Das diesjährige Bonner Forum zur Einheit – traditionell im ehemaligen Plenarsaal des Deutschen Bundestages mit knapp 600 Teilnehmenden gut gefüllt und den unveränderten politischen Bürgersinn der alten Hauptstadt vor Augen führend – war keine reine „Feierstunde“ am Tag der Deutschen Einheit. Feiern ohne ein „Aber“ und ohne Verweis auf die beunruhigende Weltlage war dieses Jahr nicht möglich. „Die Zukunft des Westens“ steht auf der Tagesordnung, 2000 km weiter östlich wird sie herausgefordert.
Seit dem 24. Februar, dem Tag der russischen Invasion in die Ukraine, ist alles anders geworden. Aber Norbert Lammert, Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung und Präsident des Bundestages a.D., wies in seiner Begrüßung die zum geflügelten Wort gewordene Aussage von Außenministerin Baerbock, man sei an diesem Tag „in einer neuen Realität wachgeworden“, zurück: „Neu“ sei diese Realität schon viel früher gewesen, 2008 in Georgien, 2014 mit der Invasion der Krim. Man habe lediglich erst jetzt alle Illusionen abgelegt und die Wirklichkeit als neu anerkannt. Getreu der Adenauerschen Aussage, man müsse sich in der Außenpolitik auf die schlimmere Variante zukünftiger Ereignisse einstellen, plädierte Lammert dafür, den Ernst der Lage anzuerkennen und alles dafür zu tun, dass der 3. Oktober ein Tag der Freude über die wiedergewonnene Einheit bleiben kann.
Auch Annegret Kramp-Karrenbauer sprach davon, dass der „Schleier entfernt“ wurde, hinter dem das zunehmend totalitäre und aggressive Russland pastellener erschien, als es brutale Wirklichkeit war. Und sie verband das mit dem stillen, aber nachhaltigen Satz, dass „wir nicht einfach zur Vergangenheit zurückkehren können“. Die Welt habe „sich unwiderruflich verändert“ und „wir müssen das auch tun“. Was heißt das? Im Folgenden zeigte sie ein changierendes Bild: Zwar seien die westlichen Bündnisse NATO und EU prima facie erstarkt, geeint, doch zeigen sich auch sehr unterschiedliche Ansätze eines gemeinsamen entschlossenen Vorgehens. Es gebe ein Momentum, aber es müsse auch genutzt werden, z.B. durch eine höhere Eigenleistung der EU in Verteidigungsfragen, z.B. durch mehr deutsche Verantwortung in der Welt. Oft gefordert, zögert die deutsche Gesellschaft davor. Zu stark ist noch die Sorge, dass größere Verantwortung Militarismus bedeute. Aber Kramp-Karrenbauer plädiert dafür, sich mehr für Freiheit, Menschenrechte und Frieden einzusetzen, „mit Respekt und Achtung“, um „endlich der Welt zurückzugeben, was wir erhalten haben“. Sie endete optimistisch, weil auch die deutsche Gesellschaft mehrheitlich eine freie Welt wolle.
In der anschließenden, von Michael Krons moderierten Diskussion kamen Sicherheitsexpertinnen und ein ranghoher Bundeswehrgeneral dazu. Dr. Ulrike Franke vom European Council on Foreign Relations, Vanessa Vohs von der Universität der Bundeswehr und Generalleutnant Martin Schelleis, Inspekteur der Streitkräftebasis, konnten den allgemeinen Ausführungen konkrete Argumente an die Hand geben. Sie breiteten im Saal den Realismus aus, der vor der „Zeitenwende“ zu wenig erhört wurde: dass die Bundeswehr auch noch nach dem 100 Milliarden Programm einen stetigen Aufwuchs brauche (Schelleis), dass die deutsche Befindlichkeit und Zögerlichkeit in den USA und den mittelosteuropäischen Staaten zunehmend weniger verstanden werde (unisono alle), dass die EU in Verteidigungsfragen viel wolle, aber wenig vermöge (Franke), dass sogar Frankreich dem deutschen Nachbarn aufgrund seines Status als Parlamentsarmee kein entschlossenes Handeln zutraue (Schelleis). Es sei eine ganze Welt des politischen Denkens an ihr Ende gekommen, der Glaube an die Kraft internationalen Rechts und an Verträge, also der Glaube, der in Deutschland die frömmsten Anhänger hat. Vanessa Vohs hält dies für eine „naive Vorstellung“. Und im Hintergrund droht die neue Herausforderung China, das genauso rosarot betrachtet worden ist. Die Expertinnen und Schelleis empfinden diese Zeit als Zeit der Prüfung, in der sich entscheide, wie resilient und verteidigungsfähig der Westen sei.
Und wie geht es weiter? Weil sie Realisten sind, haben alle Podiumsteilnehmenden auf Prophetien verzichtet. Aber Schelleis hält es für möglich, dass der „Schießkrieg“ im nächsten Jahr beendet, ohne dass der Konflikt insgesamt gelöst sei. Putins Schicksal bleibt im Nebel der Zukunft, ob es nach ihm besser werde, ist aber nicht ausgemacht. Man müsse, das sagten sie alle, einen möglichen Waffenstillstand nutzen, um sich als Bundeswehr, als EU, als NATO zu ertüchtigen. Das Zeitalter des Friedens ist unwiderruflich vorbei.
In ihrem Schlusswort griff Dr. Melanie Piepenschneider, Leiterin der Politischen Bildung der Konrad-Adenauer-Stiftung, auf einen Gedanken Helmut Kohls zurück, dessen Einheitswerk schließlich diesen Feiertag ermöglichte: Kohl vertrat immer die Überzeugung, dass die Demokratie nach innen und nach außen wehrhaft bleiben müsse.
Wenn uns das gelingt, so der allgemeine Tenor dieses Nachmittags, dann werden die Tage der Einheit auch wieder unbeschwerter verlaufen können.
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