Der Libanon sieht sich derzeit mit einer Situation konfrontiert, die weder bei der Ausarbeitung der libanesischen Verfassung im Jahr 1926 noch bei einer ihrer späteren Überarbeitungen vorausgesehen wurde: zum ersten Mal in seiner Geschichte hat das Land seit Monaten weder einen Präsidenten noch eine amtierende Regierung. Das Kabinett von Premierminister Najib Mikati ist lediglich geschäftsführend tätig. Solange diese Situation nicht behoben ist, stellt sich die Frage, welche Befugnisse die geschäftsführende Regierung während einer Vakanz des Präsidentenamtes hat, gemäß der libanesischen Verfassung. Können Gesetze verabschiedet werden, Dekrete erlassen oder internationale Verträge unterzeichnen? Können überhaupt Regierungssitzungen anberaumt werden? Was besagt die Verfassung und wie sind die entsprechenden Artikel auszulegen?
Dieser Beitrag soll einen Überblick über die entscheidenden Bestimmungen der Verfassung und ihre jeweilige Auslegung geben.
Der Bericht ist das Ergebnis von Recherchen im Vorfeld und im Anschluss an eine vom KAS-Rechtsstaatsprogramm Naher Osten & Nordafrika organisierte Podiumsdiskussion zu Art. 62 der libanesischen Verfassung am 6. Dezember 2022 in Beirut/ Libanon. Die Podiumsteilnehmer waren die Verfassungsexperten Rina Constantine und Edgard Abawatt. Der Bericht wurde ursprünglich von Marilyn Saliba und Patrick Saad verfasst, die zu dieser Zeit ein Praktikum im KAS-Büro absolvierten, und von Valeska Heldt und Claudia Hainthaler bearbeitet.