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Europäisches Parlament / Pietro Naj-Oleari

Einzeltitel

Die Rechtlichkeit der Europäischen Union

von Koen Lenaerts

Europa-Rede der Konrad-Adenauer-Stiftung, der Stiftung Zukunft Berlin, der Schwarzkopf-Stiftung Junges Europa sowie der Mercator-Stiftung

Exzellenzen, liebe Studierende und liebe Schülerinnen und Schüler, sehr geehrte Damen und Herren, bei der Konrad-Adenauer-Stiftung, der Stiftung Zukunft Berlin sowie der Schwarzkopf-Stiftung Junges Europa und der Stiftung Mercator darf ich mich zunächst für die ehrenvolle Einladung bedanken, an diesem für Deutschland und damit auch für Europa so geschichtsträchtigen Erinnerungstag des 9. November zu Ihnen sprechen zu dürfen. Dies ist ein besonderer Tag, um eine Rede über Europa zu halten.

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Dies ist ein besonderer Tag, um über den Kern dessen zu sprechen, was nicht die Welt, sondern Europa im Innersten zusammenhält, um die Worte von Goethes Faust zu bemühen.

Die bewegende Gedenkveranstaltung des Zentralrats der Juden in Deutschland zum 80. Jahrestag der Reichspogromnacht heute Vormittag in der Synagoge in der Rykestraße hat mir diesen Kern in besonders eindrucksvoller Weise vor Augen geführt.

Dieser Kern bestand von Beginn an darin, der zerstörerischen Kraft von Antisemitismus und Rassismus, von Diskriminierung und politischer Willkür nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs ein einigendes Projekt der Friedenssicherung entgegenzustellen.

Bereits in der nach ihm benannten Erklärung vom 9. Mai 1950 unterstrich der französische Außenminister Robert Schuman, dass der „Friede der Welt (…) nicht gewahrt werden [kann] ohne schöpferische Anstrengungen, die der Größe der Bedrohung entsprechen“, dass aber „[d]er Beitrag, den ein organisiertes und lebendiges Europa für die Zivilisation leisten kann, (…) unerlässlich [ist] für die Aufrechterhaltung friedlicher Beziehungen.“

Wenn ich also heute, am 9. November 2018, hier in Berlin über Europa spreche, muss ich in Erinnerung rufen, dass der Kern der europäischen Einigung seit jeher und zu allererst der Friede auf dem Kontinent ist.

Dieser Kern ist ein wesentlicher Bestandteil der Identität von uns Europäern geworden. Für uns geht es nicht darum, wer mehr an wen verkauft oder wie viel jeder Mitgliedstaat in den europäischen Haushalt einzahlt. Es geht nicht um Euro, Pfund oder Kronen. Es geht darum, Krieg durch Frieden zu ersetzen sowie Feindseligkeit durch Freundschaft und Misstrauen durch gegenseitiges Vertrauen auf Grundlage unserer gemeinsamen europäischen Werte.

Aus diesem Grund habe ich mir vorgenommen, in den folgenden Minuten einen dieser gemeinsamen europäischen Werte etwas genauer unter die Lupe zu nehmen.

Auf diese Weise möchte ich einen Fixpunkt des Europäischen sichtbar machen, den zentralen Fixstern der Europäisierung, um genau zu sein, von dessen normativer Strahlkraft meines Erachtens die Zukunft Europas abhängen wird: Ich spreche vom Titel meiner heutigen Europa-Rede, ich spreche von der Rechtlichkeit der Europäischen Union.

Denn wie hat Walter Hallstein, der erste Kommissionspräsident, bereits 1969 in seinem Werk „Der unvollendete Bundesstaat“ ausgeführt: „Die Gemeinschaft ist eine Schöpfung des Rechts. Das ist das entscheidend Neue, was sie gegenüber früheren Versuchen auszeichnet, Europa zu einigen. Nicht Gewalt, nicht Unterwerfung ist als Mittel eingesetzt, sondern eine geistige, eine kulturelle Kraft, das Recht. Die Majestät des Rechts soll schaffen, was Blut und Eisen in Jahrhunderten nicht vermochten. Denn nur die selbstgewollte Einsicht hat Aussicht auf Bestand (…).“[1]

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Auf dieser selbstgewollten Einsicht über die kulturelle Kraft des Rechts basierten nicht nur die Römischen Verträge aus dem Jahr 1957, die für den Prozess der europäischen Einigung ein großer, ein entscheidender Schritt nach vorn waren, sondern auch sämtliche Änderungsverträge bis zum Vertrag von Lissabon anstelle des gescheiterten Vertrags über eine Verfassung für Europa. Seitdem gelten der Vertrag über die Europäische Union (EUV) sowie der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Rechtlich gleichrangig ist außerdem die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Charta).

Die jeweils geltenden Verträge gaben und geben dem Friedensprojekt eine Rechtsgrundlage. Sie verbürgen damit sowohl die wegweisende territoriale Ausdehnung der europäischen Integration als auch die bedeutsamen materiellen Vertiefungen des Einigungsprojekts.

Denn innerhalb des Binnenmarktes konnten und sollten sich Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital frei bewegen dürfen. Die Vertragsänderungen zeichneten verantwortlich für die Unionsbürgerschaft und die Einführung einer einheitlichen Währung, des Euro.

Auf dem Fundament der Änderungsverträge wurden der Union über die Jahre immer weitergehende Kompetenzen übertragen, z.B. im Bereich der Umwelt-, Sozial-, Asyl- und Einwanderungspolitik. Eine Folge davon ist die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Strafsachen als Säule des europäischen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Durch die Charta sind die Grundrechte der Unionsbürger auf Unionsebene zudem umfassend geschützt, wie auch auf der Ebene der Mitgliedstaaten, wenn sie das Recht der Union durchführen.

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Zum grundrechtlichen Schutzumfang der Charta gehört auch ein allgemeines Verbot von Diskriminierungen (Artikel 21 Absatz 1 der Charta).

Zum Schutz vor Diskriminierungen hatte der Unionsgesetzgeber bereits im Jahr 2000 zwei wichtige Richtlinien verabschiedet.

Die eine Richtlinie dient der Bekämpfung von Diskriminierungen am Arbeitsplatz wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung.[2]

Die andere Richtlinie verfügt ein Diskriminierungsverbot aufgrund der Rasse oder der ethnischen Herkunft.[3] Sie richtet sich damit nicht nur auf die Gleichbehandlung am Arbeitsplatz, sondern gilt insbesondere auch im Hinblick auf den Zugang zu und die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen.

Die zweite Richtlinie war Gegenstand der „CHEZ“-Entscheidung des Gerichtshofs aus dem Jahr 2015, die beispielhaft ist für den unionsrechtlichen Diskriminierungsschutz.[4] Der Fall betraf Frau Nikolova, die in der bulgarischen Stadt Dupnitsa ein Lebensmittelgeschäft in einem Stadtteil betrieb, in dem vor allem Personen mit Roma-Herkunft wohnten.

In den Jahren 1999 und 2000 installierte das Stromversorgungsunternehmen CHEZ RB in diesem Stadtteil die Stromzähler ihrer Kunden an Betonmasten in einer Höhe von sechs bis sieben Metern. In den anderen Vierteln der Stadt (in denen weniger Roma wohnten) ließ das Unternehmen die Zähler hingegen in einer Höhe von 1,70 Meter installieren.

Daraufhin erhob Frau Nikolova bei der bulgarischen Kommission für den Schutz vor Diskriminierung eine Beschwerde mit der Begründung, die Installation der Zähler an einem unzugänglichen Ort beruhe darauf, dass die meisten Bewohner des fraglichen Stadtteils Personen mit Roma-Herkunft seien. Obwohl sie selbst keine Roma sei, werde auch sie durch diese Praxis des Unternehmens diskriminiert, da sie daran gehindert werde, ihren eigenen Zähler regelmäßig einzusehen.

Die Kommission gab Frau Nikolova Recht. Gegen diese Entscheidung erhob das Unternehmen Klage beim Verwaltungsgericht Sofia-Stadt. Dies veranlasste das Gericht wiederum, den Gerichtshof um Vorabentscheidung darüber zu ersuchen, ob die beanstandete Praxis eine unzulässige Diskriminierung aus Gründen der ethnischen Herkunft darstellt.

Damit fragte das Verwaltungsgericht den Gerichtshof im Wesentlichen, ob der Gleichbehandlungsgrundsatz, den die Richtlinie zur Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft gewährleisten soll, nur solche Personen schützt, die tatsächlich die betreffende Rasse oder die ethnische Herkunft besitzen, auf die die diskriminierende Maßnahme abstellt.

Eine solche Einschränkung hätte der Anwendung der Richtlinie zur Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft im Fall von Frau Nikolova entgegengestanden, da sie selbst keine Roma war.

Im Rahmen einer systematischen und zweckgerichteten Auslegung der Richtlinie hat der Gerichtshof eine solche Einschränkung jedoch nicht erkennen können. Stattdessen hat der Gerichtshof insbesondere festgestellt, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz nicht nur auf Personen mit einer bestimmten ethnischen Herkunft anwendbar ist, sondern allgemein auch auf Personen, die zwar selbst nicht die betreffende Herkunft aufweisen, die aber durch eine diskriminierende Maßnahme zusammen mit den Personen, die über diese Herkunft verfügen, weniger günstig behandelt oder in besonderer Weise benachteiligt werden.

In seinem Urteil hat der Gerichtshof hervorgehoben, dass das Verbot jeglicher Diskriminierung, das die genannte Richtlinie für die von ihr geregelten Bereiche vorsieht, darauf gerichtet ist, die Entwicklung demokratischer und toleranter Gesellschaften zu gewährleisten, die allen Menschen – ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft – eine Teilhabe ermöglichen.[5]

Die Lehren aus den Novemberpogromen von 1938 wirken damit – in gewisser Weise – bis in die heutige Rechtsprechung des Gerichtshofs hinein und fördern unser Verständnis von Europa, das sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet (Artikel 2 EUV).

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Anders gelagerte Fragen der Ungleichbehandlung wegen der Religion lagen dem Gerichtshof dieses Jahr in Zusammenhang mit der erstgenannten Richtlinie zur Bekämpfung von Diskriminierungen am Arbeitsplatz vor.

In der Rechtssache Egenberger[6] wurde dem Gerichtshof vom deutschen Bundesarbeitsgericht die Beantwortung der Frage übertragen, ob Kirchen im Rahmen eines Bewerbungsverfahrens selbst bestimmen können, bei welchen beruflichen Tätigkeiten die Religion eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt.

In diesem Fall ging es um eine Bewerberin, die offenbar in einem Bewerbungsverfahren über eine befristete Referentenstelle wegen ihres mangelnden christlichen Glaubens nicht in Betracht gezogen wurde.

In seinem Urteil wies der Gerichtshof darauf hin, dass zwischen dem Recht auf Autonomie der Kirchen und dem Recht der Arbeitnehmer, im Rahmen von Bewerbungsverfahren keinen Diskriminierungen wegen der Religion ausgesetzt zu sein, ein angemessener Ausgleich herzustellen ist. Diese Abwägung muss letztlich von einem nationalen Gericht vorgenommen werden, insbesondere dahingehend, ob die drei Kriterien „wesentlich, rechtmäßig und gerechtfertigt“ in Anbetracht des jeweiligen Ethos im Einzelfall erfüllt sind.[7] Demnach haben die Gerichte zu prüfen, ob die jeweilige Anforderung aufgrund der Art der beruflichen Tätigkeit tatsächlich objektiv geboten ist. Zudem muss die Anforderung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in Einklang stehen.[8] Nur so kann sowohl das Diskriminierungsverbot als auch das Recht auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz sichergestellt werden.

In seinem Urteil vom 25. Oktober 2018 folgte das Bundesarbeitsgericht dieser Auslegung des Gerichtshofs, indem es insbesondere Zweifel an der Wesentlichkeit der beruflichen Anforderung geltend machte, weil im konkreten Fall keine wahrscheinliche und erhebliche Gefahr bestanden hätte, dass das Ethos des Beklagten beeinträchtigt würde.[9]

Weniger als sechs Monate nach der Egenberger-Entscheidung bot sich dem Gerichtshof in der Rechtssache IR die Gelegenheit, diese Rechtsprechungslinie weiter zu verfeinern – wiederum auf Vorlage des deutschen Bundesarbeitsgerichts.[10] Die Sache betraf die Kündigung eines Chefarztes katholischer Konfession durch ein katholisches Krankenhaus wegen des Verstoßes gegen dienstvertragliche Loyalitätspflichten. Er hatte nämlich nach der Scheidung von seiner ersten Frau wieder geheiratet.

Vor der deutschen Arbeitsgerichtsbarkeit hatte er geltend gemacht, dass die Kündigung gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz verstoße, da nach der Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse die Wiederheirat eines evangelischen oder konfessionslosen Chefarztes keine kündigungsrechtlichen Folgen gehabt hätte.

Dem Gerichtshof oblag damit die Auslegung der eingangs erwähnten Gleichbehandlungsrichtlinie. Nach der ist es zwar grundsätzlich verboten, einen Arbeitnehmer wegen seiner Religion oder Weltanschauung zu diskriminieren. Unter bestimmten Voraussetzungen dürfen Kirchen aber von den Beschäftigten ein loyales Verhalten nach dem jeweils geltenden kirchlichen Ethos verlangen.

In seinem Urteil stellte der Gerichtshof – unter Verweis auf Egenberger – zunächst fest, dass Kirchen an leitende Beschäftigte je nach deren Konfession unterschiedliche Anforderungen an das loyale Verhalten stellen können. Gegenstand der gerichtlichen Kontrolle durch das nationale Gericht muss dabei sein, dass die Religion für die Art der Tätigkeit wiederum eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt.[11]

Dabei wies der Gerichtshof darauf hin, dass die Loyalitätspflicht gegenüber der katholischen Kirche für eine Tätigkeit als Leiter der Abteilung „Innere Medizin“ keine wesentliche Anforderung der beruflichen Tätigkeit zu sein schien. Davon war insbesondere deshalb auszugehen, weil ähnliche Stellen Beschäftigten anvertraut wurden, die nicht katholischer Konfession waren. Sie waren folglich nicht denselben Anforderungen unterworfen, sich loyal und aufrichtig im Sinne des katholischen Ethos zu verhalten.[12]

Die beiden vorgenannten Entscheidungen veranschaulichen deutlich, dass die europäischen Antidiskriminierungsregeln tatsächlich unabhängig von der Religion oder dem Wertesystem Geltung entfalten, die dem jeweiligen Einzelfall zugrunde liegen. Auch diese Urteile spiegeln damit die einigende Wirkung der geistigen und kulturellen Kraft des Rechts wider, von der Walter Hallstein eingangs sprach.

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Können wir aber allein deshalb schon von der Europäischen Union als Rechtsunion sprechen?

Der Gerichtshof hat sich erstmals vor etwas mehr als 30 Jahren in seinem – mittlerweile grundlegenden – Urteil Les Verts von 1986[13] bezüglich der damaligen „Gemeinschaft“ darauf bezogen, und mehrere jüngere Rechtssachen verschafften ihm seitdem die Gelegenheit, dieses „konstitutionelle“ Momentum der europäischen Integration abermals zu betonen.

Was aber bedeutet Rechtsunion im Kontext der europäischen Integration? Der Begriff der Rechtsunion bedeutet in erster Linie, dass sich die Union auf die Werte der Demokratie, des Rechtsstaats und der Wahrung der Grundrechte gründet (Artikel 2 EUV). Diese drei Werte sind untrennbar miteinander verknüpft: Ein Rechtsstaat ist undenkbar ohne Demokratie, eine Demokratie ist undenkbar ohne Grundrechtsschutz und der wirksame Schutz von Grundrechten ist ohne Rechtsstaat schlicht nicht vorstellbar.

Seit 1952, dem Jahr seiner Gründung, hat der Gerichtshof bei der Entwicklung dieser Rechtsunion eine Schlüsselrolle gespielt. Als eines der vier Organe der Union stellt der Gerichtshof sicher, dass die Mitgliedstaaten, die alle vor dem Gesetz gleich sind und daher an die daraus fließenden Verpflichtungen gebunden sind, das Unionsrecht beachten („pacta sunt servanda“). Der Gerichtshof überprüft auch die Vereinbarkeit des Unionsrechts mit den Unionsverträgen, einschließlich der Charta. Weder die Mitgliedstaaten der Union noch deren Organe sind nämlich einer Kontrolle der Vereinbarkeit ihrer Handlungen mit diesen Verträgen entzogen.[14]

Darüber hinaus hat die Natur der Rechtsunion zur Folge, dass dem Einzelnen das Recht zusteht, die Rechtmäßigkeit nationaler Entscheidungen oder jeder anderen nationalen Handlung, mit der eine Handlung der Union angewandt wird, gerichtlich anzufechten.[15]

Die Aufgaben des Gerichtshofs als „Förderer und Hüter der Integration“[16] haben sich damit über die Jahre auch inhaltlich fortentwickelt: In den ersten 30 Jahren nach der Unterzeichnung der Römischen Verträge ergingen die Entscheidungen des Gerichtshofs in erster Linie in Binnenmarkt- und Wirtschaftssachen. Dies heißt jedoch mitnichten, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs in diesem Zeitraum unterschätzt werden darf. Im Gegenteil.

„Was wäre das Gemeinschaftsrecht ohne die Urteile von 1963 und 1964 gewesen?“

Diese Frage stellte Robert Lecourt, einer meiner Vorgänger als Präsident des Gerichtshofs, in einem Aufsatz auf dem Jahr 1991.[17]

Er, der selbst an den wegweisenden Urteilen Van Gend & Loos[18] und Costa/ENEL[19] mitgewirkt hat, stellte sich vor, wie sich die europäische Integration entwickelt hätte, wenn die beiden Urteile nicht ergangen wären.

In diesem alternativen Szenario wären die Bürger keine Akteure des Integrationsprojekts gewesen, weil die nationalen Gerichte nicht als „das Unionsrecht anwendende Gerichte“ angese­hen worden wären. Ohne die Grundsätze der unmittelbaren Wirkung und des Vorrangs des Unionsrechts wäre es zum Niedergang des Vorabentscheidungsverfahrens gekommen – und die einheitliche Anwendung des Europarechts folglich ein Traum geblieben. Lecourt schloss daraus, dass der Vertrag von Rom „ein einfacher Handelsvertrag gewesen wäre wie so viele andere“ und die Idee einer „Gemeinschaft der Völker und der Staaten mit eigenen Organen und Zuständigkeiten sowie rechtsstaatlichen Garantien“ ein Mythos geblieben wäre.

Um die Grundsätze der Rechtsordnung der Union sowie deren Autonomie zu erhalten, haben die Verträge ein Gerichtssystem geschaffen, das Kohärenz und Einheitlichkeit bei der Auslegung des Unionsrechts sicherstellen soll: Schlüsselelement ist das in Artikel 267 AEUV vorgesehene Vorabentscheidungsverfahren, von dem bereits die Rede war. Es ermöglicht einen Dialog zwischen nationalen Gerichten und Gerichtshof über die Anwendung und Auslegung des Unionsrechts.[20]

Die Bedeutung des Vorabentscheidungsverfahrens und des Grundsatzes der Autonomie des Unionsrechts hat der Gerichtshof zuletzt in der Rechtssache Achmea unterstrichen.[21]

In diesem Fall musste der Gerichtshof über die Frage entscheiden, ob das Unionsrecht der Schiedsklausel eines bilateralen Investitionsschutzabkommens zwischen Mitgliedstaaten entgegensteht. In seinem Urteil kam der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass ein solches internationales Abkommen die Zuständigkeitsordnung und damit die Autonomie des Rechtssystems der Union nicht beeinträchtigen darf. Andernfalls könnte der eigene Charakter des durch die Verträge geschaffenen Rechts- und Gerichtssystems in Frage gestellt werden.

Die Autonomie des Unionsrechts bezieht sich damit selbst auf den Kern der Rechtlichkeit der Union: die Verträge als autonome Quelle des Unionsrechts, die Vorrangwirkung vor dem Recht der Mitgliedstaaten und die unmittelbare Wirkung einer Reihe von Bestimmungen.[22]

Laut Abkommen in dem Achmea-Fall wären die Schiedsgerichte befugt gewesen, das Recht der Vertragsparteien und damit gegebenenfalls auch das Unionsrecht auszulegen oder sogar anzuwenden.[23] Durch ihren Ausnahmecharakter können die Schiedsgerichte aber nicht Teil des Gerichtssystems der Mitgliedstaaten sein. Sie sind damit auch nicht befugt, den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen.[24] Folglich schuf das Abkommen einen Mechanismus zur Beilegung von Streitigkeiten, der nicht sicherstellen kann, dass über diese Streitigkeiten ein zum Gerichtssystem der Union gehörendes Gericht befindet. Nur ein solches Gericht wäre aber in der Lage, Wirksamkeit und Autonomie des Unionsrechts in einer Weise zu gewährleisten, die dem Grundsatz gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union gerecht wird. Nach diesem Grundsatz beruht das Unionsrecht auf der grundlegenden Prämisse, dass die Mitgliedstaaten die Grundwerte aus Artikel 2 EUV teilen, was sich als Loyalitätspflicht auch im Rahmen des Dialogs unter den Gerichten niederschlägt.[25]

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Sie werden mir inzwischen sicherlich zustimmen, dass der Gerichtshof seit ungefähr 30 Jahren immer sensiblere Fragestellungen zu den Grundlagen der europäischen Integration beantworten muss, deren rechtliche Lösung sich unmittelbar aus dem normativen Dreieck von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechten ergibt.

Ein Beispiel von besonderer Bedeutung war das diesjährige Urteil in der Rechtssache Associação Sindical dos Juízes Portugueses.[26] Darin war der Gerichtshof aufgerufen zu entscheiden, ob die vorübergehende Senkung der Bezüge der Richter des portugiesischen Rechnungshofs (Tribunal de Contas) mit dem rechtsstaatlichen Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit vereinbar war.

Die Kürzungen waren Teil der Leitlinien des portugiesischen Staates zum Abbau des Haushaltsdefizits.

In seinem Urteil hob der Gerichtshof den Grundsatz wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes hervor, einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts, der sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt und in der Charta verankert ist. Allerdings müssen die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass die nationalen Gerichte wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gewähren.[27]

Der richterlichen Unabhängigkeit kommt dabei die Aufgabe zu, die justizielle Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof sicherzustellen. Voraussetzung dafür ist, dass die betreffende Einrichtung ihre richterlichen Funktionen in völliger Autonomie ausübt, ohne weisungsgebunden zu sein.[28] Eine wesentliche Garantie dieser Unabhängigkeit ist zwar eine funktionsgerechte Vergütung.[29] Nach Ansicht des Gerichtshofs beeinträchtigten die zeitlich befristeten Kürzungen die Unabhängigkeit der Mitglieder des Rechnungshofs dennoch nicht, insbesondere weil sie nicht nur für dessen Mitglieder, sondern für eine ganze Reihe von Personen der gesetzgebenden, vollziehenden und rechtsprechenden Gewalt in Portugal galten.

Der Grundsatz richterlicher Unabhängigkeit war auch Gegenstand der im Juli entschiedenen Rechtssache Minister for Justice and Equality/LM.[30] Das Eilverfahren betraf einen polnischen Staatsangehörigen. Nach seiner Verhaftung in Irland auf Grundlage – in Polen ausgestellter – europäischer Haftbefehle widersprach er seiner Übergabe an Polen mit der Begründung, dass aufgrund der aktuellen Reformen des polnischen Justizsystems die Gefahr bestehe, in Polen kein rechtsstaatlich faires Verfahren vor einem unabhängigen Gericht zu erhalten.

Damit hatte der Gerichtshof auf Vorlage des Hohen Gerichtshofs Irlands über die Voraussetzungen zu entscheiden, unter denen eine vollstreckende Justizbehörde davon absehen kann, einem solchen Haftbefehl Folge zu leisten.

Dazu hatte der Gerichtshof in wegweisenden Urteilen bereits 2016 festgelegt, dass die Vollstreckung dann aufzuschieben ist, wenn für die Person, gegen die sich der Haftbefehl richtet, konkret eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne der Charta besteht.[31]

Deshalb muss die vollstreckende Justizbehörde in der Lage sein, auch bei Vorliegen einer Gefahr der Verletzung des Grundrechts auf ein unabhängiges Gericht, das den Wesensgehalt des Grundrechts auf ein faires Verfahren beschränkt, von der Vollstreckung eines solchen Haftbefehls absehen zu können.

Die Wahrung der Unabhängigkeit der Justizbehörden im Rahmen des Haftbefehlssystems ist folglich von größter Bedeutung, um einen wirksamen gerichtlichen Individualrechtsschutz sicherzustellen.

Deshalb hat der Gerichtshof im Juli in Minister for Justice and Equality/LM entschieden, dass die vollstreckende Justizbehörde gehalten ist, zunächst auf der Grundlage objektiver und zuverlässiger Angaben zu beurteilen, ob eine echte Gefahr der Verletzung des Grundrechts auf ein faires Verfahren gegeben ist, die mit einer mangelnden Unabhängigkeit der Gerichte zusammenhängt.

Erst in einem zweiten Schritt muss die Behörde dann konkret und genau prüfen, ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die gesuchte Person nach ihrer Übergabe einer solchen Gefahr ausgesetzt sein wird. Dabei ist besonderes Augenmerk darauf zu legen, inwieweit sich die Mängel auf der Ebene der Gerichte auswirken, und inwieweit die betroffene Person in Anbetracht ihrer persönlichen Situation sowie der Art der Straftat und des Sachverhalts, auf dem der Haftbefehl beruht, einer echten Gefahr ausgesetzt sein wird, dass ihr Grundrecht auf ein unabhängiges Gericht verletzt und damit der Wesensgehalt ihres Grundrechts auf ein faires Verfahren angetastet wird.

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Darüber hinaus sind in den letzten Jahren zahlreiche Entscheidungen des Gerichtshofs im Bereich der Unionsbürgerschaft ergangen.

Darin hat der Gerichtshof die Formel entwickelt, dass „der Unionsbürgerstatus dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein“[32].

Der AEU-Vertrag verleiht den Unionsbürgern zum einen das Recht, sich in der Union frei zu bewegen und aufzuhalten, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind, zum anderen aber auch, dabei von ihren nahen Familienangehörigen begleitet zu werden. Das Unionsrecht gewährt jedoch kein grundsätzliches Aufenthaltsrecht für Familienangehörige eines Unionsbürgers in dem Mitgliedstaat, dem der Unionsbürger angehört, da es sich um einen rein innerstaatlichen Sachverhalt handelte, der unter das nationale Recht fällt.

Aus einer besonderen Perspektive betraf kürzlich auch die Rechtssache Coman und andere den Wesenskern der Unionsbürgerschaft.[33] In dem Verfahren ging es um den rumänischen Staatsangehörigen Coman, der vier Jahre mit seinem Ehemann, einem amerikanischen Staatsangehörigen in den Vereinigten Staaten lebte, bevor das Paar in Brüssel heiratete. Auf die Anfrage hin, nach welchem Verfahren und unter welchen Voraussetzungen der Ehemann sich als Familienangehöriger von Herrn Coman länger als drei Monate rechtmäßig in Rumänien aufhalten könne, teilten die rumänischen Behörden mit, dass der Ehemann nur über ein dreimonatiges Aufenthaltsrecht verfüge.

Er könne in Rumänien nicht als „Ehegatte“ eines Unionsbürgers angesehen werden, da Rumänien Ehen zwischen Personen gleichen Geschlechts nicht anerkenne.

Daraufhin legte der rumänische Verfassungsgerichtshof dem Gerichtshof die Frage vor, ob der Ehemann von Herrn Coman unter den Begriff „Ehegatte“ iSd Freizügigkeitsrichtlinie[34] falle, womit ihm in Rumänien ein Daueraufenthaltsrecht zuteil würde.

In seinem Urteil hat der Gerichtshof zunächst daran erinnert, dass die Richtlinie zugunsten des Ehemanns zwar kein abgeleitetes Recht zum Aufenthalt in Rumänien begründen kann. Allerdings hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass Nicht-EU-Staatsangehörige die Anerkennung eines solchen Rechts in bestimmten Fällen erzielen können, um dem Unionsbürger den Genuss seiner Rechte der Unionsbürgerschaft zu ermöglichen; zum Beispiel die Fortsetzung seines Familienlebens bei der Rückkehr in den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger besitzt.[35]

Dabei dürfen die Voraussetzungen für die Gewährung dieses abgeleiteten Aufenthaltsrechts nicht strenger sein als diejenigen, die die Richtlinie für einen Nicht-EU-Staatsangehörigen vorsieht, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist.

Folglich stellte sich die Frage, ob der Begriff des Familienangehörigen auch den Drittstaatsangehörigen einschließt, der dasselbe Geschlecht hat wie der Unionsbürger, den er in einem Mitgliedstaat geheiratet hat. Dazu führte der Gerichtshof aus, dass der Begriff des Ehegatten nach der analog anzuwendenden Freizügigkeitsrichtlinie dem Grundsatz nach geschlechtsneutral ist – und somit den gleichgeschlechtlichen Ehegatten einschließen kann.[36] Trotz der nationalen Zuständigkeit über das Personenstandsrecht vertrat der Gerichtshof die Auffassung, dass die Weigerung eines Mitgliedstaats, die gleichgeschlechtliche Ehe zum Zweck der Gewährung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts anzuerkennen, geeignet ist, die Ausübung der unionsbürgerschaftlichen Rechte zu beschränken.[37]

Aus objektiven Erwägungen des Allgemeinwohls kann die Personenfreizügigkeit zwar verhältnismäßigen Beschränkungen unterliegen. Der Gerichtshof ging in seiner Entscheidung aber davon aus, dass die Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Eheschließung zum Zweck des abgeleiteten Aufenthaltsrechts weder das Institut der Ehe in Rumänien beeinträchtigt noch die Einrichtung des Instituts der Ehe zwischen Personen gleichen Geschlechts nach nationalem Recht auferlegt, weshalb die Pflicht zur Anerkennung weder der nationalen Identität noch der öffentlichen Ordnung des Mitgliedstaats widerspricht.[38]

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Nicht nur die Beispiele zur Unabhängigkeit der Dritten Gewalt, sondern auch zur Unionsbürgerschaft zeigen, dass die Rechtlichkeit der Europäischen Union heute anderen normativen Prämissen ausgesetzt ist als die Rechtlichkeit der vor gut 60 Jahren geschaffenen Gemeinschaft. In diesem Kontext höre ich immer wieder, dass diese Verschiebung zu einem bedeutsamen Machtzuwachs des Gerichtshofs geführt habe, weil der Gerichtshof mitunter auch in heiklen gesellschaftspolitischen Debatten Stellung beziehen muss.

Dem möchte ich entschieden entgegentreten: Der Gerichtshof hatte weder in der Vergangenheit noch heute eine politische Agenda, er setzt sich weder einseitig für die Mitgliedstaaten ein noch einseitig zugunsten der Union.

Der Gerichtshof setzt sich ausschließlich für die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge ein (Artikel 19 EUV). Er nimmt deshalb nicht an öffentlichen Debatten teil, sondern entscheidet über die anhängigen Rechtssachen.

Sie erkennen vielleicht, warum es für mich als Vertreter der Dritten Gewalt deshalb eine besondere Herausforderung ist, zur Idee und zur Lage Europas Stellung zu nehmen, wie es die Einladung zur diesjährigen Europa-Rede erwartungsvoll formuliert.

Denn der Gerichtshof ist und bleibt ein Gericht. Er kann – und vor allem will – nicht an die Stelle des Gesetzgebers treten. Allerdings übt er eine striktere Kontrolle aus, wenn er einen Gesetzgebungsakt der Union oder eines Mitgliedstaats zu prüfen hat, der in den sachlichen Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt und ein Grundrecht beeinträchtigt.

Zu dem Recht, dessen Wahrung der Gerichtshof sichert, gehören nämlich nicht nur die Unionsverträge und die von den politischen Instanzen der Union erlassenen Bestimmungen, sondern auch die Charta, die ebenso rechtsverbindlich ist, wie es die Verträge sind.

In der Rechtssache Digital Rights Ireland[39] erklärte der Gerichtshof daher eine Richtlinie[40] für ungültig, die Kommunikationsdienste-Betreiber zur Datenspeicherung verpflichtete. Nach Auffassung des Gerichtshofs beinhaltete die Richtlinie allerdings eine unverhältnismäßige Beschränkung des Rechts auf Privatsphäre und den Schutz personenbezogener Daten, da sie sich generell auf alle Personen und alle elektronischen Kommunikationsmittel sowie auf sämtliche Verkehrsdaten erstreckte, ohne irgendeine Differenzierung, Einschränkung oder Ausnahme anhand des Ziels der Bekämpfung schwerer Straftaten vorzusehen. Außerdem war nicht festgelegt, unter welchen Bedingungen Behörden auf diese Daten zugreifen können.

Daran anknüpfend entschied der Gerichtshof zwei Jahre später in Tele2 Sverige und Watson[41], dass nationale Vorschriften, die Kommunikationsdienste-Betreiber in Schweden und im Vereinigten Königreich dazu verpflichteten, Daten allgemein und unterschiedslos auf Vorrat zu speichern, die Grenzen des absolut Notwendigen überschreiten – und daher nicht als in einer demokratischen Gesellschaft gerechtfertigt angesehen werden können, wie es die Richtlinie im Sinne der Grundrechtecharta eigentlich verlangt.

Zu jeder Zeit müssen die grundrechtsbezogenen Beschränkungen aber in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Ziel stehen. Der Gerichtshof stellt dabei sicher, dass die Bestimmungen der Charta auch in Zeiten des globalen Terrors strikt beachtet werden, weil diese Grundrechte den Kern unseres Gesellschaftskonsenses bilden.

Das Urteil Schrems[42] veranschaulicht diesen Ansatz des Gerichtshofs. In dem Fall ging es um die Übermittlung von Daten von Facebook-Nutzern an Server in den USA, die vorher auf irischen Servern lagen. Der Gerichtshof erklärte in seinem Urteil die Entscheidung der Kommission für ungültig, in der diese festgestellt hatte, dass die USA bei der Verarbeitung personenbezogener Daten ein angemessenes Schutzniveau gewährleisten („Safe harbour“).

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Lassen Sie mich zum Abschluss kommen: Die Rechtlichkeit der Europäischen Union ist nach meiner Auffassung das zentrale Momentum für die demokratische und rechtsstaatliche Vertiefung der Europäischen Union in den vergangenen Jahrzehnten gewesen.

Als Garant dieser Rechtlichkeit wird der Gerichtshof nicht nur weiterhin jede einzelne Rechtssache in völliger Objektivität entscheiden, sondern auch in Zukunft dem Gesang der populistischen Sirenen die Stirn bieten, die uns auffordern, angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen auf Mittel zurückzugreifen, die in Wirklichkeit unsere gemeinsamen Werte bedrohen. Demokratie kann genauso wenig ohne den Gewährleistungsgehalt der Grundrechte gedacht werden wie ohne die Errungenschaften der Rechtsstaatlichkeit und der Gewaltenteilung.

Aus diesem Grund ist der Demokratieabbau mancher Mitgliedstaaten nicht nur ein Problem für die Europäische Union an sich. Als struktureller Mangel wirkt sich der Abbau demokratischer Standards innerhalb eines Mitgliedstaats unmittelbar auch auf alle anderen Mitgliedstaaten aus.

Sowohl die Europäische Union als auch die Mitgliedstaaten sehen sich daher der neuen, gesamteuropäischen Aufgabe der Demokratiesicherung gegenüber.[43]

Die Sicherung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit hat zum Ziel, das institutionelle Gerüst demokratischer Ordnungen zu bewahren, um Minderheiten jederzeit die Möglichkeiten bereitzuhalten, zur Mehrheit zu werden.

Sie ist folglich in keiner Weise darauf gerichtet, unliebsame politische Entwicklungen in den Mitgliedstaaten einzudämmen.[44]

Aus diesem Grund sollten wir der Faszination für das Autoritäre, die gegenwärtig allerorten in Europa Wurzeln schlägt, immer und immer wieder die Rechtlichkeit der Union entgegenhalten. Sie war, ist und wird auch in Zukunft der normative Fixpunkt – oder Fixstern – von Frieden auf diesem, unserem Kontinent bleiben.

Wie es der Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bereits 1957 unseren Vorgängern aufgegeben hat, wird sich der Gerichtshof darum weiterhin mit unerschütterlichem Engagement – und gemeinsam mit den Gerichten der Mitgliedstaaten – seiner zentralen Aufgabe widmen, nämlich „die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung [der Verträge]“ zu sichern – um auch in Zeiten tiefgreifender politischer Veränderungen die einigende Wirkung der Majestät des Rechts, wie Walter Hallstein es genannt hat, garantieren zu können.

Damit können wir einen wesentlichen Beitrag leisten, für uns und die nachfolgenden Generationen auch in Zukunft die richtigen Lehren aus dem Gedenken an die Novemberpogrome von 1938 zu ziehen, die diesen Erinnerungstag des 9. November noch immer überschatten.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


[1] Hallstein, Der unvollendete Bundesstaat, 1969, S. 33.

[2] Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl. 2000 L 303, S. 16.

[3] Richtlinie 2000/43/EG des Rates vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft, ABl. 2000 L 180, S. 22.

[4] Urteil vom 16. Juli 2015, CHEZ Razpredelenie Bulgaria, C-83/14, EU:C:2015:480.

[5] Ebd., Rn. 74.

[6] Urteil vom 17. April 2018, Egenberger, C-414/16, EU:C:2018:257.

[7] Ebd., Rn. 62 ff.

[8] Ebd., Rn. 68.

[9] Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 25. Oktober 2018, Az. 8 AZR 501/14.

[10] Urteil vom 11. September 2018, IR, C-68/17, EU:C:2018:696.

[11] Ebd., Rn. 43, 50 ff.

[12] Ebd., Rn. 58 f.

[13] Urteil vom 23. April 1986, Les Verts/Parlament, 294/83, EU:C:1986:166, Rn. 23.

[14] Ebd.

[15] Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C-64/16, EU:C:2018:117, Rn. 31.

[16] Sander, Der Europäische Gerichtshof als Förderer und Hüter der Integration: eine Darstellung anhand seiner Einwirkungsmöglichkeiten auf die einzelnen Dimensionen des Einigungsprozesses, 1998.

[17] Lecourt, Quel eût été le droit des Communautés sans les arrêts de 1963 et 1964?, in : L’Europe et le droit: mélanges en hommage à Jean Boulouis, 1991, S. 349-361.

[18] Urteil vom 5. Februar 1963, van Gend & Loos, 26/62, EU:C:1963:1.

[19] Urteil vom 15. Juli 1964, Costa/ENEL, 6/64, EU:C:1964:66.

[20] Gutachten 2/13 (Beitritt der Union zur EMRK) vom 18. Dezember 2014, EU:C:2014:2454, Rn. 174-176.

[21] Urteil des Gerichtshofs vom 6. März 2018, Achmea, C-284/16, EU:C:2018:158.

[22] Ebd., Rn. 32 f.

[23] Ebd., Rn. 42.

[24] Ebd., Rn. 49.

[25] Ebd., Rn. 58.

[26] Urteil des Gerichtshofs vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C-64/16, EU:C:2018:117.

[27] Ebd., Rn. 36 f.

[28] Ebd., Rn. 44.

[29] Ebd., Rn. 45.

[30] Urteil vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality / LM, C-216/18 PPU, EU:C:2018:586.

[31] Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, verb. Rs. C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198.

[32] Urteile vom 20. September 2001, Grzelczyk, C-184/99, EU:C:2001:458, Rn. 31; vom 17. September 2002, Baumbast und R, C-413/99, EU:C:2002:493, Rn. 82; vom 2. Oktober 2003, Garcia Avello, C-148/02, EU:C:2003:539, Rn. 22; vom 19. Oktober 2004, Zhu und Chen, C-200/02, EU:C:2004:639, Rn. 25; vom 2. März 2010, Rottmann, C-135/08, EU:C:2010:104, Rn. 43; vom 2. Juni 2016, Bogendorff von Wolffersdorff, C‑438/14, EU:C:2016:401, Rn. 29.

[33] Urteil vom 5. Juni 2018, Coman u.a., C-673/16, EU:C:2018:385.

[34] Richtlinie 2004/38/EG des EP und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG, ABl. 2004, L 158, S. 77, berichtigt im ABl. 2004, L 229, S. 35, und im ABl. 2007, L 204, S. 28.

[35] Urteil vom 5. Juni 2018, Coman u.a., C-673/16, EU:C:2018:385, Rn. 23 f.

[36] Ibid., Rn. 35.

[37] Ibid., Rn. 40.

[38] Ibid., Rn. 45 f.

[39] Urteil vom 8. April 2014, Digital Rights Ireland u.a., C-293/12 und C-594/12, EU:C:2014:238.

[40] RL 2006/24/EG des EP und des Rates vom 15. März 2006 über die Vorratsspeicherung von Daten, die bei der Bereitstellung öffentlich zugänglicher elektronischer Kommunikationsdienste oder öffentlicher Kommuni-kationsnetze erzeugt oder verarbeitet werden, und zur Änderung der RL 2002/58/EG, ABl. 2006 L 105, S. 54.

[41] Urteile vom 21. Dezember 2016, Tele2 Sverige / Secretary of State for the Home Department gegen Watson u.a., verb. Rs. C-203/15 und C-698/15, EU:C:2016:970.

[42] Urteil vom 6. Oktober 2015, Schrems, C-362/14, EU:C:2015:650.

[43] Zu Fragen der Demokratiesicherung ausführlich Möllers/Schneider, Demokratiesicherung in der Europäischen Union: Studie zu einer europäischen Aufgabe, 2018.

[44] Ebd.

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