausforderungen des Andenstaates ist aber leider immer noch nicht in Sicht.