Am 1. Juni 2023 trafen sich Mitglieder des Netzwerks Nachwuchskräfte Städtebau und interessierte Fachleute digital zu einem Austausch über die Mobilitätswende. Das Netzwerk besteht aus Nachwuchskräften unterschiedlicher Disziplinen und Mitgliedern, die in der Kommunalpolitik, in der Verwaltung oder anderen Institutionen mit Städtebau befasst sind. Vergangenen November fand in Frankfurt im Rahmen einer Tagung zur Nachhaltigkeit im Städtebau das Gründungstreffen des Netzwerks statt. Das Netzwerk, eine Kooperation zwischen dem Deutschen Institut für Stadtbaukunst und der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., ist dynamisch und offen für neue Interessierte und setzt sich je nach Themenschwerpunkt unterschiedlich zusammen. Das anderthalbstündige Meeting bereicherten diesmal zwei Impulsgeber mit je 15-minütigen Beiträgen.
Michael Milde, Abteilungsleiter Mobilitätsplanung beim Amt für Mobilität und Tiefbau der Stadt Münster, konnte in seinem Impuls mit Münster, einer der fahrradfreundlichsten deutschen Städte mit einem Radverkehrsanteil von 47 Prozent, zahlreiche Beispiele zum Thema Mobilitätswende beibringen. Simon Wöhr, „Kulturarbeiter“ und Mitgründer von paper planes e.V., einer Berliner Denkfabrik für ein besseres Leben zwischen den Häusern, nahm die 31 Teilnehmenden mit auf eine Reise in ein Zukunftsszenario der autobefreiten öffentlichen Räume. Wöhr skizzierte zahlreiche alternative Potenziale, die im öffentlichen Raum entfaltet werden könnten, wenn der Straßenverkehr minimiert würde und Autos nicht überall parken dürften.
Die Diskussion entfaltete sich im Chat und im Gespräch, wobei insgesamt großes Verständnis für ein Umdenken der Nutzung öffentlicher Räume bestand und Teilnehmende den Wunsch nach einer Neugestaltung der Rahmenbedingungen von Mobilität äußerten. Die kritische Betrachtung des motorisierten Individualverkehrs stieß auf breite Zustimmung, allerdings kollidiert dieser Wunsch mit der immer noch nicht zufriedenstellend gelösten Frage der Mobilität in ländlichen Räumen bzw. Pendlerströmen von Stadt und Umland.
Wo steht der Kühlschrank? Auch nicht auf der Straße! Wie gelingt es, den Raum, der allen gehört, in eine neue Balance zu bringen?
Die Teilnehmenden überzeugte die Notwendigkeit, die Gestaltung und Wertigkeit des öffentlichen Raumes zu hinterfragen, zu diskutieren und neu zu denken. Wie könnte dieser öffentliche Raum anders genutzt werden? Eine mögliche Antwort: Nur Mut! Manches bleibe, wenn man bereit sei, auch Prozesse zu verlieren und das Anliegen vorher gut erkläre. Mancher klage nicht, wenn es genügend Nachbarn gut fänden, lauteten pragmatisch-mutige Antworten der Netzwerk-Runde.
Nicht nur in die Zukunft schauen: Konkretes schon heute versuchen
Michael Milde bestätigte die grundsätzliche Einigkeit bezüglich der Debatten über eine notwendige Mobilitätswende. Die Unterschiede lägen beim Weg dorthin: Was muss wann durch wen erreicht werden? Er forderte Ehrlichkeit und möchte nicht erst ins Übermorgen schauen, sondern direkt loslegen und auch kurzfristige Maßnahmen umsetzen. Er betonte die Notwendigkeit einer intensiven Kommunikation und Beteiligung, die auch eine Übersetzung der Planungssprache erfordere. Die direkt Betroffenen müssten frühzeitig mitgenommen werden, damit der Prozess gelinge. Der öffentliche Raum müsse wieder zum Begegnungsraum werden. Wenn ein Großteil der Fläche durch Autos belegt sei, dann sei der öffentliche Raum dort fehlbesetzt, teuer und nicht nutzbar, so Milde. In Anlehnung an die Städteinitiative, die bereits 791 Kommunen mitzeichneten (Stand: 16. Juni 2023), forderte der erfahrende Verkehrsplaner die Novellierung der Straßenverkehrsordnung, um Spielraum an Kommunen zurück zu geben. Für die Einführung von Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit spreche weniger die Hoffnung auf weniger CO2-Ausstoß als vielmehr die Verbesserung der Lebensqualität und Sicherheit in den Kommunen.
Umland mitdenken und nicht nur mit urbaner Brille planen
„Es braucht Mut, zu machen und wir müssen uns auch etwas trauen", lautete der beherzte Appell an alle Teilnehmenden. Milde wies selbstkritisch darauf hin, dass die Lösungen gemeinsam gedacht werden sollten und auch Münster als zweitgrößte Flächenstadt NRWs noch besser Stadtzentrum und Umland zusammendenken müsse. Zu oft dominiere die urbane Brille, dabei gelte es, auch die öffentlichen Verkehrsangebote, u.a. durch eine höhere Taktung, zu verbessern und Pendelangebote zu schaffen; die Erfordernisse seien im Umland völlig andere.
Münster suche weiterhin nach guten Lösungen für die enormen Pendlerströme. Der Masterplan Mobilität 2035 +, den Münster derzeit in einem partizipativen Prozess erarbeitet, hat zum Ziel, mittel- bis langfristig das Verkehrsgeschehen zu ändern und hierbei nicht nur bis zur Stadtgrenze zu denken (Stichwort Modal Split/Verkehrsmittelwahl). Insgesamt spüre auch Münster den derzeitigen Fachkräftemangel und sehe angesichts der Herausforderungen, die Kommunen meistern müssen, weniger fehlende finanzielle als personelle Kapazitäten. Der Münsteraner Abteilungsleiter warb mit Verve für ein berufliches Engagement in Kommunalverwaltungen.
Straßen von Autos befreien
Simon Wöhr führte den Teilnehmenden in seinem augenöffnenden Vortrag aus der Komfort-Zone der Gegenwart heraus und zeichnete die Vision eines autobefreiten öffentlichen Raumes. Der Stadtraumentwickler stellte die sieben Thesen des Manifests der freien Straßen vor, den die Denkfabrik paper planes e.V., Mobilitätsforschende am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und Beteiligungsexpertinnen und -experten der Technischen Universität (TU) Berlin entwickelt haben. „Wir leben in einer Absurdität“, so eine der zahlreichen wachrüttelnden Aussagen des Vortrags, der die Teilnehmenden zum Nachdenken anregte. Das Manifest sieht den Raum vor der Haustür als Chance und plädiert dafür, die autogerechte Stadt abzuschaffen und den öffentlichen Raum wieder als sozialen Raum und für eine aktive Nachbarschaft zu nutzen. Die sieben Thesen beziehen sich auf die Bereiche Beteiligung, Mobilität, Gesundheit, Wirtschaft, Klima, Nachbarschaft und Politik. Die Hauptaussage: „Verändern wir Straße, verändern wir Gesellschaft“. Natürlich müsse gewährleistet werden, dass Menschen, die wirklich auf ihr Auto angewiesen sind, das auch weiterhin nutzen könnten. Das gelinge jedoch nur, wenn Flächen frei würden, die derzeit mit nicht genutzten Autos belegt seien: Nach Recherchen der Autorinnen und Autoren des Manifests parkt statistisch ein privates Auto durchschnittlich 23 Stunden täglich, und zwar die meiste Zeit vor der eigenen Haustür.
Appell an die Experimentierfreude
Die Diskussion endete mit dem Appell, Mut zu haben, einfach mit der Umsetzung loszulegen, da es auch auf kurzfristige Lösungen ankomme und nicht nur auf die langfristige Planung. Insgesamt müsse es darum gehen, zu experimentieren, zu wagen, zu probieren und dabei die Bedarfe der Bürgerinnen und Bürger einzubeziehen. Es brauche Menschen mit innovativen Ideen und die mit Erfahrungen aus der Praxis, unterstrich Ulrike Berendson, Geschäftsführerin des Deutschen Institut für Stadtbaukunst, mit Blick auf das Kernziel des Netzwerks Nachwuchskräfte Städtebau, das eben genau diese Verknüpfung und Kombination fördert.
Mobilitätswende und Klimaresilienz gehören zusammen
Die Herausforderung, Mobilität zukunftsfest zu gestalten, berührt viele große Fragen, die Kommunen heute und morgen lösen müssen: Klimaresilienz, nachhaltige Stadtentwicklung, Wirtschafts- und Wettbewerbsfähigkeit, Digitalisierung sowie das gesellschaftliche Miteinander. Christoph Jansen, Leiter der KommunalAkademie der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., und Ulrike Berendson kündigten daher mit Vorfreude das für den 30. November bis 1. Dezember geplante nächste Präsenz-Treffen an, das sich mit mehr Zeit und integrierter praxisorientierter Exkursion intensiver mit der Mobilitätswende befassen wird.
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