Veranstaltungsberichte
Dabei stand die Förderung und Entwicklung neuer asiatischer Perspektiven im Hinblick auf diese Themen im Vordergrund, mit dem Schwerpunkt auf einem praxisorientierten Ansatz zur Ergänzung bestehender akademischer Forschung und Literatur.
Nachdem im Jahr 2016 durch die neu eingeführte Studiengruppe bereits in umfassenden Diskussionen der Grundstein für einen Dialog im Kontext der Verfassungsentwicklung gelegt wurde, war es nun an der Zeit darauf aufzubauen und sich mit aktuellen Fragen des Konstitutionalismus in der Region auseinanderzusetzen. Vor dem Hintergrund des aktuellen geopolitischen Klimas und den damit verbundenen Bedrohungen für das Verständnis und die Praxis der konstitutionellen Theorie auf globaler Ebene, galt es, auch mit einem interdisziplinären Blick Hindernisse jenseits des Rechts zu identifizieren, um Lösungen zu suchen und eine positive Entwicklung zu fördern.
Zu den inhaltlichen Schwerpunkten gehörten zum einen die weltweit erfolgten und bevorstehenden Regierungswechsel und der wachsende Einfluss von Populismus auf die Politik und die Verfassungen in der Region. Zum anderen die Notwendigkeit einer integrativen Verfassungsrealität, inmitten einer zunehmenden sozialen, politischen und religiösen Vielfältigkeit gerade in Südostasien. Daneben sollten auch die Rolle von nicht-institutionellen Akteuren wie politische Parteien und zivilgesellschaftliche Organisationen oder Bewegungen beleuchtet werden, die in eine wichtige Rolle bei der Verfassungsgestaltung und -entwicklung spielen.
Thematisch war der Workshop in vier Sessions unterteilt. In der ersten Session mit dem Titel „Challenges & Chances: Asia Between Popular Constitutionalism and Legal Constitutionalism“ wurde in Anlehnung an die in den USA in akademischen Kreisen vertretenen Theorien erörtert, welche Rolle und welcher Einfluss der Bevölkerung in der verfassungsrechtlichen Entscheidungsfindung zukommen soll und welche Herausforderungen, aber auch Chancen mit dieser Rolle verbunden sind.
Zur Sprache kam die positiv zu bewertende konstitutionelle Mobilisierung der Bevölkerung durch zivile Akteure in einem autoritären System am Beispiel von Vietnam, einem Land, das trotz seiner politischen Strukturen eine Beteiligung der Bevölkerung am Verfassungsleben durch Petitionen und Anregungen in einem nationalen Dialog mehr und mehr zulässt. Gleichzeitig wiesen die Experten aber auch auf mögliche Probleme einer Beteiligung der Bürger hin, etwa die Tatsache, dass die sehr junge philippinische Bevölkerung die Marcos-Diktatur nicht miterlebte oder ihr eine Erinnerung an deren Schrecken fehlt. Daher besteht, in Verbindung mit mangelnder Bildung und Aufklärung, eine große Anfälligkeit für populistische Strömungen, die die wegweisende Verfassung von 1987, die eine direkte Reaktion auf das Regime darstellt, in Frage stellen. Eine Rückkehr zu Ausnahmezuständen und der Anwendung von Kriegsrecht, die die Verfassung von 1987 auf Grund des Missbrauchs durch Marcos deutlich einschränkt, scheint damit plötzlich wieder im Rahmen des Möglichen zu liegen.
Als ständig präsente Herausforderung insbesondere für die ASEAN-Region wurde auch die große religiöse, ethnische und kulturelle Vielfältigkeit diskutiert, und wie eine faire Repräsentation aller Beteiligten zu bewerkstelligen ist. Sind Minderheitenrechte in der Verfassung zu regeln? Führt die Privilegierung von einzelnen ethnischen Gruppen zu erhöhten Erwartungen und resultiert in geringerer Kompromissbereitschaft? Genügt es möglicherweise, nur die Gleichheit aller Bürger in der Verfassung zu regeln? Eine universelle Antwort wird sich für die Region nicht finden lassen, und so bedarf es weiterhin für jedes einzelne Land einer kritischen Auseinandersetzung mit diesem heiklen Thema.
Die zweite Session unter dem Thema „Courts as Guardians of the Constitution: The Fine Line between Primacy of Law & Judicialisation of Politics” drehte sich, im Gegensatz zu der vorangegangenen, nicht um die Rolle der Bürger, sondern um die der Gerichte als Hüter der Verfassung zwischen Rechtsstaatlichkeit und Politik.
Durch anschauliche Vorträge über die Rolle der höchsten Gerichte in Malaysia und in Deutschland verdeutlichten die Experte die fundamentale Wichtigkeit dieser Gerichte als Säulen unserer verfassungsmäßigen Ordnung. So wurde festgestellt, dass der Grad der Zivilisation einer Nation oft an den Freiheiten ihrer Bürger gemessen wird, solche Freiheiten aber bedeutungslos sind, ohne eine unabhängige, wachsame Gerichtsbarkeit, die diese auch verteidigt, und eine Exekutive, die deren Entscheidungen respektiert. Herausgestellt wurden auch die Rolle der Gerichte, als Barriere zwischen Staatsgewalt und Bevölkerung und die Notwendigkeit von Kontrollmechanismen, um Akte der Exekutive durch jeden Bürger auf Verfassungsverstöße überprüfen zu lassen.
Gerade in Zeiten der Krise spiele die Justiz eine entscheidende Rolle, wenn die Rechtsstaatlichkeit am meisten bedroht ist. Es sei leichter, Respekt für die Unabhängigkeit der Justiz zu haben, wo es keine wahrgenommene Bedrohung für die Existenz der Nation gibt. Allerdings seien es Krisensituationen, in denen die Unabhängigkeit der Justiz am wichtigsten ist, um eine Unterdrückung durch den Staat zu verhindern.
Eine Politisierung der Entscheidungen von Verfassungsgerichten und Supreme Courts ist dabei nach Ansicht der Experten nicht zu vermeiden, gerade wenn es um die Aufhebung von Akten der Exekutive geht. Allerdings darf dies nicht als Verletzung der Gewaltenteilung oder Usurpation der Regierung ausgelegt werden, sondern fällt gerade in den ureignen Aufgabenbereich der Gerichte. Politik beeinflusst von Natur aus die Rechtsprechung und diese beeinflusst im Gegenzug die Politik, eine strenge Gewaltenteilung gerade im Verfassungsrecht ist daher oftmals nicht möglich, da beide untrennbar miteinander verwoben sind.
In der abschließenden Session des ersten Tages, die mit dem Titel „Inclusive Constitutionalism – Evolution through Contestation“ bewusst weit gefasst war, war es an den Teilnehmern, ihre Interpretation einer inklusiven Verfassung darzustellen und zu erläutern, ob eine konstante Herausforderung der Verfassung von außen diese voranbringt.
Ein sehr aufschlussreicher Beitrag kam zu diesem Thema aus Nepal, das mit seiner neuen Verfassung im Hinblick auf Inklusion, vor einer der größten Herausforderungen stehen dürfte. Ganze 103 Ethnien sind dort vertreten, und allen wurde in der Verfassung von 2015 Ebenbürtigkeit, proportionale Mitbestimmung, Inklusion und soziale Gerechtigkeit zugesichert. Während das in der Theorie ein vorbildlicher Ansatz ist, stellt sich in der Praxis dann aber die Frage, wie eine solche Proportionalität, die im gesamten Regierungssystem gilt, umgesetzt werden kann. Die proportionale Repräsentation von Minderheiten, mit weniger als 1% an der Gesamtbevölkerung, mag in einem großen Parlament noch möglich sein, aber schon bei kleineren Ausschüssen stößt man an seine Grenzen. Die Teilnehmer teilten die Hoffnung, dass Nepal der Übergang von dieser begrüßenswerten Verfassung hin zu einer gerechten Verfassungspraxis gelingt.
Ein anschließender Rückblick auf die Geschichte aus Deutscher und Europäischer Perspektive zeigte dann, dass inklusive Verfassungen, im Gegensatz zu solchen die von Einzelnen diktiert wurden, erfolgreicher und stabiler waren, sofern sie über Mechanismen zur Beilegung von Streitigkeiten sowie zur Weiterentwicklung der Verfassung verfügten. Gerade Deutschland wurde hier als Beispiel für ein Land mit einer Verfassung aufgeführt, die nach dem zweiten Weltkrieg alle inkludierte und gleichzeitig durch implementierte Werkzeuge wie der Verfassungsbeschwerde und Minderheitsrechten eine Herausforderung ihrer selbst ermöglichte.
Eingebracht wurde auch das Konzept, von spezialisierten Institutionen, die zwischen Legislative und Judikative stehen und Gesetze schon vor ihrer Verabschiedung auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüfen, wie es etwa in den Niederlanden und dem skandinavischen Raum üblich ist. Dadurch soll Druck von den Gerichten genommen werden und das Bewusstsein der Legislative und der Bevölkerung für die Bedeutung der Verfassung gestärkt werden. Diese Institutionen sind in Asien nicht etwa völlig unbekannt, wie anhand der Parallelen zum Cabinet Legislation Bureau in Japan aufgezeigt wurde, das ebenfalls in beratender und kontrollierender Funktion für das Kabinett tätig wird, oder dem Council of State in Thailand.
Ein Ziel der Studiengruppe ist es, sich mit aktuellen rechtspolitischen Fragestellungen auseinander zu setzen, deren Beantwortung unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten eine Herausforderung ist. So wurde mit Blick auf die vielerorts wahrnehmbare Zunahme bzw. Selbstzuschreibung von Kompetenzen der Exekutive diskutiert, ob es Bereiche gibt, in denen die Machtbegrenzung der exekutiven Gewalt entfällt, etwa unter der Voraussetzung einer grundlegenden Bedrohung des Bestands oder der Sicherheit eines Landes. Unbeantwortet blieb die Frage, ob es eine Lösung für den Konflikt zwischen dem Bedürfnis nach transnationalen Regelungen und der fraglichen verfassungsrechtlichen Legitimation hierfür gibt. Die in Frage gestellte Legitimation führt kombiniert mit einer weit verbreiteten Anti-Globalisierungshaltung zu einer fehlenden Akzeptanz für transnationale Strukturen. Eine Patentlösung – das zeigt auch die internationale Politik – ist nicht ersichtlich.
Abgeschlossen wurde der Workshop mit der vierten und letzten Session zum Thema „The Influence of Tradition, Monarchy & State Ideology in Asia’s Constitutional Development – Challenges & Considerations“. Gerade in Asien sind Recht und Politik und damit auch das Verfassungsverständnis untrennbar mit Geschichte, Kultur, Tradition und Ideologie verschmolzen. Daher war es unerlässlich, für ein Verständnis des großen Ganzen auch diese Faktoren zu beleuchten.
Die Experten aus Myanmar und Kambodscha stellten dazu eindrücklich die Lage in ihren Heimatländern dar. Da ist der Kampf gegen Relikte der Militärdiktatur, die in Myanmar noch immer eine Verfassungsänderung ohne Zustimmung der Armee unmöglich machen. Aber auch der friedliche Wandel von Hinduismus zu Buddhismus als Staatsreligion in Kambodscha, welcher Elemente von beiden Religionen in die Monarchie und damit das Verständnis von Herrschaft einfließen ließ. Fundamentale Elemente unseres Rechtsverständnisses wie etwa die Gewaltenteilung werden in Kambodscha bereits auf die ersten Könige zurückgeführt.
In einer abschließenden Wrap-Up Diskussion wurden zu guter Letzt noch einmal die gewonnen Erkenntnisse der letzten zwei Tage resümiert und versucht, diese in den Gesamtkontext der Verfassungspraxis und Verfassungsentwicklung in Asien einzufügen. Dabei war man sich mit den Experten einig, dass die Studiengruppe zu einer langfristigen Institution in der Region werden sollte.