Veranstaltungsberichte
Die Staaten der arabischen Welt befinden sich heutzutage in einer Situation, in der ihre schwachen institutionellen Strukturen zunehmend von nicht-staatlichen Akteuren in Frage gestellt werden. Durch Forderungen nach Gerechtigkeit, Verantwortlichkeit und revolutionärem Wandel setzen diese Akteure - von friedlichen politischen und sozialen Graswurzelbewegungen bis hin zu gewaltbereiten extremistischen Gruppierungen - die problembeladenen politischen Systeme der arabischen Welt unter Druck. Um die Dynamiken zwischen diesen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren genauer zu beleuchten, lud das KAS Regionalprogramm Politischer Dialog Südliches Mittelmeer am 18. Oktober 2016 international renommierte Experten zu einer Konferenz nach Berlin ein. Die Konferenz diente dazu, den Austausch zwischen Experten anzuregen und eine Konzeptualisierung des breiten Spektrums an nicht-staatlichen Akteuren zu schaffen, die die Grundfesten arabischer Staaten mit friedlichen und gewaltsamen Mitteln anfechten. Im Rahmen der Konferenz wurde der Einfluss friedlicher Gruppierungen, so beispielsweise Gruppen basierend auf Verwandtschaftsbeziehungen, Religion, politischer Zugehörigkeit oder sozialen Forderungen, als auch die Rolle gewaltbereiter Gruppierungen als kombattante Gegenspieler von Staaten diskutiert. Darüber hinaus wurden die Reaktionen von Staaten auf diese erstarkenden nicht-staatlichen Gruppierungen analytisch betrachtet und erörtert in welcher Weise diese Dynamiken die Aussichten auf langfristige Stabilität und Sicherheit in der MENA Region beeinflussen. Die Konferenz diente außerdem als Grundstein für einen längerfristigen Austausch in diesem geschaffenen Experten-Netzwerk.
Thomas Birringer, Leiter des Teams Afrika und Naher Osten der Konrad-Adenauer-Stiftung und Dr. Canan Atilgan, Leiterin des KAS Regionalprogramm Südliches Mittelmeer eröffneten die Konferenz. Beide betonten die Notwendigkeit einer tiefergehenden Betrachtung und eines besseren Verständnisses nicht-staatlicher Akteure in der arabischen Welt, da in dieser Region traditionell Regierungen versucht haben alle Räume innerhalb ihrer Staaten zu besetzen und zu monopolisieren. In der aktuellen Situation sehen sie sich nun erstarkenden nicht-staatlichen Kräften und damit einem gewissen Kontroll- und Legitimitätsverlust gegenüber. Die Reaktionen der Staaten auf diese Herausforderung wird die Entwicklung der Region entscheidend beeinflussen.
Das erste Panel legte den Fokus auf nicht-staatliche Gruppen basierend auf Verwandtschaft oder Religion und zivilgesellschaftliche Organisationen. So diskutierten die Redebeiträge die Rolle von Stämmen und Clans in Libyens politischer Landschaft und dem andauernden Friedensprozess als ein Beispiel des Einflusses traditioneller verwandtschaftsbasierter Koordinierungsstrukturen, und erläuterten die Dynamik konfessioneller Zugehörigkeiten als Basis lokaler Loyalitäten im Konflikt in Syrien. Ein anderer Beitrag behandelte die Thematik regional-basierter Identitätspolitik in Tunesien nach der Revolution und die Frage wie systemische Diskriminierung in diesem Kontext regionale Spannungen befeuert. Darüber hinaus wurden libanesische Graswurzelbewegungen analysiert und als Beispiel zivilgesellschaftlicher Gruppen diskutiert, die es geschafft haben ohne die Unterstützung traditioneller politischer Parteien eine große Anzahl von Personen unterschiedlicher politischer Lager zu mobilisieren.
Im zweiten Panel diskutierten Experten über die Strategien von gewaltbereiten und extremistischen nicht-staatlichen Gruppen die zunehmend die Legitimität und Kontrolle von Staaten gefährden. Das Projekt territorialer Expansion des Islamischen Staates als auch die Ambitionen militanter Aufständischer in der Sahel Region wurde in diesem Kontext als paradigmatische Beispiele von Gruppierungen diskutiert, die die territoriale Integrität von Staaten zu schwächen versuchen um ihre eigenen quasi-staatlichen Gebiete einzurichten. Der Beitrag zu Milizen in Libyen erweiterte den Fokus auf bewaffnete Gruppierungen die in Situationen schwacher Staatlichkeit die Rolle nationaler Sicherheitskräfte übernehmen. Das Resultat ist eine Verschärfung des Kampfs um Einfluss und Macht zwischen den vielzähligen bewaffneten Milizen und die „Hyper-Regionalisierung“ des Landes. In dieser Situation scheint es zunehmend schwieriger eine militärische Streitmacht unter vereintem Kommando oder sogar eine staatliche Armee unter dem Gewaltmonopol einer Zentralregierung zu schaffen. Der letzte Beitrag des Panels beschäftigte sich dann mit Hisbollah als exemplarischem Fall eines nicht-staatlichen Akteurs der durch die weitreichende Übernahme traditionell staatlicher aber mangelnder Serviceleistungen zu einem „Staat im Staat“ geworden ist. Darüber hinaus hat sich Hisbollah jedoch in letzten Jahren insbesondere durch die Einmischung in den Krieg in Syrien zunehmend zu einem regionalen Akteur entwickelt – eine Entwicklung die für tiefgehende Änderungen in der Selbstwahrnehmung und Darstellung der Ideologie der Organisation führte und damit auch interne Spannung provozierte.
Das dritte Panel des Tages lenkte den Fokus anschließend auf die Reaktionen der Staaten gegenüber den diskutierten nicht-staatlichen Akteuren. Die Ansätze hierbei reichen von Repression über Kooptierung bis hin zu Patronage und spielen sich auf nationaler, regionaler und internationaler Ebene ab. Marokko und Ägypten wurden als zwei divergierende Fallbeispiele hierfür diskutiert. Die marokkanische Monarchie nutzt moderate und kooptierte Oppositionskräfte um die öffentliche Sphäre zu besetzen und dadurch kritischere Kräfte zu blockieren. Gleichzeitig präsentiert sie sich als einzige Kraft, die die polarisierte politische Gesellschaft zu einen vermag. In Ägypten lässt sich hingegen ein zunehmend hartes Vorgehen der Regierung gegen Oppositionsgruppen und zivilgesellschaftliche Organisationen konstatieren mit dem die Militärregierung versucht ihre politische und wirtschaftliche Machtstellung zu sichern. Ein weiterer Beitrag behandelte regionale Ansätze zur Bekämpfung von ISIS durch internationale Unterstützung betroffener Staaten um deren territoriale Kontrolle über Land- und Luftraum wiederherzustellen. Die abschließende Präsentation beschäftigte sich mit Staaten, die einem stärker experimentellen Ansatz gegenüber nicht-staatlichen Akteuren folgen, indem sie versuchen nicht-staatliche Akteure für die Durchsetzung ihrer eigenen regionalen Ziele zu instrumentalisieren. Beispiele hierfür finden sich unter anderem in der Unterstützung nicht-staatlicher Gruppierungen in Syrien und Jemen durch Iran und Saudi-Arabien.
Im abschließenden Panel wurde der regionale Fokus erweitert und die strategischen Ansätze der EU Mitgliedsstaaten und der Vereinigten Staaten zur Betrachtung herangezogen und Potenziale für transatlantische Kooperation in diesem Kontext diskutiert.
Im Anschluss an die Konferenz fand ein Abendessen mit Roderich Kiesewetter (CDU), Mitglied des Deutschen Bundestages, statt. Dies ermöglichte den regen Austausch der Teilnehmer der Konferenz mit dem Abgeordneten zur Thematik nicht-staatlicher Akteure aber darüber hinaus auch zur Rolle Deutschlands in der Flüchtlingskrise, Unterschieden in den entwicklungspolitischen Ansätzen der EU Mitgliedsstaaten und der Rolle internationaler Akteure im Friedensprozess in Libyen.