Länderberichte
Tusk selbst hatte um das Vertrauen der Abgeordneten gebeten, um nach zehntägigem Schwären einer Abhöraffäre Druck von seiner Regierung zu nehmen und innen- wie außenpolitisch, hier vor allem mit Blick auf die bevorstehenden Verhandlungen in Brüssel, Handlungsfähigkeit zu dokumentieren.
Die Abstimmung war ein taktischer Erfolg des Ministerpräsidenten, der mit seiner Demarche viele Abgeordnete der Opposition überrascht hat. Diese hinterließ in der Parlamentsdebatte einen uneinigen und konzeptionslosen Eindruck, während der Regierungschef einmal mehr mit sympathischem und souveränem Auftreten punkten konnte. Dennoch hat Donald Tusk sich und seiner Regierung nur ein wenig Luft verschaffen können. Ein Ende der Abhöraffäre ist nicht abzusehen, viele Fragen sind offen und der auf kurze wie auf lange Sicht bereits entstandene politische Schaden ist beträchtlich.
Rückblick
Am 14. Juni 2014 wurden auf der Homepage der Wochenzeitschrift „Wprost“ geheime Mitschnitte unbekannter Quelle von Gesprächen veröffentlicht, die PO-Politiker und öffentliche Funktionsträger seit über einem Jahr bei privaten Treffen geführt hatten.
Für besonderes Aufsehen sorgte dabei zunächst die Aufzeichnung eines Gesprächs zwischen Innenminister Bartłomiej Sienkiewicz und dem Chef der Zentralbank Marek Belka, die sich in einem Warschauer Restaurant im Juli 2013 privat zum Abendessen getroffen hatten. Das Gespräch fiel durch seinen saloppen, an deftiger Sprache nicht armen Ton auf und enthielt einige Kommentare zum politischen Leben und Gedankenspiele zur Verhinderung eines Sieges der PiS-Opposition bei den Parlamentswahlen im Jahr 2015. So unterbreitete der Innenminister Zentralbankchef Belka eine Vision: Wenn PiS kurz vor den nächsten Parlamentswahlen z. B. bei 43 Prozent in den Umfragen liege und sich gleichzeitig das Land in einer kurzfristigen Finanzkrise befinde, dann wäre der Machtwechsel und die damit verbundene wirtschaftliche Katastrophe sehr wahrscheinlich, da ausländische Investoren Polen verliessen und die wirtschaftliche Lage des Landes sich auf lange Zeit verschlechtern würde. Vor diesem Hintergrund erging an Belka die Frage, ob in dieser Situation die Zentralbank bereit wäre zu intervenieren, gemeint war das verfassungswidrige Aufkaufen von Staatsanleihen durch die Zentralbank zur Senkung des Staatsdefizits. Zentralbankchef Belka zeigte sich dem Vorschlag gewogen, beide Gesprächspartner waren sich jedoch einig, dass ein derartiges Vorgehen mit dem damals amtierenden, aber inzwischen aus dem Amt geschiedenen Finanzminister Rostowski nicht durchzuführen sei.
Ferner drückten sich im Laufe des Gesprächs beide Herren abwertend über den Rat für die Geldpolitik (ein Gremium der Nationalbank) und dessen Mitglieder aus. Auch ließ der Innenminister die Bemerkung fallen, dass der polnische Staat nur theoretisch existiere, praktisch existiere er eigentlich nicht, weil nur einzelne Fragmente funktionierten, aber nicht der Staat als Ganzes.
Weitere zu Beginn der Affäre veröffentlichte Bänder beinhalteten ein Gespräch von Sławomir Nowak, einem ehemaligen Vertrauten von Donald Tusk und Verkehrsminister a.D., und Andrzej Parafianowicz, als stellvertretender Finanzminister verantwortlich für Steuerfahndung. Auch dieses Gespräch fiel durch vulgäres Vokabular auf und hatte zudem korrupten Charakter, weil Nowak Einfluss auf eine laufende Finanzprüfung der Zahnarztpraxis seiner Frau nehmen wollte.
Den bisher letzten Höhepunkt von geheimen Gesprächsmitschnitten unbekannter Quelle bildete das Gespräch zwischen Außenminister Radosław Sikorski und Jacek Rostowski, Finanzminister a.D., von Ende Januar/Anfang Februar des laufenden Jahres. In dem Gespräch offenbarte Sikorski u.a. seine Einschätzung der polnischen Politik gegenüber den USA: „Das polnisch-amerikanische Verhältnis ist nichts wert. Es ist sogar schädlich, denn es schafft ein falsches Gefühl der Sicherheit. Totaler Bull-shit. Wir streiten uns mit den Deutschen, mit Russland, und wir glauben, alles ist super …. Schwachköpfe. Totale Schwachköpfe. Das Problem in Polen ist, dass wir zu wenig Stolz haben und zu wenig Selbstwertgefühl ….“
Weiter äußerte sich Sikorski, abfällig über den britischen Premier David Cameron im Zusammenhang mit dem europäischen Fiskalpakt.
Zurzeit ist noch völlig unklar, ob die Zeitschrift „Wprost“ noch weiteres brisantes Material publizieren kann und wird. Angeblich sind die der Zeitschrift vorliegenden Mitschnitte alle der Staatsanwaltschaft übergeben worden. Vor allem die Quelle und die Initiatoren der Gesprächsaufzeichnungen liegen im Dunkeln.
Die Staatsanwaltschaft hat im Laufe ihrer Ermittlungen den Inlandsgeheimdienst ABW beauftragt, die Aufzeichnungen als Beweisstücke in der Redaktion der Zeitschrift zu sichern. „Wprost“-Journalisten hatten dies zunächst mit der Begründung verweigert, die Quelle schützen zu müssen. Die spektakuläre Aktion der Durchsuchung von Redaktionsräumen wurde dann schließlich vor laufenden Kameras durchgeführt, mit theatralischen Auftritten des Chefredakteurs Latkowski und Profilierungsversuchen von politischen Hinterbänklern. Journalisten fast aller Medien und Redaktionen solidarisierten sich mit ihren „Wprost“-Kollegen und dem vermeintlichen Attentat auf die Pressefreiheit.
Reaktionen in Polen
Premierminister Tusk hat seit Beginn der Affäre betont, dass für die illegalen Abhöraktionen eine organisierte Gruppe verantwortlich sein müsse. Die Aktionen zielten weniger auf die regierende PO ab, sondern hätten die Destabilisierung und Lähmung des polnischen Staates während einer Umbruchsituation in Europa und in der Ukraine zum Ziel. Die Ermittlung von Hintergründen und Urhebern habe Vorrang vor personellen Konsequenzen in der Regierung. Unabhängig davon entschuldigte sich Tusk für seine Minister, nicht zuletzt zeigte er sich auch betroffen über deren grobe Sprache. Insgesamt argumentiert Premier Tusk, dass das Abhören illegal sei, dass unbekannte Täter kein Drehbuch für das Schicksal des Landes schreiben dürften und dass die in privater Atmosphäre besprochenen Szenarien schließlich nie Realität angenommen hätten.
Die oppositionelle PiS zeigte sich im bisherigen Verlauf der Krise einmal mehr wenig konstruktiv. Man schlug umgehend ein konstruktives Misstrauensvotum und eine „technische“ Ersatzregierung vor, deren Zusammensetzung nach Verhandlungen mit anderen Oppositionsparteien erfolgen sollte.
Es scheint aber derzeit durchaus im Interesse der PiS zu sein, wenn die Regierung möglichst lange im Amt bliebe, in der Hoffnung das weitere Tonbandaufnahmen weitere Minister und PO-Funktionsträger diskreditieren könnten. Die SLD agierte als potentieller Koalitionspartner der PO vorsichtiger und regte an, dass sich Donald Tusk der Vertrauensfrage unterziehen müsse. Twój Ruch, die Partei von Janusz Palikot, betonte die Notwendigkeit von Neuwahlen. Der Koalitionspartner PSL verhielt sich zunächst distanziert, stand dann aber zur Regierungskoalition und unterstützte bei der Vertrauensfrage Donald Tusk.
Staatspräsident Komorowski betonte in seinen Stellungnahmen, er werde stets im Sinne der Verfassung zugunsten einer Stabilisierung der Situation im Lande handeln. Es beunruhige ihn, wie einfach wichtigste Politiker abgehört werden könnten. Auch hat sich der Präsident beeilt zu betonen, dass Amerika ein „enorm wichtiger Verbündeter und Partner“ Polens sei. Es gehe darum, dieses Bündnis „noch weiter zu stärken, und nicht zu schwächen“. Grundsätzlich dürfte Staatspräsident Komorowski mit Blick auf seine mögliche Wiederwahl im kommenden Jahr an einer starken PO gelegen sein.
Die Abhöraffäre hat auch heftige Reaktionen in der Bevölkerung ausgelöst. Umfragen von TNS Polska vom 24. Juni 2014 ergeben, dass 51 Prozent der Polen vorgezogene Parlamentswahlen befürworten, 36 Prozent sind dagegen. Derzeitige Wahlsiegerin wäre nach diesen Umfragen die PiS mit 31 Prozent. Die Bürgerplattform PO würde 24 Prozent bekommen. Weitere Positionen in dieser Umfrage sind: Kongress der Neuen Rechten – 10 Prozent, SLD – 8 Prozent, PSL – 5 Prozent, Twój Ruch – 4 Prozent, Solidarna Polska – 2 Prozent, Polska Razem – 2 Prozent.
Das bisherige Ermittlungsverfahren
Die bisherigen Untersuchungen haben ergeben, dass die Abhöranlagen womöglich durch Restaurantpersonal (von einem Geschäftsführer und einem „Kellnernetzwerk“) installiert wurden. Einer der reichsten Geschäftsleute Polens, Marek Falenta, wurde im Zusammenhang mit den Ermittlungen festgenommen und unter Auflagen wieder auf freien Fuß gesetzt. Der spiritus movens der Abhöraktion ist weiterhin völlig unbekannt, was unterschiedlichsten Spekulationen Tür und Tor öffnet: sie reichen von einer kriminellen Aktion eines „Kellnersyndikats“ zur Erpressung von Geschäftsleuten, wobei die Politiker erst später ins Visier gerieten, bis hin zu einem gezielten Destabilisierungsversuch durch ausländische, womöglich russische Geheimdienste vor dem Hintergrund der Ukraine-Krise und mit dem Ziel einer Schwächung von Polens Einfluss in der EU.
Der vorübergehend verhaftete Geschäftsmann ist durch den Handel mit russischer Kohle und anderen billigen Rohstoffen, die er in Polen vertrieb, reich geworden. Vor einigen Wochen waren fünf Vorstandsmitglieder seiner Firma wegen Betrugs und Geldwäsche in Höhe von 21 Millionen Euro festgenommen worden. Ob sich hieraus eine weitere Ermittlungsspur ergibt, bleibt abzuwarten.
Schadensbilanz und Ausblick
Die positiv beantwortete Vertrauensfrage von Donald Tusk hat zum jetzigen Zeitpunkt die Regierungskoalition gestärkt und das Szenario vorgezogener Parlamentswahlen bereits im kommenden Herbst zunächst abgewendet. Neue Entwicklungen in der Abhöraffäre oder ein durch die parlamentarische Geschäftsordnung angesichts knapper Mehrheitsverhältnisse eingefädelter Überraschungscoup können jedoch jederzeit für (unangenehme) Überraschungen sorgen. Der Schaden für die Regierungspartei PO ist schon jetzt beträchtlich. Sie fiel in kürzester Zeit in den Umfragen um sieben Prozentpunkte und verlor den Boden, den sie mit den Ergebnissen der Europawahl wieder gewonnen zu haben schien, gänzlich.
Inhalte und Sprache der mitgeschnittenen Gespräche werden unabhängig von der Unrechtmäßigkeit der Aktionen in der polnischen Öffentlichkeit noch lange negativ mit der PO verbunden bleiben. Die in die Diskussion geratenen Protagonisten der Gespräche erscheinen als Inkarnation arroganter und unzivilisierter Vertreter einer politischen Klasse, von der sich zahlreiche Polen immer mehr glauben abwenden zu müssen. Dadurch gewinnt die PiS womöglich dauerhaft an Auftrieb und die nationalanarchistische Antisystemgruppierung „Kongress der Neuen Rechten“ von Janusz Korwin-Mikke wird womöglich den Einzug in den nächsten Sejm schaffen.
Die polnischen Sicherheitsdienste erscheinen angesichts der Abhöraffäre als kompromittiert und nicht in der Lage, die Staatssicherheit zu gewährleisten. Auch dies wird der nationalkonservativen Opposition Wahlkampfmunition liefern.
Die regierende Bürgerplattform kann in der augenblicklichen Situation eigentlich nur auf drei Dinge hoffen und vertrauen: Zunächst ist dies die sachliche Professionalität und Kompetenz ihres Parteivorsitzenden und Regierungschefs, dessen Integrität bisher von niemandem in Zweifel gezogen wird und dem man zutrauen kann, die aktuelle Krise zu meistern. Zweitens bleibt die Hoffnung auf eine möglichst rasche und umfassende Aufklärung der Abhöraffäre und ihrer Hintergründe. Zum dritten könnte es auch sein, dass die Opposition, wie nicht selten in der Vergangenheit geschehen, den Bogen überspannt, eine Überdosis an Hysterie verbreitet, und damit sowohl Wähler abschreckt als auch Nichtwähler neu für die PO mobilisiert.
Dem politischen Polen stehen nach den Sommerferien in jedem Fall spannende Monate bevor.