Veranstaltungsberichte
Heute ist der 8. Mai. Heute vor 60 Jahren hat der Parlamentarischen Rat der drei westlichen Besatzungszonen in Deutschland, dessen Mitglieder von den Landesparlamenten gewählt worden waren, das Grundgesetz, die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland beschlossen. In diesem Grundgesetz hat damals das deutsche Volk, soweit es dazu die Freiheit hatte, „im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen,“ wie es in der Präambel heißt, die wesentlichen staatlichen Wert- und Systementscheidungen festgelegt. Gleich am Anfang dieser Verfassung stehen die Grundrechte beginnend mit dem Hinweis auf die Menschenwürde jedes Menschen, die unantastbar ist. Mit diesem Grundgesetz, das ursprünglich als eine Art „Notbau“ nur für eine Übergangszeit bis zur deutschen Wiedervereinigung gelten sollte, haben die Verfassungsväter und -mütter grundsätzliche Lehren aus der Katastrophe der totalitären nationalsozialistischen Herrschaft und dem Zweiten Weltkrieg gezogen.
Dieser verhängnisvolle und von Deutschland ausgehende Weltkrieg ist bekanntlich ebenfalls an einem 8. Mai vor nunmehr 64 Jahren, am 8. Mai 1945 mit der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands zu Ende gegangen. Deutschland war besiegt, aber zugleich auch befreit: befreit von dem nationalsozialistischen Regime, dem so genannten „Dritten Reich“, das 1000 Jahre dauern sollte und in nur 12 Jahren ganz unvorstellbare Verbrechen beging und die Welt mit einem Eroberungs- und Vernichtungskrieg überzog. Der spätere erste Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, Theodor Heuss beschrieb diese Situation in der Debatte des Parlamentarischen Rates am 8. Mai 1949 mit den berühmten Worten: „Im Grunde genommen bleibt dieser 8. Mai 1945 die tragischste und fragwürdigste Paradoxie der Geschichte für jeden von uns. Warum denn? Weil wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind.“
Für diejenigen allerdings, die in Europa von Sowjetrussland von der Geißel der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft „erlöst“ wurden, ging die Tragik weiter. Für sie war das Kriegsende nur der Übergang von einer Diktatur in eine andere. Sie hatten erst ab 1989 die Chance, in Freiheit zu leben und eine Demokratie aufzubauen bzw. im Falle Deutschlands eine Demokratie mitzugestalten. Das dürfen wir nicht vergessen, verschweigen oder beschönigen.
Bundespräsident Richard von Weizsäcker zog vier Jahrzehnte später 1985 zum 40. Jahrestag des Kriegsendes in einer ebenfalls berühmten Rede vor dem Deutschen Bundestag folgendes Fazit:
„Bei uns in Deutschland ist eine neue Generation in die politische Verantwortung hereingewachsen. Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, was damals geschah. Aber sie sind verantwortlich für das, was in der Geschichte daraus wird. (…)“. Weizsäcker führte weiter aus:
„Wir lernen aus unserer eigenen Geschichte, wozu der Mensch fähig ist. Deshalb dürfen wir uns nicht einbilden, wir seien nun als Menschen anders und besser geworden. Es gibt keine endgültig errungene moralische Vollkommenheit - für niemanden und kein Land! Wir haben als Menschen gelernt, wir bleiben als Menschen gefährdet. Aber wir haben die Kraft, Gefährdungen immer von neuem zu überwinden.
Hitler hat stets damit gearbeitet, Vorurteile, Feindschaften und Haß zu schüren. Die Bitte an die jungen Menschen lautet: Lassen Sie sich nicht hineintreiben in Feindschaft und Haß (…). Lernen Sie, miteinander zu leben, nicht gegeneinander. Lassen Sie auch uns als demokratisch gewählte Politiker dies immer wieder beherzigen und ein Beispiel geben. Ehren wir die Freiheit. Arbeiten wir für den Frieden. Halten wir uns an das Recht. Dienen wir unseren inneren Maßstäben der Gerechtigkeit. Schauen wir am heutigen 8. Mai, so gut wir können, der Wahrheit ins Auge.“ Soweit Richard von Weizsäcker.
Doch was ist diese historische Wahrheit, von der auch Prof. Władysław Bartoszewski immer wieder betont, sie bilde die Grundlage der Beziehungen zwischen Deutschland und Polen im gemeinsamen Europa, und sie sei die notwendige Voraussetzung eines ehrlichen Dialoges? Kann es angesichts der unterschiedlichen individuellen Erinnerungen und Belastungen, angesichts der ebenfalls unterschiedlichen kollektiven Erinnerungskulturen und Geschichtspolitiken in Deutschland, in Polen und in Europa eine gemeinsame historische Wahrheit überhaupt geben?
Und wie lässt sich eine gemeinsame europäische Erinnerungskultur erarbeiten, die das Fundament für eine Darstellung der Geschichte in einem Haus der Europäischen Geschichte bilden könnte?
Über diese Fragen können wir heute mit Experten aus Wissenschaft, Kultur und Politik diskutieren.
Wie schwierig und politisch schädlich diese Diskussionen werden können, hat der jüngste Streit um die CDU-Bundestagsabgeordnete und Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, gezeigt, die einen Sitz im Beirat der neuen Bundesstiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ einnehmen sollte, der nun erst einmal leer bleibt, wegen der Ablehnung durch die SPD in Deutschland und die polnische Regierung. Dass einer der maßgeblichen Initiatoren dieses deutschen Gedenkprojektes am Ende nicht beteiligt sein soll, ist für viele Menschen in Deutschland gerade bei den Hauptbetroffenen, den Vertriebenen, ganz unverständlich. Andererseits wird es in Polen weithin sogar als ein Skandal verstanden, dass Frau Steinbach im Beirat dieses Gedenkprojektes sitzen soll.
So hat die deutsch-polnische Selbstvergewisserung im Erinnerungs- und Gedenkjahr 2009 also zunächst einmal mit einer heftigen Auseinandersetzung begonnen, die zu einem handfesten diplomatischen Konflikt wurde und in Deutschland bei nicht wenigen Menschen zur Verärgerung führte.
Trotz dieses Konfliktes bin ich jedoch optimistisch und guter Hoffnung, dass wir uns mit dem notwendigen historischen Sachverstand und Unterscheidungsvermögen der historischen Wahrheit im Sinne einer gemeinsamen Sicht der Dinge annähern werden - auch angesichts der belastenden Erinnerungen, die wir mit uns tragen.
Ich bin deshalb optimistisch, weil Geschichte ein Teil der Wissenschaft ist. Historiker sind Wissenschaftler und gehören zur scientific community. Das bedeutet, die Aussagen der Historiker sind nicht einfach subjektive Meinungen oder Überzeugungen, sondern sie stellen sich unter den Anspruch einer gewissen Objektivität. Sie haben den Anspruch eben historische Wahrheit zu enthalten. Sie müssen nachvollziehbar, verifizierbar, vermittelbar, kommunizierbar sein. Historiker verfügen über ein professionelles Testverfahren: die Überprüfung an den Quellen. Und die Historiker müssen sich mit ihren Ergebnissen, den Geschichten, die sie präsentieren, dem kritischen Dialog in ihrer scientific community und darüber hinaus stellen. Es ist diese regulative Idee der Objektivität, die Hoffnung macht, dass wir die zunächst natürliche, immer schon gegebene Standortgebundenheit des Geschichtsverständnisses überwinden und zu einer grenzüberschreitenden, völkerüberschreitenden gemeinsamen Sicht des Vergangenen kommen können.
Doch Erinnerung und Erinnerungskultur sind mehr als historische Wissenschaft. Gerade bei der Erinnerungskultur kommt auch dem Staat eine Verantwortung zu. Ich meine, der freiheitlich demokratische Rechtsstaat sollte auch bezüglich der historischen Erinnerung für kulturelle Freiheit und Pluralität eintreten, statt staatliche Geschichtspolitik zu betreiben.
Andererseits entwickelt sich aber natürlich die Erinnerungskultur nicht in einem politikfreien Raum. Sie wird vielmehr von politischen Debatten beeinflusst. Wie Erinnerung präsentiert wird und wozu sie präsentiert wird, das hängt beides miteinander zusammen. Und das gemeinsame Sich-Erinnern hängt wiederum mit der Tatsache zusammen, dass wir in einer Gemeinschaft zusammenleben, in einer nationalstaatlichen und einer europäischen Gemeinschaft.
Insofern sind Erinnerung und Erinnerungskultur hoch politisch. Sie sind umso mehr politisch, als jede Gegenwart dazu neigt, die historische Wahrheit neu zu sehen. Historische Wahrheit selbst hat eine Geschichte.
Zudem vergeht Vergangenheit nicht einfach. Sie hat ihre Wirkungen, die manchmal ganz unverhofft wieder zu Tage treten. Was einmal geschehen ist, kann nicht ungeschehen gemacht werden und wirkt in die Gegenwart. Gerade Menschen, die persönlich unter Unrecht zu leiden hatten, wollen Genugtuung und eine gesellschaftliche Anerkennung ihres Leidens.
Vor diesem Hintergrund macht uns nur die Annerkennung dessen, was geschehen ist, ohne die Tatsachen zu frisieren oder zu drapieren, also eine nach Objektivität strebende Geschichte frei für die Möglichkeit der Zukunft. Nur wenn die Geschichte frei ist davon, gesellschaftlichen Zwecken, politischen Interessen direkt dienen zu müssen, kann sie ihre eigentliche Aufgabe, die Verfolgung der unverzerrten Wahrheit über die Vergangenheit erfüllen. Gerade in dieser Freiheit dient Geschichte der Gesellschaft.
Wird sie jedoch geschichtspolitisch verzweckt und politisch unter Kuratel gestellt, dann wiederholt Geschichte nur die sowieso vorhandenen Vorurteile. Sie vergewaltigt nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Zukunft, indem sie die jeweilige politische Gegenwart zu zementieren versucht. Geschichte verliert darüber am Ende ihre Orientierungsmacht. Insofern ist die parteiliche Geschichte, eine Geschichte unter dem Diktat einer nicht pluralen, einer unfreiheitlichen, einer doktrinären Geschichtspolitik ein politisches Schwert, das bald stumpf wird. Diesen Zusammenhängen mögen all jene nachdenken, die aus politischen Gründen so vehement für eine klar definierte „nationale Geschichtspolitik“ eintreten.
Deshalb ist es ungemein wichtig, die Debatten um die Geschichte und die Erinnerungskultur ohne Scheuklappen mit möglichst großen historischen wie auch politischen Sachverstand und vor allem in aller Freiheit zu führen.
Das wollen wir heute versuchen.