König statt Königsmacher: Bennett führt Acht-Parteien-Koalition an
Am 13. Juni geschah das für viele Beobachter Unmögliche: Nach zwölf Jahren im Amt und nunmehr der vierten Wahl zur Knesset innerhalb von zwei Jahren verlor Benjamin Netanjahu das Amt des Premierministers. Nachfolger ist ein ehemaliger Weggefährte Netanjahus – Naftali Bennett. Der Vorsitzende des rechten Wahlbündnisses Jamina („Nach Rechts“) ist schon vieles gewesen, manches davon auch geblieben: Soldat, Start-up-Millionär, Likud-Mitglied, Netanjahu-Bewunderer, Siedleraktivist, säkular und religiös.[1] Der politische Gestaltwandler Bennett hat nun den Patrizid gewagt und sich u.a. mithilfe einer arabisch-islamischen Partei ins Amt wählen lassen. Das macht ihn für den Likud, in dem weite Teile Netanjahu weiter treu ergeben sind, und große Teile der politischen Rechten in Israel zur Zielscheibe. Ausgerechnet Bennett, der entschieden für die Annexion großer Teile des Westjordanlandes eintrat und eine Zweistaatenlösung mit den Palästinensern ablehnt, sieht sich nun dem Vorwurf konfrontiert, das rechte Lager „verraten“ und zusammen mit „Terrorunterstützern“ in eine Regierung gegangen zu sein.
Breites Bündnis
Bereits vor der Wahl war klar, dass jede mögliche Regierung auf die Stimmen von Bennetts Jamina angewiesen sein wird, weswegen er sich jede Option bis zum Schluss offenhielt. Seine Jamina konnte lediglich sieben von 120 Sitzen in der Knesset erringen, dennoch führt er die ersten zwei Jahre das Bündnis der Anti-Netanjahu-Koalitionäre an und schwang sich als Juniorpartner damit zum Regierungschef auf. Dagegen stellt Jair Lapids liberale Mitte-Partei Jesch Atid („Es gibt eine Zukunft“) mit 17 von 120 Sitzen die stärkste Fraktion in der neuen Koalition. Am 27. August 2023, das konnten Regierung und Parlamentsmehrheit bereits beschließen, wird Jair Lapid, der aktuell als Außenminister wirkt, das Amt des Regierungschefs übernehmen. Insgesamt gehören zur Koalition acht Parteien, deren einzige Übereinstimmung die Ablehnung der Person Benjamin Netanjahus zu sein scheint. Dieser muss sich u.a. vor Gericht gegen Vorwürfe der Korruption verantworten.
Das ist auch einer der Gründe, warum neben Jamina zwei weitere rechte Parteien der neuen Regierung angehören: Avigdor Liebermans Israel Beitenu („Unser Haus Israel“) sowie Gideon Sa’ars Tikwa Chadascha („Neue Hoffnung“). Sowohl Lieberman als auch Sa’ar sind ehemalige Mitstreiter Netanjahus, beide waren auch Minister in von Netanjahu geführten Kabinetten. Lieberman verließ den Likud bereits in den späten 1990er-Jahren und gründete eine Partei, die vor allem auf die Interessenvertretung der (zum großen Teil säkularen) Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion zielte. Sa’ar hingegen galt lange als starker parteiinterner Gegner Netanjahus und stellte sich einer Kampfkandidatur um den Parteivorsitz gegen „Bibi“ Netanjahu, bevor er im Dezember 2020 die Gründung einer eigenen Partei bekanntgab.
Neben den rechten Parteien gehört der Koalition auch eine zweite Mitte-Partei an. Benny Gantz‘ Wahlbündnis Kachol Lavan („Blau Weiß“) konnte immerhin acht Sitze erzielen, nachdem es von vielen politischen Beobachtern bereits totgesagt wurde. Kachol Lavan galt lange Zeit als stärkster Herausforderer des Likud und konnte bei den Wahlen im September 2019 mehr Sitze gewinnen als Netanjahu. Nachdem Gantz mit ihm allerdings eine Koalition einging, brach seine öffentliche Zustimmung ein und er musste fürchten, mit seinem Bündnis die 3,25%-Hürde zu unterschreiten.
Auch zwei Parteien aus dem linken politischen Spektrum gehören der Koalition an. Die einst stolze Awoda („Arbeit“), die zahlreiche Premierminister Israels stellte, konnte unter ihrer neuen Vorsitzenden Merav Michaeli mit sieben Sitzen immerhin einen Achtungserfolg erzielen, wenngleich sie weit von den ruhmreichen Zeiten der Gründungsjahre Israels entfernt ist. Die grüne Meretz („Tatkraft“) war in den 1990er-Jahren bereits an von Awoda geführten Regierungen beteiligt und setzt sich für „linke“ Wirtschaftspolitik, Umweltpolitik, den Rückzug Israels aus dem Westjordanland und die Gründung eines palästinensischen Staates ein. Allerdings ist das linke Lager gerade deswegen in Israel unter Druck. Den linken Parteien wird von den rechten das Scheitern des Friedensprozesses mit den Palästinensern zugeschoben, weswegen für eine Fortsetzung eines solchen Prozesses aktuell keine Mehrheiten zu organisieren sind.
Die größte Überraschung ist allerdings die Beteiligung der konservativ-islamischen Partei Ra’am („Vereinigte Arabische Liste“) an der Koalition. Nach der Eskalation des Nahostkonflikts im Mai 2021 schien diese Option nahezu aussichtslos. Die inhaltlichen Forderungen der Partei begrenzen sich im Wesentlichen auf die Verbesserung der Lebenssituation der rechtlich zwar nicht diskriminierten aber in vieler Hinsicht sozial benachteiligten israelischen Araber und v.a. der Beduinen in der Negev-Wüste. Für den Parteichef Mansour Abbas selbst dürften allerdings auch persönliche Gründe entscheidend gewesen sein, der Regierung Bennett-Lapid am Ende doch zuzustimmen. Erstens stand er parteiintern in der Kritik, nachdem er in Lod nach den jüdisch-arabischen Ausschreitungen vom Mai 2021 eine zerstörte Synagoge besuchte. Zweitens berichten israelische Medien von sinkenden Zustimmungswerten für Ra’am, sodass nicht gewiss ist, ob der Partei bei einer weiteren Neuwahl überhaupt der Wiedereinzug in die Knesset gelingt. Eine Vermittlerrolle in die arabische Gesellschaft Israels ist von Abbas nicht zu erwarten. Nachdem er teilweise sogar dazu tendierte, eine von Netanjahu geführte Regierung zu unterstützen, hat er an Glaubwürdigkeit unter seiner Wählerschaft verloren.
Trotz der Koalition und ihrer mittlerweile mehrmonatigen Lebenszeit ist insgesamt zu konstatieren, dass die zersplitterte Parteienlandschaft in Israel weiterhin vorherrscht. Sie ist Ausdruck der politischen Willensbildung einer Gesellschaft, die von verschiedenen, sich teilweise überlagernden und schneidenden Konflikten zerklüftet ist und die immer noch um die Frage ringt: Was ist Israel?
Kulturkämpfe einer fragmentierten Gesellschaft
Diese Frage ist mitnichten trivial. Gleich mehrere Bruchlinien bestimmen die politischen Auseinandersetzungen in Israel. Grundlegende ethnische (jüdisch oder arabisch), religiöse (säkular, traditionell, orthodox, ultraorthodox) und konfliktbezogene Spannungslinien („Falke“ vs. „Taube“) prägen die politischen Debatten des Landes. Die Geschichte Israels mit diversen Einwanderungswellen aus Europa und Nordamerika, Nordafrika, der Golfregion, der Levante, Irak, Syrien, der ehemaligen Sowjetunion oder gar Äthiopien erschweren die politische Konsensfindung, weil sich diese Vielfalt auch in unterschiedlichen politischen Präferenzen niederschlägt. Die neue Koalition ist gleich in mehreren der oben genannten Grundsatzfragen gespalten.
Beispielsweise besteht ein grundlegender Disput zwischen den rechten und linken Parteien der Koalition darin, welche Rolle der Oberste Gerichtshof (OGH) im israelischen Staat einnehmen soll. Jamina hat ein ausgesprochen dezisiv-majoritäres Demokratieverständnis, das juristischen obersten Kontrollinstanzen wenig Bedeutung beimisst. Darüber hinaus erkennt die politische Rechte in Israel im OGH eine „Fünfte Kolonne“ der politischen Linken, die es zu bekämpfen gilt.
Auch in Themen der Asyl- und Einwanderungspolitik sowie der Schul- und Bildungspolitik scheinen Konflikte innerhalb der Koalition von links nach sehr weit rechts vorprogrammiert. Die knappe Mehrheit von nur 61 von 120 Sitzen macht quasi jeden Abgeordneten zum alleinigen Vetospieler, sodass der Anreiz für Einzelne groß ist, Partikular- und Klientelinteressen durchzusetzen. Zuletzt schlug Gesundheitsminister Nitzan Horowitz (Meretz) vor, Asylbewerbern eine Krankenversicherung zur Verfügung zu stellen. Das wurde von Ayelet Schaked, Bennetts rechter Hand in Jamina und Innenministerin, sofort öffentlich kritisiert. Man solle keine unnötigen Anreize zur illegalen Immigration nach Israel schaffen, so Schaked.[2]
Ein weiterer Konflikt scheint sich in der geplanten Liberalisierung der Koscher-Zertifizierung israelischer Restaurants abzuzeichnen. Bislang wurden die Koscher-Zertifikate („Kaschrut“) vom Rabbinat an Restaurants erteilt. Geplant ist nun eine Liberalisierung, die das Monopol des Rabbinats bei der Zertifizierung brechen und mehr Wettbewerb ermöglichen soll. Getrieben wird die Reform von zwei dezidiert säkularen Parteien in der Koalition: Jesch Atid und Israel Beitenu.
Druck von rechts
Die rechten Parteien in der Opposition, allen voran der Likud, üben derweil Druck auf die rechten Parteien der Regierungskoalition aus. Zwei Punkte werden dabei besonders herausgestellt: Die Beteiligung einer arabischen Partei als auch zwei linker Parteien. Im Kreuzfeuer steht vor allen Dingen Jamina, die aus machttaktischen Gründen eine rechte Regierung verraten habe. Überall ist von der „linken Regierung, die die Sicherheit des Staates Israel gefährdet“, die Rede. Bezalel Smotrich, Vorsitzender des nationalreligiös-extremistischen HaZionut HaDatit („Der Religiöse Zionismus“) attackierte Bennett und Schaked persönlich. Er warf ihnen vor, sie würden die politische Rechte verraten und gemeinsame Sache mit „Unterstützern des Terrorismus“ machen.[3]
Darüber hinaus ist das „Blame Game“, die Schuldzuweisungen, wer eigentlich eine rechte Mehrheit verhindert habe, voll im Gange. Netanjahu wie auch Smotrich arbeiten am Mythos, Bennett hätte die rechte Regierungsmehrheit verraten. Dabei wird freilich ignoriert, dass auch Netanjahu mit Ra’am über eine Minderheitenregierung verhandelte, was letztlich an Smotrich scheiterte. Nichtsdestoweniger darf man sich nicht der Illusion hingeben, dass die Beteiligung zweier linker und einer arabischen Partei Ausdruck eines politischen Richtungswechsels sei. Ohne die Person Netanjahu fände sich in der Knessett rasch eine stabile Koalition aus rechten und/oder religiösen Parteien. Der Mainstream in Israel steht deutlich rechts der Mitte.
Für Bennett könnte sein Husarenstück indes im politischen Selbstmord enden. Er wäre nicht der erste Politiker in Israel, der einen steilen Aufstieg und einen ebenso steilen Fall erlebt. Sein größtes Problem ist die Tatsache, dass er regierender Juniorpartner ist und nicht über die parlamentarische Rückendeckung verfügt, um ein starker Premierminister zu sein. Eine erste Niederlage musste die Regierungskoalition bereits mit dem umstrittenen Staatsbürgergesetz einstecken. Bis zu einer erneuten Regelung fällt das ansonsten obligatorische Zuzugsverbot für Palästinenser, die mit einem israelischen Staatsbürger verheiratet sind, weg. Offiziell wird dieses Notstandsgesetz mit Verweisen auf die Sicherheitslage seit der Zweiten Intifada (2000-2005) regelmäßig verlängert. De facto dient es aber auch dem Erhalt der demografischen Mehrheitsverhältnisse in Israel.
Die neue Regierung wird ebenfalls an dem Management der trotz hoher Impfraten weiterhin volatilen Corona-Situation im Lande gemessen. Im Vordergrund steht die Frage des Umgangs mit den jüngst gestiegenen Fallzahlen. Unter der Bennet-Regierung hat das weltweit erste Impfprogramm mit der dritten Covid-Auffrischimpfung begonnen. Die Regierung steht vor der schwierigen Gratwanderung eines weiteren Lockdowns, um das Gesundheitssystem nicht zu überlasten oder aber den Forderungen des Wirtschaftssektors Sorge zu tragen – und diese Frage stellt sich vor Beginn der hohen jüdischen Feiertage im September. Ihre Feuerprobe dürfte der im November zu verabschiedende Haushalt für 2022/23 sein. Zwar konnte sich das Kabinett Anfang August bereits auf einen Entwurf einigen, allerdings stehen die wichtigen Verhandlungen im Finanzausschuss und im Plenum der Knesset noch bevor.
Annäherung, Krise, Konflikt: Regionale und globale außenpolitische Herausforderungen
Außenpolitisch sind die aktuellen Herausforderungen nicht minder konfliktiv. Die jüngste Gaza-Eskalation vom Mai diesen Jahres hat eines verdeutlicht – der Nahostkonflikt, der medial vorübergehend in den Hintergrund gedrängt worden war, bleibt ungelöst und virulent und stellt eine dauerhafte Sicherheitsbedrohung für Israel (wie auch für die Palästinensischen Gebiete) dar. Auch wenn die Gewalt (die jederzeit wieder eskalieren kann) aktuell abgeebbt ist, der Konflikt und die ihm immanenten Kernprobleme bleiben: konkurrierende territoriale Ansprüche und damit verbundene umstrittene Grenzverläufe, der Status Jerusalems, religiöse und ethnische Unterschiede, das Problem der palästinensischen Flüchtlinge und nicht zuletzt die israelische Siedlungspolitik sowie das militärische Widerstands- bzw. Terrorpotenzial seitens palästinensischer Gruppen. Die jüngste bewaffnete Auseinandersetzung mit Raketen auf Jerusalem, Tel Aviv und sogar Haifa und Eilat hatte allerdings eine neue Qualität des Mitteleinsatzes offenbart und damit das Recht Israels auf Selbstverteidigung aber auch die schwierige Abwägung zwischen militärischem Nutzen und den Gefahren für die Zivilbevölkerung herausgefordert.
Noch in der Ära Benjamin Netanjahu (und mit Hilfe der Vermittlung der USA unter Donald Trump) ist es auf der Grundlage des sog. „Abraham Abkommens“ vom September 2020 mit den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) zu einer „Normalisierung“ der Beziehungen gekommen, die von Analysten als „Durchbruch“ zwischen Israel und Teilen der arabischen Welt bezeichnet wurde. Neben den VAE haben sich Bahrein, Marokko und der Sudan angeschlossen. De facto besagt das Abkommen auch, dass diese Länder eine Anerkennung Israels nicht mehr notwendigerweise an die Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts knüpfen.
Der neuen Regierung ist es gelungen, mit Jair Lapid, der als erster Außenminister im Juni die VAE besuchte und neue diplomatische Vertretungen für Israel eröffnete, das positive Momentum der „Abraham Accords“ weiterzutragen. In den letzten Monaten kamen zahlreiche neue Wirtschafts- (beispielsweise direkte Flugverbindungen von Tel Aviv nach Dubai und Abu Dhabi, wirtschaftliches Rahmenabkommen mit Bahrein) und Wissenschaftskooperationen zustande. Gerade neue handelspolitische Optionen und wirtschaftlicher Wohlstand aber auch verstärkte Zusammenarbeit in anderen Bereichen können dazu beitragen, diese „Normalisierungsabkommen“ zu stabilisieren. Mit Marokko wurden jüngst erste kommerzielle Flugverbindungen aufgenommen und eine Zusammenarbeit im Bereich der Cybersicherheit vereinbart – verbunden mit der Ankündigung der Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Die engere Anbindung Israels an Bahrein wird von beiden Seiten als geeignetes Mittel zur Eindämmung des iranischen Einflusses in der Region angestrebt.
Jenseits der „Abraham Accords“ gab es unter Netanjahu aber auch weitere strategische Entwicklungen – insbesondere die strategische Allianz Israels mit Griechenland und Zypern anknüpfend an Israels neuen Status einer gasproduzierenden Macht.[4] Im Februar hatte zudem Ägyptens Energieminister Tarel el-Molla Interesse an dieser Allianz bei seinem Besuch in Israel bekundet. In diesem Zusammenhang ist auch das East Mediterranean Gas Forum zu sehen und schließlich der Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen mit asiatischen Mächten China, Japan und Indien.
Der Annäherung an einige arabische Staaten auf der Grundlage der Abraham-Abkommen steht allerdings insgesamt ein volatiles regionales Umfeld entgegen: der andauernde Bürgerkrieg in Syrien, vor allem aber der Iran und Libanon bzw. die Hisbollah bedrohen die Sicherheit Israels stärker, als dass es der Konflikt mit den Palästinensern tut. Mit dem wachsenden Einfluss Irans im Nahen Osten, der Israel das Existenzrecht abspricht, seinem Atomprogramm und damit verbundenen nuklearen und hegemonialen Ambitionen, verstärkt sich in Israel die Wahrnehmung einer existentiellen Bedrohung durch Iran. Wiederholte iranische (Drohnen-) Angriffe auf Schiffe mit israelischen Verbindungen im Indischen Ozean und im Golf von Oman sowie Cyberattacken eröffnen eine neue Front der Auseinandersetzungen zwischen beiden Ländern mit Eskalationspotential. Die Hisbollah-Miliz im Libanon, die wiederum enge Anbindungen an den Iran hat, erhöht das Eskalationspotential stetig, flankiert von gewaltbereiten palästinensischen Gruppen dort, wie jüngste Raketen auf nordisraelisches Gebiet demonstriert haben. Offiziell befinden sich Libanon und Israel noch immer im Kriegszustand. Hinzu kommt die Rolle der Türkei, mit der eine ambivalente Beziehung besteht – auf der einen Seite Spannungen vor dem Hintergrund der umstrittenen Haltung des türkischen Staatspräsidenten zur Muslimbruderschaft und der Hamas, florierende Wirtschaftsbeziehungen mit Israel auf der anderen Seite. Während der türkische Staatspräsident Recep Erdogan Israel in der Gaza-Gewalteskalation vom Mai noch als Terrorstaat bezeichnete, so suchte er jüngst in einem Telefonat den Dialog mit seinem neuen israelischen Amtskollegen Jitzchak Herzog, in dem beide Seiten die Bedeutung der bilateralen Beziehungen als den Schlüssel für Sicherheit und Stabilität im Nahen Osten bekräftigten.[5] Der regionale Frieden wird auch von der Rolle Saudi-Arabiens abhängen, ob und wann es sich auf eine Normalisierung der Beziehungen zu Israel wird einlassen können. Die Beziehungen zu Jordanien sind von der neuen israelischen Regierung auf eine andere Ebene gehoben worden. Ein zwischen Außenminister Lapid und seinem jordanischen Counterpart Ajman Safadi ausgehandelter „Wasser-Deal“ resultierte im Verkauf von zusätzlichen 50 Mio. Kubikmeter Wasser an Jordanien für dieses Jahr; dem folgte ein mehr als nur symbolischer Besuch des israelischen Ministerpräsidenten Bennett bei König Abdullah II.
Mit dem Amtsantritt von US-Präsident Joe Biden ist es zum Kurswechsel in der Nahostpolitik gekommen. Wenn auch die neue US-Regierung nicht alle Entscheidungen aus der Ära Trump zurücknehmen wird (wie beispielsweise die Verlagerung der US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem), geht sie wieder Schritte auf die Palästinenser zu (etwa in Form der Wiederaufnahme der Zahlungen an die UNRWA) und ist auch grundsätzlich zu einer Rückkehr zu den Atomverhandlungen mit Iran bereit. Dies steht der ablehnenden Haltung der neuen israelischen Regierung entgegen, die wiederum bei den USA mit ausgleichender Politik gegenüber Jordanien und den VAE zu punkten versucht. Pragmatische Diplomatie ist angesagt. Dem Verbrüderungskurs der Regierung Netanjahu zu den US-Republikanern will die Regierung Bennet-Lapid eine überparteiliche Annäherung entgegensetzen. Der aktuelle israelisch-iranische „Schattenkrieg zu Wasser“[6] forderte noch vor dem für August angekündigten Besuch Bennets in den USA eine klare US-amerikanische Positionierung nahezu heraus. Die Außenminister der G-7 sowie die Europäische Union haben eindeutige Stellungnahmen zur Verurteilung des jüngsten Angriffs auf die HV Mercer Street abgegeben.[7] Auf der anderen Seite scheint Bennett bemüht, auch im israelisch-palästinensischen Konflikt positive Signale nach Washington senden zu wollen und kündigte Unterstützung für die die stark taumelnde palästinensische Wirtschaft an. Zudem wurde ein Genehmigungsverfahren für hunderte neue Wohneinheiten in israelischen Siedlungen in der Westbank verschoben.[8]
Die Abraham-Abkommen sind indes ohne europäische Vermittlung zustande gekommen und auch in der jüngsten Gaza-Eskalation konnte die EU keine vermittelnde Funktion einnehmen. Dies wirft die Frage nach der zukünftigen Rolle Europas in der Region aber auch speziell mit Bezug auf Israel auf. Mit Blick auf Lapids Besuch in Brüssel im Juli zeichnet sich die Chance eines Neustarts in den Beziehungen ab. Lapid, der als erster Israeli seit mehr als einem Jahrzehnt vor dem EU-Rat für Auswärtige Angelegenheiten mit einprägsamen Worten sprach – „let’s head to a new beginning“ – hob zudem die gemeinsamen Interessen und Werte mit der EU hervor.[9] Es besteht gar die Chance, dass der gemeinsame Assoziierungsrat EU – Israel, der knapp zehn Jahre nicht getagt hat, mit dem Ziel reaktiviert wird, die bilateralen Beziehungen voranzutreiben. Die Grundlagen dafür waren bereits unter der deutschen EU-Ratspräsidentschaft Ende letzten Jahres gelegt worden. Dies bedingt aber auch eine geschlossene Haltung der EU gegenüber Israel, die zumeist von Europas Rechtspopulisten unterlaufen und von Linkspopulisten torpediert wird. Die Beziehungen zu Polen sind gerade auf dem Tiefpunkt angelangt – vor dem Hintergrund des dort im Parlament verabschiedeten und von der polnischen Regierung unterzeichneten Restitutionsgesetzes, das viele Holocaust-Opfer von Ansprüchen auf konfisziertes Eigentum ausschließt. Die angestrebte engere Zusammenarbeit zwischen Israel und der EU im Wirtschafts- und Wissenschaftsbereich kann allerdings nicht über die bestehenden politischen Divergenzen (zum Konflikt mit den Palästinensern und unterschiedliche Haltungen zum Atomabkommen mit dem Iran) hinwegtäuschen; Dialogbereitschaft ist zumindest ein Anfang, und beide Seiten sind sich durchweg ihrer jeweiligen „strategischen“ Bedeutung bewusst.
Am Rande seines Brüsselbesuchs konnte sich Lapid auch mit seinem deutschen Amtskollegen austauschen. Die bilateralen Beziehungen mit Deutschland stehen in ihrer „Einzigartigkeit“ auf unerschütterlichem Fundament, das hatte auch der jüngste Besuch von Bundepräsident Frank- Walter Steinmeier in Israel wieder eindrucksvoll zementiert. „Deutschland ist Israels wichtigster Partner in Europa“[10], so Israels Botschafter in Deutschland Jeremy Issacharoff in einem Interview Ende letzten Jahres und hob dabei die aktive Rolle der Bundesrepublik in der Nahostpolitik hervor mit Blick auf ein Treffen der Außenminister der VAE und Israels, das Ende 2020 in Berlin stattgefunden hat. Gleichermaßen bleibt die „besondere (historische) Verantwortung für Israel“, die auf Konrad Adenauer zurückgeht und von Angela Merkel in ihrer Rede vor der Knesset anlässlich des 60. Jahrestages der Gründung Israels 2008 zur Staatsräson erhoben wurde: „diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes“.[11] Damit einher ging das Postulat, dass die Sicherheit Israels nicht verhandelbar ist. Das ist ein bedingungsloses Bekenntnis, das schwer wiegt. Der für Ende August angekündigte Arbeitsbesuch der Bundeskanzlerin bekräftigt die engen und „einzigartigen“ Beziehungen zwischen beiden Ländern.
Ausblick
Israels neue Regierung steht vor großen innen- wie außenpolitischen Herausforderungen. Der Modus der politischen Auseinandersetzung zwischen dem Netanjahu- und Anti-Netanjahu-Lager wird bevorzugt mit ad-hominem-Argumenten geführt. Der persönliche Angriff auf politische Akteure und Debatten, die politische Inhalte und Strategien eher streifen als durchdringen, beschädigen auf Dauer weiter die Legitimität und die Glaubwürdigkeit des zentralen politischen Entscheidungssystems. Deutlich wird die Problematik an der Regierung Bennett-Lapid, deren stärkster kohärenzstiftender Umstand zunächst die Anwesenheit von Oppositionsführer Benjamin Netanjahu zu sein schien. Die Unterschiedlichkeit der Zusammensetzung der neuen Regierungskoalition spiegelt aber auch die unterschiedlichen Facetten der israelischen Gesellschaft wider. Darin könnte auch eine Stärke liegen: Der Erfolgsdruck auf die Regierung, um deren politisches Überleben es geht, nötigt zum politischen Realismus und drängt politische Ideologien in den Hintergrund. Wenn Konfliktthemen ausgespart werden, ist auch diese diverse Regierung zu guter politischer Sacharbeit in der Lage. Der Lackmustest wird die Verabschiedung des Haushalts sein. Die Tatsache, dass sich die israelische Regierung Anfang August auf den Entwurf für den Staatshaushalt hat verständigen können, der dem Parlament im November vorgelegt wird, deutet auf das Bewusstsein für eine gemeinsame Regierungsverantwortung. Das Damoklesschwert des Nahostkonflikts kann dabei allerdings die auszusparenden Konfliktthemen immer wieder in den Mittelpunkt der politischen Debatte rücken.
Die regionalen Spannungen und der israelisch-palästinensische Konflikt, die auf komplexe Art miteinander verwoben sind und nicht unabhängig voneinander wirken, haben großen Einfluss auf die Arbeit der Regierung. Der schwelende Nahostkonflikt, der sich weiterhin in gewalttätigen Auseinandersetzungen – beispielsweise in Jerusalem oder im Westjordanland – abspielt, dürfte mittelfristig die Regierungsbeteiligung Ra’ams vor eine Belastungsprobe stellen. Nicht zuletzt scheint das Zusammenleben von israelischen Juden und Arabern häufig mehr ein Nebeneinander gewesen zu sein, wie die jüngsten Auseinandersetzungen im Mai gezeigt haben. Außerdem tritt der Konflikt mit der schiitischen Hisbollah, die zu großen Teilen aus dem Südlibanon operiert, immer stärker in den Vordergrund. Insgesamt könnte sich allerdings auch die gemeinsame Bedrohung von außen – insbesondere durch den Iran und aus dem Libanon – als einendes Element nach innen auswirken. Die aktuellen Entwicklungen in Afghanistan und die Machtübernahme der Taliban werden die Sicherheitsarchitektur und das terroristische Bedrohungspotential im Nahen Osten maßgeblich beeinflussen.
Wichtige Impulse für die Renaissance des Friedensprozesses können von Ägypten, Jordanien, Deutschland und Frankreich im neuen sog. „Kleeblattformat“ ausgehen. Darüber hinaus wäre ein geschlossenes und koordiniertes Auftreten der EU und der USA notwendig, um die Friedensverhandlungen wiederzubeleben. Nicht zuletzt könnte auch eine Reanimierung der Arbeit des Nahostquartetts bestehend aus den USA, Russland, den Vereinten Nationen und der EU diesen Prozess begünstigen. Entscheidend wird es sein, in einem ersten Schritt Israelis und Palästinenser wieder an einen Verhandlungstisch zu bringen. Das alles ist jedoch von einer Reihe von Faktoren abhängig, denen wiederum zahlreiche, teils innenpolitische Widerstände seitens der verschiedenen Akteure gegenüberstehen. Ein Anfang bestünde darin, dass die Europäische Union die Annäherungsbemühungen der israelischen Regierung ernst nimmt.