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Interviews

Jetzt und schnell oder nie!

Ein Interview mit Dr. h. c. Johannes Gerster

Teil der Interview-Reihe "Krise als Chance"

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Dr. h. c. Johannes Gerster

Konrad-Adenauer-Stiftung:

Vor 30 Jahren wurde Deutschland auf friedliche Weise wiedervereinigt. Sie waren damals Bundestagsabgeordneter und innenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Wenn Sie Ihr persönliches Empfinden für das, was der 3. Oktober 1990 erinnert und symbolisiert, in einem Satz zusammenfassen müssten – wie würde er lauten?

Dr. h. c. Johannes Gerster:

Deutschland ist wiedervereinigt – jetzt geht es um den Innenausbau, der genau so viel Kraft und Einsatz erfordern wird.

Konrad-Adenauer-Stiftung:

Unsere Interview-Reihe trägt den Titel „Krise als Chance“. Machen Ihre Erfahrungen als Mitwirkender an der deutschen Wiedervereinigung Sie zuversichtlich mit Blick auf aktuelle Herausforderungen, auf zukünftige Transformationsprozesse in Europa und der Welt und auf die weltweite Zukunft von Demokratie und Rechtstaat?

Dr. h. c. Johannes Gerster:

Die Fragestellung war 1989/1990 einfacher. Die DDR war politisch, wirtschaftlich und finanziell pleite. Sie konnte den Lebensstandard der Bundesrepublik nur durch die Vereinigung mit ihr erreichen. Die Überwindung der Folgen der aktuellen Corona-Krise ist dagegen vielfältiger. Die Wirtschaft muss wieder flott gemacht werden und zugleich müssen die aus dem Ruder laufenden Finanzen saniert werden. Ebenso muss das digitale Zeitalter erst noch erreicht und unsere Umwelt gerettet werden. 1989/1990 zogen die Menschen in Ost und West den Vereinigungszug mit. Zur Überwindung der Corona-Krise müssen die Menschen erst noch gewonnen werden.

Konrad-Adenauer-Stiftung:

Gerade ist Ihr Buch „Die Wiedervereinigung 89/90 – ich war mittendrin“ erschienen*. Darin beschreiben Sie Ihre Erlebnisse und Erfahrungen, geben einen Einblick, was hinter den Kulissen geschah und rufen in Erinnerung, was auf dem Spiel stand. Warum haben Sie gerade jetzt, dreißig Jahre später, dieses Buch geschrieben?

Dr. h. c. Johannes Gerster:

Weil sich nach drei Jahrzehnten, falls die Wiedervereinigung überhaupt noch eine Rolle spielt, merkwürdige Mythen, realitätsferne Erinnerungen und Falschinformationen in den Köpfen mancher Zeitgenossen festgesetzt haben. So meinen die einen, die Wiedervereinigung sei von selbst gekommen, andere sprechen vom gewaltsamen Anschluss der DDR an die Bundesrepublik, dritte, wie der Rammstein-Keyboarder Lorenz, verkünden, im Großen und Ganzen sei die Wiedervereinigung in dieser Form eine Sauerei gewesen. Ohne dass nur ein Schuss gefallen ist, wurde Deutschland mit der Zustimmung der ganzen Welt vereinigt und Europa weitgehend zusammen geführt. Das kommt auch nachträglich einem Wunder gleich, das allerdings hart erarbeitet werden musste. Genau diesen Hindernislauf in atemberaubender Geschwindigkeit beschreibe ich in meinem Buch.

Konrad-Adenauer-Stiftung:

Bundeskanzler Helmut Kohl erklärte 1995, dass zahlreiche Grundentscheidungen dieser aufregenden Zeit Ihre Handschrift tragen. Wie sehr haben Sie damals, während dieses „Hindernislaufs in atemberaubender Geschwindigkeit“ gespürt, dass Sie an einer historischen Weichenstellung mitwirken? Oder anders gefragt, wann wurde Ihnen persönlich klar, dass Sie in einem der vielleicht bedeutsamsten und zugleich kürzesten Zeitfenster in der Geschichte Deutschlands, Europas und der ganzen Welt operiert haben?

Dr. h. c. Johannes Gerster:

Ab März 1990 wusste ich, dass wir den höchsten Gang einlegen mussten, um noch mit Michael Gorbatschow und vor dem Zerfall der UdSSR, die Einheit zu vollenden. Jetzt und schnell oder nie!

Konrad-Adenauer-Stiftung:

Wo waren Sie am Abend des 9. November 1989, als völlig überraschend und unerwartet die Mauer in Berlin geöffnet wurde?

Dr. h. c. Johannes Gerster:

Ich saß auf Einladung des Flüchtlingsbeauftragten der Vereinten Nationen, Walter Koisser, u. a.  mit einem Bundeswehrgeneral, einem Bischof, einem Großunternehmer, einem Gewerkschaftsvorsitzenden und dem israelischen Botschafter Benyamin Navon zusammen, als ein Anrufer Koisser aufforderte, den Fernseher anzumachen. Die Bilder aus Berlin und später aus dem Bundestag, als meine Abgeordnetenkollegen nach der Mitteilung über die Öffnung der Mauer spontan die Nationalhymne sangen, machten mich sprachlos glücklich. Navon, der einige Zeit die Runde verlassen hatte, kam zurück und teilte mit, er habe den israelischen Außenminister Moshe Arens über die Vorgänge in Berlin unterrichtet. Israel freue sich über die neuen Freiheiten der DDR-Bürger, sei aber besorgt beim Gedanken an eine Wiedervereinigung und an ein neues Großdeutschland. Plötzlich war ich doppelt sprachlos. Ein Israeli sprach, als niemand wusste, was die Öffnung der Mauer bringen werde, spontan von Wiedervereinigung. Auf Bitten von Helmut Kohl war ich bereits 10 Tage später in Israel, um unsere dortigen Freunde für die deutschen Interessen zu gewinnen. Israel stimmte nach zwei weiteren Israelbesuchen Mitte 1990 der Wiedervereinigung zu.

Konrad-Adenauer-Stiftung:

Was waren die Haupthindernisse auf dem Weg zur Wiedervereinigung?

Dr. h. c. Johannes Gerster:

Uns war sofort klar: Der Schlüssel zur Widervereinigung lag in Moskau. Zugleich musste die Zustimmung unserer Freunde in der damaligen Europäischen Gemeinschaft und in der Nato gewonnen werden. US-Präsident George Bush war sofort für die Vereinigung Deutschlands unter der Bedingung, dass Gesamtdeutschland Mitglied der Nato sein werde.  Der Präsident der UdSSR, Michael Gorbatschow, konnte für die Wiedervereinigung gewonnen werden, aber zunächst nicht für ein Gesamtdeutschland in der Nato. Hier rasten zwei Züge aufeinander zu. Schließlich konnte die Zustimmung Gorbatschows zur Nato-Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands im wahrsten Sinne des Wortes erkauft werden. Weder die britische Premierministerin Magret Thatcher noch Frankreichs Präsident Francois Mitterrand wollten die Vereinigung. Als die USA und die UdSSR gewonnen waren, wollten sie den Vereinigungszug noch verzögern, stoppen konnten sie ihn aber nicht mehr.

Konrad-Adenauer-Stiftung:

Und wo lagen Ihrer Meinung nach die größten „innenpolitischen“ Hürden?

Dr. h. c. Johannes Gerster:

Die Bürgerrechtsbewegungen in der DDR, die mit ihren großartigen Demonstrationen die Öffnung der Mauer erzwungen hatten, waren zunächst mehrheitlich für eine Reform des abgewirtschafteten SED-Staates und keinesfalls für die Wiedervereinigung. Dreiviertel der befragten DDR-Bürger hatten sich noch im Dezember 1989 gegen eine baldige Vereinigung der DDR mit der Bundesrepublik ausgesprochen. Dann kam die berühmte Rede von Helmut Kohl am 19. Dezember 1989 vor der Ruine der Frauenkirche in Dresden vor 20.000 Teilnehmern. Auf Ihre Rufe „Deutschland, Deutschland, Deutschland“ und „Wir sind ein Volk“ sagte Kohl über sein Redemanuskript hinaus: „Mein Ziel bleibt, wenn die geschichtliche Stunde es zulässt, die Einheit unserer Nation.“ Der Jubel erreichte den letzten Winkel der Welt und von dieser Stunde an war klar: Jetzt geht es um die Einheit Deutschlands! Das SED-Regime war abgewirtschaftet, die alten Stasikader plünderten landesweit die Stasidienststellen und schoben sich gegenseitig deren Grundvermögen zu, es herrschte Chaos in der DDR. Vom 9. November 1989 bis Ende Januar 1990 hatten 300.000 Bürger die DDR verlassen. Wie viele andere half ich beim Aufbau neuer Parteien in der DDR. Bereits am 18. März wurde die erste freie Volkskammer gewählt. Die CDU fuhr mit ihren Partnern Demokratischer Aufbruch (DA) und der Deutschen Sozialen Union (DSU) einen glänzenden Wahlsieg ein, obwohl fünf Tage vor der Wahl der DA-Vorsitzende Wolfgang Schnur als Stasi-Spitzel enttarnt worden war. Lothar de Maiziere (CDU) wurde Ministerpräsident und die Bundesrepublik überwies der zahlungsunfähigen DDR 14 Milliarden DM als Soforthilfe.

Konrad-Adenauer-Stiftung:

Wie haben Sie die Reaktionen der Menschen in der ehemaligen DDR empfunden? Haben Sie gespürt, wie Vertrauen und Zuversicht wuchsen?

Dr. h. c. Johannes Gerster:

Die total verunsicherten Menschen in der DDR erklärten unisono: Entweder kommt die DM zu uns oder wir kommen zur DM. Gegen die Bedenken u. a. der Bundesbank wurde  DM-Ost für laufende Einkommen eins zu eins auf DM-West umgestellt, die Staatswirtschaft wurde in eine Marktwirtschaft umgewandelt. 7894 volkseigene Betriebe mit 40% aller Arbeitskräfte und 50% der Grundflächen der DDR wurden privatisiert oder mussten als sanierungsunfähig geschlossen werden. Das hohe westliche Sozialniveau wurde in den Osten übertragen.  Die DDR hatte dreimal so viele öffentliche Bedienstete wie das gleich große Nordrhein-Westfalen. Also musste der Staatsapparat abgespeckt und der westliche Standard im öffentlichen Dienst eingeführt werden. Viele Menschen in der DDR erfuhren erstmals das schlimme Schicksal der Arbeitslosigkeit. Dennoch wuchs langsam das Vertrauen in das neue System und die Zahl der „Auswanderer“ nahm ab.

Konrad-Adenauer-Stiftung:

Wie entgegnen Sie, wenn Sie gefragt werden, warum damals keine neue gesamtdeutsche Verfassung beraten und dem Volk zur Abstimmung vorgelegt wurde?

Dr. h. c. Johannes Gerster:

 Zum einen, weil es keine Zeit für einen solchen langen Prozess gegeben hat. Die DDR war pleite. Die UdSSR war im Zerfall begriffen. Jeder wusste, dass die Wiedervereinigung nur mit Michael Gorbatschow zu machen war und dessen politisches Ende war absehbar. Helmut Kohl sagte einmal im kleinen Kreis: Wir müssen die Ernte einfahren, bevor das Gewitter kommt. Mit Jelzin oder gar Putin hätte es keine Wiedervereinigung gegeben. Der heute noch erhobene Vorwurf, die Menschen in der DDR hätten nicht über die Vereinigung abstimmen können, kann leicht widerlegt werden: Bei den Volkskammerwahlen, den Kommunalwahlen, den Landtagswahlen und den ersten gesamtdeutschen Wahlen, alle im Jahre 1990, haben jeweils die Parteien gewonnen, die den zügigen Beitritt zur Bundesrepublik und zum Geltungsbereich des Grundgesetzes anstrebten – Parteien also, die entsprechende Politik Helmut Kohls unterstützt haben. Deutlicher hätte kein einmaliges Plebiszit zu einer neuen Verfassung ausfallen können.

Konrad-Adenauer-Stiftung:

Mit der Entscheidung über den Beitritt war aber „die Beer noch nicht geschält“, wie der Volksmund sagt?

Dr. h. c. Johannes Gerster:

Ganz richtig! Jetzt musste erst der Ausbau des gesamtdeutschen Hauses erfolgen. Und da waren gewaltige Probleme zu lösen. Die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges USA, UdSSR, Großbritannien und Frankreich mussten mit den beiden deutschen Staaten den sogenannten Zwei-plus-Vier-Vertrag aushandeln. Dieser brachte Deutschland, 45 Jahre nach Kriegsende, einen Friedensvertrag. Er regelte endgültig die Grenzfrage zwischen Polen und Deutschland, besiegelte die Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands in der Nato und schrieb die Größe der Bundeswehr auf 370.000 Soldaten fest. Auch regelte er die einzelnen Schritte und Daten zur Wiedervereinigung. In beiden deutschen Parlamenten wurde mit qualifizierten Mehrheiten im Einigungsvertrag beispielsweise die Neuordnung des staatlichen Grundeigentums in der DDR, die Öffnung der Stasiunterlagen nach strengen Datenschutzregeln für die Opfer des DDR-Systems, die Presse und die Wissenschaft, die Zusammensetzung des Bundesrates mit fünf neuen Ländern und der Erweiterung des Bundeslandes Berlin um den Osten der Stadt, den künftigen Finanzausgleich zwischen dem Bund und den neuen Ländern, ein neues Wahlrecht und vieles andere mehr beschlossen.

Konrad-Adenauer-Stiftung:

Im Rückblick beinahe unvorstellbare Mammutaufgaben, die zwischen dem 9. November 1989 und dem 3. Oktober 1990 bewältigt wurden…

Dr. h. c. Johannes Gerster:

Ja, in den 11 Monaten zwischen der Öffnung der Mauer und dem Tag der Deutschen Einheit wurden 20.000 Gesetze und Rechtsverordnungen neu geschaffen, geändert oder gestrichen. Das alles lief auf internationaler und nationaler Ebene nicht selten auch mit der dezidierten Haltung einzelner Akteure: Wenn das nicht kommt, stimmen wir nicht zu.

Konrad-Adenauer-Stiftung:

Doch am Ende stand sie: die breite Zustimmung. Mit welchem Gefühl blicken Sie heute, im Jahr 2020, auf die Herausforderungen, Erwartungshaltungen, Aufgaben und Prozesse dieser 11 Monate zurück?

Dr. h. c. Johannes Gerster:

 Der Weg zur Wiedervereinigung lief viel besser und deutlich schneller als es irgendjemand, zumal vor der Öffnung der Mauer, für möglich gehalten hätte. Das heißt natürlich nicht, dass keine Fehler und alles richtig gemacht wurde. Mein Buch beschreibt den Hindernislauf auf dem Weg zur Deutschen Einheit – sehr persönlich erlebt und nichts beschönigend. Insgesamt bleibt für mich stehen: Es war gut – gut, dass es war.

 

 

* Johannes Gerster: „Die Wiedervereinigung 89/90 – Ich war mittendrin“, Leinpfad Ingelheim, 2020, ISBN 978-3-945782-63-7

 

 

Die Fragen stellte Philipp Lerch.

Das Interview fand Ende Juni 2020 statt.

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Landesbeauftragter und Leiter Politisches Bildungsforum Rheinland-Pfalz

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Über diese Reihe

In unserer Reihe "Interviews" werden Gespräche und Diskussionen mit Expertinnen und Experten der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. zu unterschiedlichen Themen geführt.