Länderberichte
Der Verfassungsreformprozess seit 2019
Über den Entwurf einer neuen Verfassung für Chile ist in den letzten Monaten und Jahren viel geschrieben und berichtet worden. Die Vorgeschichte ist jedoch schnell erzählt: 2019 konnten gewalttätige Straßenproteste in Chile nur dadurch beendet werden, dass dem chilenischen Volk eine Abstimmung über eine neue Verfassung fest versprochen wurde. Da die bisherige Verfassung bereits 1980 verabschiedet wurde, also noch aus der Zeit der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet stammt und schon allein deswegen in der Sicht vieler Bürger ersetzt werden sollte, konnte mit der Aussicht auf eine grundlegende Reform der von breiten Teilen der Bevölkerung abgelehnten Verfassung der gewalttätige Konflikt beendet werden. In einem Referendum sprach sich sodann eine große Mehrheit der Chileninnen und Chilenen für die Erarbeitung eines gänzlich neuen Textes aus. An dieser Stelle endeten jedoch bereits die Gemeinsamkeiten derer, die mehrheitlich eine Reform befürworteten. Die eigentliche verfassungsgebende Versammlung, welche aus eigens zu diesem Zweck neu gewählten Vertretern bestand (also gerade nicht auch gewählte Abgeordnete bestehender demokratischer Organe wie Abgeordnetenhaus oder Senat umfasste) hatte dann ein knappes Jahr Zeit, um einen völlig neuen Text zu erstellen. Und an dieser Stelle muss man aus heutiger Sicht einen wichtigen Geburtsfehler verorten: Neben 17 fest für die indigene Minderheit vorgesehene Plätzen im 154-köpfigen Verfassungskonvent waren es ganz überwiegend Vertreter politisch linker Gruppierungen, welche in den Konvent gewählt worden sind.
Merkmale des Verfassungsentwurfs
Der finale Text einer neuen Verfassung wurde am 4. Juli 2022 der Öffentlichkeit vorgestellt. Neben einigen modernen Ansätzen war der Entwurf jedoch von zahlreichen handwerklichen Mängeln gekennzeichnet. Vor allem aber spiegelt der Entwurf vom Juli 2022 nicht den Wunsch einer Mehrheit der Chileninnen und Chilenen wider. Dies ist insofern nicht überraschend, da in der Verfassungsgebenden Versammlung selbst nur ein Teil des politischen Meinungsspektrums eine Stimme hatte.
Einige Elemente des Entwurfs sind durchaus positiv: darunter der Schutz von Grundrechten und moderne Vorschriften zum Umweltschutz. Auch sollte ein neues System der Verwaltung dafür sorgen, dass die verschiedenen Regionen Chiles mehr Autonomie bekommen und über die Verwendung der für sie vorgesehenen Gelder stärker mitbestimmen können.
Demgegenüber überwiegen jedoch die zahlreichen Kritikpunkte, welche man dem Text gegenüber vorbringen muss: Besonders negativ sind vorgesehene Verschiebungen im Bereich der staatlichen Institutionen. Im Entwurf sollten der Senat abgeschafft und Rechte des Verfassungsgerichts eingeschränkt werden. Kontrolle und Gleichgewicht der Institutionen schienen damit gefährdet, gerade auch im Bereich der Justiz. Als bezeichnend für die Unausgewogenheit des gestern zur Abstimmung gebrachten Reformtextes kann die Kritik aus den Reihen einiger linker Reformbefürworter selbst gelten: So hat der ehemalige chilenische Justizminister Solis aus der Regierung der ehemaligen Präsidentin Bachelet beispielsweise darauf hingewiesen, dass unklar sei, wie das indigene Justizsystem funktionieren solle. Und in der Tat stoßen sich große Bevölkerungsgruppen am Konzept der „Plurinationalität“ des Verfassungsentwurfs. Nur etwa 12 % der Chileninnen und Chilenen zählen sich zu den verschiedenen indigenen Gruppen im Land. Gleichzeitig hätte der neue Verfassungstext diesen Gruppen jedoch weitgehende Mitbestimmungs- und gewisse Vetorechte gewährt.
Außerdem sei erwähnt, dass der Entwurf insgesamt zu lang geraten war, die fast vierhundert Artikel und zahlreichen Übergangsvorschriften lassen den Text wie das Ergebnis einer Regelungswut erscheinen, statt nur den nötigen Verfassungsrahmen abzustecken, welcher dann durch Gesetze weiter konkretisiert wird. In Teilen war der Entwurf unnötig detailliert (beispielsweise in Vorschriften zum Recht auf Sport) und in anderen Normen wiederum zu unbestimmt, unter anderem hinsichtlich des mehrfach genannten Begriffs „Gender“. Insgesamt entstand dadurch nicht nur bei vielen Analysten der Eindruck, dass hier ein politisches Weltbild zementiert werden sollte, welches bei einer Verschiebung der Macht beispielsweise durch die nächsten Wahlen nicht leicht geändert werden könnte.
Bereits schnell nach Schließung der Wahllokale am 4. September wurde deutlich, dass eine unerwartet hohe Zahl von Chileninnen und Chilenen sich gegen diesen Verfassungsentwurf entschieden haben, nämlich immerhin etwa zwei Drittel. Nach dieser deutlichen Ablehnung des Textes, stellt sich nun die Frage, wie Chile mit dieser Situation umgehen soll.
Wie weiter?
Aus verfassungsrechtlicher Sicht besteht zunächst keineswegs Anlass zur Sorge. Zunächst gilt die aktuelle Verfassung weiter. Fraglich ist vielmehr, welche politischen Implikationen die Ablehnung des lange vorbereiteten Textes mit sich bringt. Unbestritten ist, dass weiterhin eine Mehrheit der Chilenen für eine Reform des Verfassungstextes von 1980 ist, dies haben auch jüngste Umfragen vor wenigen Wochen gezeigt.
Abgelehnt wurde also vor allem der als einseitig empfundene Reformentwurf der links dominierten verfassungsgebenden Versammlung. Um das grundsätzliche Bedürfnis der Bevölkerung nach Reformen zu befriedigen, hatte der erst seit einem halben Jahr im Amt befindliche Staatspräsident Boric bereits im Vorfeld des Referendums für den Fall des Scheiterns des Entwurfs eine neuerliche Verfassungsreform angekündigt. Dies muss wohl als eine „Flucht nach vorn“ interpretiert werden, hatte er sich doch recht früh klar für den Reformentwurf ausgesprochen.
Am Abend des gescheiterten Verfassungsreferendums hat Boric seinen Vorsatz, zügig eine neue Verfassung erstellen zu lassen, erneut bekräftigt. Grundlegende Details sind aber aktuell noch unklar. Als gutes Zeichen kann gewertet werden, dass das Staatsoberhaupt für die nun beginnende Woche Konsultationen mit den im Parlament vertretenen Parteien angekündigt hat.
Da der aktuelle Verfassungsentwurf beim Wähler durchgefallen ist, wird nun wohl ein neues konstituierendes Verfahren beginnen. Dazu muss voraussichtlich eine neue Versammlung gebildet werden, jedenfalls aber eine mit neuen Regeln. Möglich ist ebenfalls, dass eine neue Versammlung grundsätzlich anders gewählt und zusammengesetzt sein wird. Und auch einige der umstrittenen Elemente der bisherigen Versammlung, unter anderem die fest reservierten Sitze für Indigene, dürften dabei noch einmal gründlich auf den Prüfstein gelegt werden.
Wünschenswert für eine größere Akzeptanz des wahrscheinlich in den kommenden Monaten zu erwartenden neuen Verfassungsentwurfs ist eine ausgewogenere Besetzung einer solchen Versammlung, die dann das gesamte politische Spektrum abbilden sollte. Nur in diesem Fall ist davon auszugehen, dass ein neuerlicher Anlauf zur Reform des chilenischen Grundgesetzes in einem neuerlichen Referendum eine Mehrheit finden kann.
Erste Reaktionen aus Chile
Noch im Februar 2022 sprachen sich fast 50 Prozent der Chilenen für eine neue Verfassung aus. Bemerkenswert hierbei ist, dass der Wendepunkt hin zu einer mehrheitlichen Ablehnung mit dem Amtsantritt des neu gewählten Staatspräsidenten Gabriel Boric einherging. Boric und sein Kabinett übernahmen am 11. März 2022 die Regierungsgeschäfte. Kurz davor hatte Boric betont, dass der Erfolg seiner Regierung und damit seine persönliche politische Zukunft von der Zustimmung der neuen Verfassung abhänge. Laut Umfragen sank kurz nach Amtsantritt die Zufriedenheit der Bevölkerung mit der Regierung Borics deutlich (auf 36 Prozent), bedingt durch umstrittene Ministerernennungen und politische Fehlentscheidungen bei der Amtsführung. Der Trend hin zur Ablehnung des Verfassungsentwurfs stieg im Juli stark an, nachdem am 7. Juli der Text der neu erarbeiteten Verfassung der Exekutiven überreicht wurde.
Die Befürchtung großer Teile der Bevölkerung, das Ergebnis des Referendums würde eine Welle gewalttätiger Auseinandersetzungen herbeiführen, bestätigte sich indes nicht. Der 4. September verlief ruhig. Schon zwei Wochen vor dem Volksentscheid wurden die zuvor teilweise aggressiven Debatten und politischen Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern und Gegnern der neuen Verfassung moderater ausgetragen oder sogar zum Teil eingestellt. Auf politischer Ebene schien sich eine „Waffenruhe“ zwischen beiden Lager zu etablieren. Politische Analysten sind sich einig, dass diese „politische Ruhe“ das Ergebnis einer Absprache zwischen Opposition und Regierung sei, die darauf abzielt, das Ergebnis des Referendums zu akzeptieren, um die nächsten Schritte zur Erarbeitung einer neuen Verfassung in Frieden und in Ordnung einzuleiten. Dies lässt hoffen, dass die polarisierenden Auseinandersetzungen der letzten Monate, die auf eine gefährliche Erosion der politischen Dialogkultur in Chile und auf eine Schwächung der traditionell starken politischen Mitte in Chile hindeuten, nachlassen, sodass gemäßigte Positionen wieder erstarken.
Nach Verkündung des Sieges des Rechazo, der Ablehnung der neuen Verfassung, wird sich die Diskussion über die weitere Vorgehensweise fortsetzen. Grundsätzlich stehen zwei Alternativen zur Debatte:
- Die Einleitung eines Wahlprozesses zur zeitnahen Wahl von Vertretern einer neuen Verfassunggebenden Versammlung.
- Eine komplett neue Debatte über die Zusammensetzung, Struktur und Funktion einer neuen Verfassunggebenden Versammlung.
Am Wahlabend schien sich die Position durchzusetzen, den Prozess zur Wahl einer neuen Verfassunggebenden Versammlung zeitnah einzuleiten. Dies würde bedeuten, dass die Chilenen voraussichtlich im März 2023 erneut aufgefordert werden, zur Urne zu gehen.
Politische Parteien
Die Polarisierung in der allgemeinen Debatte über die Zukunft der neuerarbeiteten Verfassung spiegelt sich auf besorgniserregende Weise bei den politischen Parteien wider. Hiervon sind die traditionsreiche "Partido Demócrata Cristiano“ (PDC) und das regierende Wahlbündnis „Apruebo Dignidad“ betroffen. Der eindeutige Sieg des Rechazo könnte die Krise dieser beiden politischen Kräfte noch weiter vertiefen.
Die PDC droht unter der sich vertiefenden Kluft hinsichtlich ihrer parteipolitischen Verortung bei der Frage nach Ablehnung oder Befürwortung der neuen Verfassung zu zerreißen. Die Positionen der Parteimitglieder und –anhänger sowie der aktuellen Parteispitze scheinen unvereinbar zu sein: Einerseits sprach sich die aktuelle Parteispitze unter der linken Führung von Felipe Delpin und Yasna Provoste dezidiert für die neue Verfassung aus, andererseits positionierten sich die Vertreter des gemäßigten Flügels, unter ihnen die einflussreichen Senatoren Ximena Rincón und Matías Walker, gegen die neue Verfassung. Der überraschend klare Sieg des Rechazo wird die politische Position Walkers und Rincóns parteiintern stärken. Es ist nicht auszuschließen, dass beide Politiker in naher Zukunft auf nationaler Ebene eine noch bedeutendere Rolle spielen werden.
Das Wahlergebnis wird die politische Manövrierfähigkeit der Regierung Borics vermutlich noch weiter einschränken. Innerhalb des Regierungsbündnisses herrschte schon vor dem Referendum keine Einigkeit darüber, ob die neue Verfassung unverändert oder mit Modifikationen in Kraft treten solle. Während die zum gemäßigten Flügel der Allianz gehörenden Parteien und Bewegungen für Änderungen des Verfassungstextes plädieren, positionieren sich die Kommunistische Partei und einige zum Teil extremistische Bewegungen, die indigene Bevölkerungsgruppen repräsentieren, gegen jegliche Anpassung oder Änderung. Dies könnte zu nicht unerheblichen Auseinandersetzungen innerhalb des politisch vielfältigen Regierungsbündnisses führen und damit die Regierbarkeit des Landes stark beeinträchtigen.
Fazit
Die Implikationen des Wahlergebnisses in Chile sind während der Wahlnacht noch nicht klar erkennbar geworden. Allerdings können bestimmte Tendenzen schon heute skizziert werden. Ein neuer Verfassungskonvent wird so kurzfristig wie möglich einberufen (voraussichtlich im März 2023) werden. Der klare Sieg des Rechazo bedeutet gleichzeitig den Sieg der Opposition. Das Regierungsbündnis wird sich auf diese neue politische Konstellation einstellen müssen. Hierbei werden die Opposition und die gemäßigten Parteien des Regierungsbündnisses Wege des Konsenses suchen, um die Regierbarkeit des Landes zu gewährleisten. Eine größere Konsensbereitschaft könnte gleichzeitig das Gleichgewicht innerhalb der Regierung zugunsten der gemäßigten Partnerparteien verschieben, was wiederum die Position der sozialdemokratischen „Sozialistischen Partei“ (PS) innerhalb der Regierung stärken würde. Innerhalb der Regierung scheint die Erneuerung des Kabinetts durch Vertreter der gemäßigten Parteien unumgänglich zu sein. Der Austritt der „Kommunistischen Partei“ (PC) aus dem Regierungsbündnis kann nicht ausgeschlossen werden. Dies birgt die Gefahr, dass sich radikale, gewaltbereite militante Gruppen der PC parteiintern durchsetzen und ihre Anhänger aufrufen, „die Straßen Santiagos einzunehmen“. Dieses Szenario erinnert vielen Menschen in Chile an die gewalttätigen Auseinandersetzungen während der sozialen Unruhen im Oktober 2019. Eine Erfahrung, die die allermeisten Chilenen nicht wieder erleben wollen.