Die EU-Grenzschutzbehörde Frontex vermeldete für 2024 einen Rückgang von 38 Prozent bei illegalen Einreisen an den EU-Außengrenzen. Vor allem auf der traditionellen zentralen Mittelmeerroute brachen die Ankünfte von Libyen und Tunesien um 59 Prozent ein – die EU hat die Küstenwache beider Länder ausgerüstet und damit die traditionelle Migrationsroute von Sub-Sahara Afrika über den Schmuggler-Hotspot in Agadez im Norden Nigers eher unattraktiv gemacht. Schmuggler verlagern daher Kapazitäten auf die Atlantik-Route, vor allem in das Sahelland Mauretanien. Der verarmte Wüstenflächenstaat ist dreimal so groß wie Deutschland, hat aber gerade einmal fünf Millionen Einwohner – ein schwacher Staat kann die Landgrenzen und die 700 Kilometer lange Atlantik-Küste nur schwer kontrollieren.
Fast 47.000 Menschen kamen per Boot im letzten Jahr auf den Kanarischen Inseln an, 18 Prozent mehr als 2023 und damit ein neuer Rekord – noch mehr Migration gab es laut Frontex nur aus der Ukraine und durch Schleusungen von Russland und Belarus von Drittstaatlern (Afghanistan, Nahost) über die Belarus-Grenze. Ablageort von Booten ist meist die Hafenstadt Nouadhibou im Norden Mauretaniens, die der spanischen Inselgruppe am nächsten liegt. Es gibt auch Bootsabfahrten von Senegal und Gambia, allerdings weniger, weil die beiden westafrikanischen Länder weiter weg liegen. Einige Boote legen auch von Marokko ab, allerdings überwacht das Königreich seine Küste besser.
Schmuggler setzen auf Mauretanien
Zahlenmäßig waren die Ankünfte auf den Kanarischen Inseln 2024 niedriger als auf der zentralen und der östlichen Mittelmeerroute mit 67.000 beziehungsweise ca. 70.000. Doch insbesondere Spanien ist alarmiert, weil Schmuggler-Netzwerke verstärkt in die Mauretanien-Route investieren. Viele Migranten kommen zwar wie bisher aus den Nachbarländern Mali und Senegal nach Mauretanien. Doch in letzter Zeit wurden auch vermehrt Menschen aus Pakistan, Indien und Bangladesch gesichtet, die es nach Europa zieht. Auch Syrer und Somalis wurden vereinzelt gesichtet. Diese nutzten die bisherigen laxen Einreiseregeln, wo man bis vor kurzem ein Visum bei Ankunft am Flughafen Nouakchott bekommen konnte. Die Regierung hat die Regeln verschärft und verlangt seit Januar eine Visumbeantragung online vor dem Abflug. Bei einer Visumsablehnung können sich Reisende nicht einfach wie bisher in ein Flugzeug nach Nouakchott setzen.
Ein weiteres Anzeichen für professionellere Schmuggler-Strukturen sind steigende Ankünfte von Minderjährigen auf den Kanarischen Inseln – eine Taktik, die man schon auf der Balkanroute beobachten konnte. Schmuggler schicken Jugendliche vor, um später die Familie nachzuholen. Dies sorgt auch für Streit in Spanien, weil einige Provinzen auf dem Festland keine Flüchtlinge mehr von den Kanarischen Inseln annehmen wollen.
Spanien ist sehr besorgt über den Anstieg der Ankünfte auf den Kanarischen Inseln. Der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez war 2024 zweimal in Nouakchott. Im Februar kam auch der Präsident der Kanarischen Inseln, um die bilaterale Zusammenarbeit zu intensivieren. Spanische Grenzschützer haben zwei Patrouillenboote und einen Hubschrauber in der Hafenstadt Nouadhibou stationiert, um der mauretanischen Küstenwache zu helfen, Boote zu stoppen. Die EU unterstützt das Land mit einem Paket von 210 Millionen Euro, um den Küstenschutz, die Aufnahmekapazitäten für Flüchtlinge und die berufliche Qualifizierung von Mauretaniern zu verbessern. Einige Gelder sollen auch in grüne Wasserstoffprojekte fließen, um Arbeitsplätze in einem neuen Wirtschaftszweig im Land zu schaffen. Ende März bewilligte die EU zusätzlich 20 Millionen Euro an militärischen Ausrüstungshilfen, damit Mauretanien die Küstenüberwachung verbessern kann. Die EU hatte bereits 27 Millionen Euro an militärischer Unterstützung für das Sahelland genehmigt. Dies ist unabhängig von dem Migrationspaket von 210 Millionen Euro.
Frankreich hat ebenfalls ein Interesse, die Atlantik-Route zu schließen, da insbesondere frankophone Nationalitäten aus Westafrika von Spanien dorthin weiterziehen. Deutschland ist bisher kein wichtiges Ziel mit der Ausnahme von Menschen aus Guinea, die seit Jahresbeginn an zehnter Stelle der Asylanträge stehen – 2024 war Guinea nicht unter den wichtigsten Herkunftsländern gewesen. Dies könnte dafür sprechen, dass Menschen aus dem westafrikanischen Land vermehrt die Atlantik-Route nutzen. Die meisten Anträge in Deutschland kommen weiterhin aus Syrien, Afghanistan und der Türkei, die die Balkanroute nutzen.
Mali-Konflikt treibt Flüchtlingsstrom
Die gesunkenen Abfahrten sind gute Nachrichten für Europa, aber eine Hiobsbotschaft für Mauretanien -- je mehr Flüchtlinge an der Weiterfahrt gehindert werden, desto mehr soziale Spannungen gibt es in dem verarmten Land. Mauretanien hatte bisher Flüchtlinge aus Mali nicht an der Einreise gehindert. Doch jetzt dreht sich der Wind. Mauretanien ist zwar nicht so arm wie die Krisenländer Mali, Niger und Burkina Faso, leidet aber auch unter Armut. Das durchschnittliche Jahreseinkommen beträgt etwa 2000 Euro.
In Mauretanien gibt es ein starkes Gefälle zwischen arabischsprachigen Eliten, die seit der Unabhängigkeit an der Macht sind und auch die Wirtschaft dominieren, und „schwarzafrikanischen“ Mauretaniern, die häufig von ehemaligen Sklaven abstammen und über Diskriminierung und Armut klagen. Sie konkurrieren mit Migranten und Flüchtlingen aus dem Senegal oder Mali, die für noch weniger Lohn arbeiten. Im Stadtbild der Hauptstadt Nouakchott sind in jüngster Zeit deutlich mehr Schwarzafrikaner am Straßenrand zu sehen, die sich als Tagelöhner anbieten. Die Konkurrenz mit Einheimischen wird noch dadurch verschärft, dass der südliche Nachbar Senegal seit dem letzten Jahr über die Landgrenze keine Drittstaatler mehr zurücknimmt, die Mauretanien abschieben will. Das Sahelland zieht viele Arbeitssuchende aus den westafrikanischen Küstenländern und sogar aus Kamerun. Viele bleiben jetzt im Land hängen, weil die Küste besser überwacht wird, sie aber auch nicht so einfach abgeschoben werden können.
USA stellen humanitäre Hilfen für Flüchtlinge ein
Waren Senegalesen traditionell die größte Gruppe, die in Mauretanien Arbeit suchen und anschließend versuchen, per Boot die Kanarischen Inseln zu erreichen, so kommen zunehmend viele Menschen aus Mali – Frontex listet Malier als Nummer 1 unter den Ankömmlingen in Spanien auf. Malier fliehen verstärkt vor dem Konflikt in ihrem Heimatland mit Dschihadisten -- knapp 300.000 sollen sich bereits in Mauretanien aufhalten. Fast alle halten sich im Südosten auf, wo die Vereinten Nationen ein Flüchtlingscamp an der Grenze zu Mali betreiben. Dieses ist so überfüllt, so dass viele in Nachbardörfern unterkommen. Die meisten Malier wollen nicht nach Spanien weiterziehen, können wegen des Konflikts aber auch nicht zurück.
Um eine Weiterreise an die Küste zu verhindern, verlangen die Behörden nun von malischen Flüchtlingen Genehmigungen, die an Straßensperren überprüft werden. Mauretanien hat zudem eine Visumspflicht für Menschen aus Malis krisengeschütteltem Nachbarland Burkina Faso eingeführt, da auch von dort in letzter Zeit mehr Flüchtlinge ankamen. Außerdem haben die Behörden nach malischen Medienberichten im März rund 500 Malier und Staatsbürger anderer Länder ohne Aufenthaltsstatus nach Mali abgeschoben – dies sind alles Zeichen, dass sich die Stimmung im Land gegen Flüchtlinge dreht. Deren Lage dürfte sich in den nächsten Monaten noch deutlich verschlechtern, da das Welternährungsprogramm WFP ab April einige Leistungen im Camp einstellen muss, weil die Trump-Regierung die Zahlungen eingestellt hat. Zugleich wird der Flüchtlingsdruck aus Mali zunehmen, weil die Vereinigten Staaten rund die Hälfte der humanitären Hilfe der Vereinten Nationen in Mali bisher finanziert hatten.
Vorwürfe gegen russische Söldner
Das Flüchtlingscamp Mbera im äußersten Südosten besteht seit 2012. Damals hatten Dschihadisten den Norden Malis unter ihre Kontrolle gebracht, bis die französische Armee sie Anfang 2013 vertrieb. 2012 kamen zumeist Angehörige der Tuareg-Volksgruppe in dem Camp an. Sie wurden damals von Dschihadisten vertrieben und können seitdem wegen der noch immer angespannten Sicherheitslage bis heute nicht zurückkehren. Heute kommen vor allem Malier aus dem Zentrum und Norden, wo die malische Armee mit russischen Söldnern hart gegen Dschihadisten vorgeht --– die ist der größte Hinweis, dass Russlands Militäreinsatz im Sahel Flüchtlingsströme antreibt. Menschenrechtsgruppen und die Vereinten Nationen haben viele Übergriffe und Tötungen an Zivilisten dokumentiert, die pauschal der Unterstützung von Dschihadisten beschuldigt werden.
Die Washington Post und der Sender Arte interviewten zudem malische Flüchtlinge in Mauretanien, die über angebliche Gräueltaten Wagners gegen Zivilisten berichteten (Malis Regierung bestreitet die Anschuldigungen). Vor allem Viehhirten der Volksgruppe der Fulbe fliehen nach Mauretanien, weil die Behörden sie häufig pauschal verdächtigen, mit Dschihadisten zusammenzuarbeiten. Viele Fulbe haben sich diesen angeschlossen, weil sie gegenüber Bauern beim Zugang zu Wasser und Land den Kürzeren ziehen. Ein rasant wachsendes Bevölkerungswachstum in Mali und im Sahel bedeutet zudem, dass immer weniger Land und Wasser für ihre Herden zur Verfügung steht und immer mehr Fulbe in die Armut getrieben werden.
Mehr Hilfsgelder aus Europa
Die russischen Söldner und die malische Armee operieren direkt an der Grenze zu Mauretanien, weil Bamako Nouakchott vorwirft, mit Dschihadisten eine inoffizielle Abmachung getroffen zu haben – sie dürfen, so der Vorwurf, Mauretanien mit ihren Familien in dem Camp als Rückzugsgebiet nutzen, solange sie Anschläge nur in Mali verüben. Malische Vertreter verweisen darauf, dass ohne eine solche Abmachung nicht zu erklären sei, wieso es auf der mauretanischen Seite der 800 Kilometer langen gemeinsamen Grenze seit über einem Jahrzehnt keine Anschläge gegeben hat. Die Grenze ist wie üblich im Sahel kaum gesichert. Mauretanien bestreitet vehement den malischen Vorwurf und verweist darauf, dass der Staat einschließlich Grenzschützern viel präsenter in ländlichen Gebieten sei als in Mali, wo es außerhalb der Hauptstadt kaum staatliche Dienstleistungen gibt.
Mauretanien hat die Spannungen mit Mali bewusst nicht eskaliert, um mit Bamako weiter im Gespräch zu bleiben. Nouakchott hatte auch gehofft, eine von Frankreich angestoßene Allianz G5 weiterzuführen, in der Mauretanien mit Tschad, Mali, Niger und Burkina Faso grenzüberschreitend Dschihadisten bekämpft hat. Die drei Militärregierungen im Zentrum des Sahels hatten sich zurückgezogen, weil sie sich als anti-französische Allianz verstehen und ein eigenes Bündnis gegründet haben. Die Allianz G5 ist damit Geschichte, Mauretanien hofft aber weiter auf eine Kooperation.
Europa baut neben dem Anti-Migrationsabkommen seine Entwicklungszusammenarbeit mit Mauretanien deutlich aus, um Armut und damit Fluchtursachen zu bekämpfen. Gelder, die für Projekte in Niger oder Mali wegen deren Militärregierungen nicht mehr ausgegeben werden sollen, stehen jetzt für Mauretanien zur Verfügung. Das ist ein richtiger Schritt. Deutschland und die EU sollten aber Augenmaß üben und das Land nicht wie einst in Niger bis zum Militärputsch 2023 mit Hilfen überfluten. Die ersten Anzeichen eines neuen NGO-Booms kann man dieser Tage in Nouakchott sehen, wo neue Hotels und ausländische Restaurantketten aufmachen, um die wachsende Anzahl von Entwicklungshelfern zu versorgen. Aber: Mauretanien ist ein sehr konservativ-muslimisches Land mit einem schwachen Staat. Das Land hat kaum Kapazitäten, Hilfsgelder in sinnvollen Projekten umzusetzen, und viele Einheimische stehen westlichen Werten wie einer Gleichberechtigung von Frauen eher skeptisch gegenüber. Die EU sollte realistisch sein, dass in Mauretanien Möglichkeiten für Entwicklungsprojekte begrenzt sind. Der Fokus sollte auf humanitärer Hilfe und Berufsbildung liegen, um die Armut und damit zumindest einen Teil der Fluchtursachen zu bekämpfen.