Roland Jahn betonte, dass Freiheit und Einheit in Deutschland keine Selbstverständlichkeit seien und begrüßt, dass anlässlich des 17. Juni 1953 dieser Werte gedacht werde. Der Volksaufstand von 1953 sei ohne sowjetische Panzer nicht zu unterdrücken gewesen, und habe – in der Gewaltsamkeit der Niederschlagung – bei vielen ein Trauma hinterlassen. Es seien nicht mehr viele Zeitzeugen da, besonders bewegend sei aber das Schicksal von Heinz Grünhagen: 1953 war er mit nur 20 Jahren bereits Vorarbeiter. Als er am 16. Juni 1953 hörte, dass Berliner Bauarbeiter zum Sitz der DDR-Regierung zogen, um die Rücknahme der Normerhöhung und freie Wahlen zu fordern, organisiert er mit seinen Kollegen einen Streik. Er wurde verhaftet, verhört und sagte unter Todesangst aus, sein Handeln sei von Westmächten beeinflusst und gekauft. Nach der mehrjährigen Haftstrafe, zeitweise in Isolation, verließ er die Haft als gebrochener Mann. Er blieb in der DDR, jeder berufliche Aufstieg blieb ihm versagt.
In der Schule habe Jahn gelernt, der Aufstand vom 17. Juni 1953 sei ein faschistischer Putsch gewesen, sein Elternhaus habe dem wenig entgegenzusetzen gehabt: aus Angst vor sowjetischen Panzern und mit der Erfahrung des Krieges hielten sie Eltern ihn an, sich von der Politik fernzuhalten. Erst später habe er sich dem Einfluss der DDR-Propaganda entziehen können. So habe er nach seiner Ausweisung in einer Pressekonferenz den Aufstand von 1953 noch als ‚faschistischen Putsch‘ bezeichnet – heute bedauere er diese Worte. Generell sei das Leben in der DDR ein Balanceakt zwischen Anpassung und Widerspruch gewesen. Er gehöre einer Generation an, die in die DDR hineingeboren war, abgeschottet aufwuchs und im Handeln wie im Denken eingeschränkt war. Zwischen staatlichen Vorgaben und dem Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben sei die Frage nach dem richtigen Verhalten in der Diktatur, nach moralischen Maßstäben nicht einfach.
Vor allem sei die DDR unberechenbar gewesen. 1976 studierte Jahn in Jena. Im Seminar übte er Kritik an der Ausweisung Wolf Biermanns, woraufhin ihm ‚gröbliche Verletzung der Studiendisziplin‘ vorgeworfen wurde und seine Kommilitonen über die Exmatrikulation abstimmen sollten. Bis auf einen stimmten alle für die Exmatrikulation aus Angst vor Konsequenzen für die eigene Laufbahn, die eigene Familie. Und dafür habe er , so Jahn, vollstes Verständnis gehabt. Die Angst habe auch er gekannt. Der Kommilitone, der gegen Jahns Exmatrikulation gestimmt hat, sei von der Stasi – entgegen jeder Erwartung – unbehelligt geblieben. Darin zeige sich, wie unberechenbar die DDR gewesen sei.
Was heute in der Aufarbeitung fehle, so Jahn, sei das Bekenntnis zur eigenen Biografie. Auch er selbst sei mal ein Rädchen im System gewesen, das sich gedreht habe, auch er habe eine Rolle im System erfüllt. Schon in der Schule sei man auf den Sozialismus eingeschworen worden, die Propaganda habe gegriffen, bevor man etwas verstand. Auch er, Jahn, sei am 01. Mai in den Demonstrationen mitgelaufen – er war Mitläufer. Der Wehrdienst sei zwar allgemeine Pflicht, aber auch er selbst sei – so sehe er das heute – bei den bewaffneten Truppen gewesen, die die eigene Bevölkerung einschüchtern sollten. Die Idee, sich zu weigern, sei ihm gar nicht gekommen, er habe sich angepasst, um seinen Kopf zu retten. Und gerade nach 1953 haben wenige noch Mut und Kraft zum Widerspruch gehabt. Das System der Angst, Willkür und Sippenverfolgung habe eben funktioniert. Jürgen Fuchs habe den Begriff ‚das Ende einer Feigheit‘ geprägt. „Meine Feigheit endete, als mein Freund Mats im Verhör zu Tode kam“, berichtet Jahn. Ab diesem Zeitpunkt habe er seine Meinung offener vertreten, seine Aktionen seien mutiger. Letztlich sei er aber wegen einer Kleinigkeit verhaftet worden: einem Fähnchen an seinem Fahrrad mit dem Schriftzug der Solidarnosc. Es folgten Monate der Einzelhaft und vorzeitige Entlassung, die unter anderem durch Demonstrationen erreicht wurde. Später habe er sich an einer Demonstration für Frieden und Abrüstung beteiligt. Sie richtete sich nicht explizit gegen die SED, aber unabhängige Gedanken wurden nicht geduldet, die Demonstration auseinandergeprügelt und Jahn gegen seinen Willen in den Westen abgeschoben. Sein Vater wurde daraufhin des Fußballclubs verwiesen, der sein Lebenswerk war. Jahn fragte sich noch lange, ob das Äußern seiner Meinung die Opfer wert war, die auch seine Angehörigen bringen mussten.
In einem Gespräch, berichtet Jahn weiter, habe eine 16-jährige Schülerin ihn gefragt, ob es akzeptabel war, dass ihr Großvater die DDR-Flagge vor seinem Haus gehisst habe, damit seine Tochter studieren konnte. Sie habe damit eine Kernfrage der Aufarbeitung gestellt: was ist noch in Ordnung, wo ist die Grenze?
Angst sei der Kitt der Diktatur, erklärt Jahn und jeder habe sich gewisse Freiheiten nehmen können, ohne sein Leben aufs Spiel zu setzen, aber die Folgen waren nicht berechenbar. Letztlich müsse jeder selbst bewerten, ob sein Handeln über jeden Zweifel erhaben sei oder besser hätte sein können. Dieses Bekenntnis zur Biografie sei eine notwendige Voraussetzung für gelungene Aufarbeitung.
Karl-Heinz van Lier dankte Roland Jahn für seinen Vortrag und erinnerte an die Zeitzeugen Vera Lengsfeld, die ebenfalls berichtet, wie wenige den Mut zum Widerstand fanden und an Rainer Eppelmann, der von der entmutigenden Wirkung des 17. Juni 1953 sprach, das die DDR-Bürger zu einem ‚Volk der Flüsterer‘ machte.