Rumänien bemüht sich seit über elf Jahren um den Beitritt zum Schengen-Raum. Seit 2011 sind die technischen Voraussetzungen für die Aufnahme erfüllt. Dies bescheinigen mehrere Berichte der EU-Kommission. Verhindert wurde der Beitritt durch das Kooperations- und Kontrollverfahren (CVM) der Europäischen Kommission. Dabei handelt es sich um eine Schutzmaßnahme, die von der Europäischen Kommission in Anspruch genommen wird, wenn ein neues Mitglied oder ein beitretender Staat der Europäischen Union die im Rahmen der Beitrittsverhandlungen eingegangenen Verpflichtungen in den Bereichen des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts oder der Binnenmarktpolitik nicht erfüllt hat. Ursprünglich koppelten Deutschland und Frankreich den Schengen-Beitritt Rumäniens mit dem Argument an den CVM, dass Defizite bei der Unabhängigkeit der Justiz bestehen und die Korruption in Rumänien auch die Grenzsicherheit betreffen würde.
Nach Jahren eher stiller diplomatischer Bemühungen erklärt der rumänische Staatspräsident Klaus Iohannis im Juni 2021 den Schengen-Beitritt zum wichtigsten Ziel der rumänischen Außenpolitik. Im Juli 2021 spricht der damalige rumänische Premierminister Florin Citu in Brüssel die Notwendigkeit der Aufhebung des CVM für Rumänien an und plädiert für einen schnellen Beitritt Rumäniens zum Schengen-Raum. Nach der russischen Invasion in der Ukraine kommt Bewegung in die Thematik: Rumänien nimmt eine Schlüsselrolle bei der Unterstützung der Ukraine und auch bei der Aufnahme und Versorgung von ukrainischen Flüchtlingen ein. Das Land erweist sich als absolut zuverlässiger NATO-Partner und konstruktiver außen- und sicherheitspolitischer Akteur im Konzert der europäischen Kräfte. Es ist klar: Rumänien hat nun deutlich mehr Gewicht, um seinem Wunsch auf den Schengen-Beitritt Nachdruck zu verleihen.
Im Mai 2022 empfiehlt die EU-Kommission dem Europäischen Rat die Aufnahme von Rumänien, Bulgarien und Kroatien in den Schengen-Raum. Im Juli 2022 lädt der rumänische Innenminister Lucian Bode ein unabhängiges Experten-Team der EU-Kommission nach Rumänien ein, um die Bereitschaft des Landes zum Schengen-Beitritt vor Ort zu begutachten. Ende August 2022 spricht sich nun der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz im Rahmen seiner europapolitischen Grundsatzrede in Prag für den Schengen-Beitritt von Kroatien, Rumänien und Bulgarien aus: „Ich werde mich dafür einsetzen, dass sie Vollmitglieder werden“. Diese klare Positionierung des Deutschen Kanzlers – aber auch die entsprechenden Äußerungen vielen anderer rumänischer und europäischer Politiker - führe in der rumänischen Öffentlichkeit zu der Erwartungshaltung: Jetzt wird es endlich klappen mit dem Schengen-Beitritt!
Im Oktober 2022 stimmt dann auch das EU-Parlament mit großer Mehrheit für Beitritt Rumäniens und Bulgariens. Widerstand kommt nur noch aus den Niederlanden, das auf die bekannten CVM-Mängel im Bereich der Unabhängigkeit der Justiz und der Korruption verweist. In intensiven bilateralen Gesprächen und Verhandlungen gelingt es Rumänien jedoch, hier einen Kompromiss mit der niederländischen Regierung zu finden. Im November 2022 stellt die EU-Kommissarin für Inneres, Ylva Johansson, schließlich fest: „Es ist an der Zeit „willkommen“ zu sagen. Die drei Länder verdienen es, Vollmitglieder zu werden.“ Es wird festgestellt, dass Rumänien alle Bedingungen des CVM zufriedenstellend erfüllt und das Verfahren wird eingestellt.
Nun allerdings kündigt der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer während eines Besuchs in Kroatien überraschend ein Veto seines Landes gegen den Schengen-Beitritt Bulgariens und Rumäniens aus: „Von 100.000 illegalen Migranten in Österreich haben 75.000 unser Land unregistriert erreicht. Unsere Ermittlungen ergaben, dass die meisten dieser Migranten über Bulgarien und Rumänien nach Österreich kamen.“ Das pikante an dieser Äußerung? Sie ist schlicht falsch. Weniger als drei Prozent der irregulären Migranten, die in Österreich Asyl beantragen, haben vorher Rumänien durchquert. Rumänien konnte alle von der österreichischen Regierung vorgebrachten Argumente gegen einen Schengen-Beitritt rasch widerlegen, bot Gespräche und eine gemeinsame Suche nach Kompromissen an. Österreich blieb jedoch bei seiner Haltung und legte am 8. Dezember 2022 im Rat für Justiz und Inneres sein Veto gegen den Schengen-Beitritt Rumäniens und auch Bulgariens ein.
Wütende Reaktionen aus Rumänien
Am Tag nach der Abstimmung im Rat für Justiz und Inneres wirft das rumänische Außenministerium der österreichischen Regierung in einer Pressemitteilung eine „inakzeptable, ungerechtfertigte und unfreundliche Haltung“ vor. Das Veto habe „unweigerlich Folgen für die bilateralen Beziehungen“. Außerdem sei die Berufung der österreichischen Seite auf das Problem der zunehmenden Migrationsströme ungerecht, da alle von der EU-Agentur Frontex offiziell vorgelegten Daten eindeutig zeigten, dass Rumänien nicht auf der Migrationsroute des westlichen Balkans liege, keinem Migrationsdruck ausgesetzt sei und keine sekundären Migrationsbewegungen auslöse. Rumäniens Staatspräsident Iohannis nennt das Veto „problematisch - für uns alle in Rumänien“. Er sei „enttäuscht und verärgert“, da sich Rumänien „seit elf Jahren bemüht, verhandelt und hofft, Schengen-Vollmitglied zu werden.“ Sein Fazit: „Rumänien erhielt ein unverdientes NEIN für eine Problematik, die es nicht verursacht hat. Im Gegenteil, Rumänien ist sehr aktiv bei der Bekämpfung der illegalen Migration.“
Schärfere Töne schlägt der Präsident der rumänischen Abgeordnetenkammer und Vorsitzender der Regierungskoalitionspartei PSD (Sozialdemokratische Partei) Marcel an: Rumänien sei nun nicht nur berechtigt, sondern gar verpflichtet jedes Mal ein Veto einzulegen, wenn die Interessen Österreichs zur Abstimmung stehen. Beispielsweise für den anstehenden österreichischen OSZE-Vorsitz im Dezember 2023. Verkehrsminister Sorin Grindeanu (PSD) teilt der Öffentlichkeit mit, dass alle untergeordneten Einheiten und Behörden (u.a. die Öffentliche Bahngesellschaft CFR, nationale Gesellschaft für Infrastruktur und Autobahnbau CNAIR, der Hafen Constanţa usw.) ihre Bankgeschäfte künftig nicht mehr mit der BCR, einer Tochtergesellschaft der Erste Bank Österreich, abwickeln werden. Führungsfiguren aus Gewerkschaften und von Unternehmerverbänden riefen zum Boykott österreichischer Produkte und Dienste auf: „Nicht mehr bei OMV tanken, kein Skifahren in Österreich und Konten bei österreichischen Banken schließen“, so der Tenor in den sozialen Medien. Rund 370.000 rumänische Touristen lassen bisher jährlich 250 Millionen Euro in österreichischen Hotels und Restaurants.
Die rumänische Presse kritisiert einhellig die „willkürliche Entscheidung Österreichs, die man weder erklären noch verstehen kann. Es ist eine Erpressung aller anderen europäischen Länder, um das Problem der illegalen Migration zu akzentuieren“, so PressOne. Rumänien sei „aus einem vorgeschobenen Grund“ abgelehnt worden, „den wir nicht zu verantworten haben“ (Spotmedia). Auch traditionell ausgewogen berichtende Journalisten wie Florin Negruțiu (Digi 24, Republica) urteilen scharf und sehen eine russische Beeinflussung Österreichs: „Das riecht zu sehr nach Russland, denn es ist nämlich kein Angriff auf Rumänien, sondern auf die gesamte Europäische Union“. Auch die Wirtschaftszeitung „Ziarul Financiar“ sieht in der Entscheidung Österreichs eine „Spaltung Europas mit Russland vor der Haustür“. Es wird allerdings auch zur Besonnenheit aufgerufen: „Ein Boykott ist natürlich keine Lösung. Er wirkt sich auf Steuern und Arbeitsplätze in unserem Land aus“, so vereinzelte Stimmen aus der Wirtschaft. Einige in Rumänien ansässige österreichische Unternehmen sehen sich veranlasst, sich in Solidaritäts-Mitteilungen und Statements gegen das Veto der österreichischen Regierung auszusprechen.
Suche nach einem Ausweg
Inmitten von zunehmender Inflation, anhaltender Energiekrise, einem brutalen Krieg im Nachbarland und dem regelmäßigen innenpolitischen Hickhack, das die ohnehin politikverdrossene rumänische Bevölkerung frustriert, setzten Staatspräsident und Regierung auf Erfolge in der Außenpolitik. Der Schengen-Beitritt schien hierbei ein sichereres Pferd. Vor allem weil Rumänien endlich alle wichtigen Stimmen an seiner Seite hatte: Deutschland, Frankreich, das EU-Parlament und die EU-Kommission. Selbst die rumänischen Parteien zogen einmal alle am gleichen Strang. Mit jedem positiven Votum zum rumänischen Schengen-Beitritt aus dem Ausland stieg aber auch die Erwartungshaltung der rumänischen Bürger. Auch deshalb schmerzt das österreichische Veto jetzt so sehr.
Österreich ist mit rund 13 Mrd. Euro der zweitwichtigste Handelspartner Rumäniens. Auf wen soll man sich in der EU verlassen, wenn jetzt ein wichtiges Partnerland, zu dem man traditionell sehr gute bilaterale Beziehungen unterhält, Rumänien in den Rücken fällt? Schlimmer ist noch, dass Österreich eine „Mogelpackung“ als Erklärung für sein Veto verkauft und die Schengen-Debatte für interne politische Zwecke – die anstehenden Wahlen im Januar 2023 - instrumentalisiert. Es besteht die Gefahr, dass europaskeptische Stimmen in Rumänien nun stärker werden. Die rechtsextreme rumänische Partei AUR (Allianz für Vereinigung der Rumänen) versucht bereits Kapital aus dem Frust der Bevölkerung zu schlagen, organisiert Proteste und ruft zum landesweiten Boykott österreichischer Firmen auf. Noch hält sich der öffentliche Zuspruch der Bevölkerung hierfür in Grenzen. Derzeit scheint die Wut Rumäniens allein gegen Österreich gerichtet zu sein. Noch!
Nach Abschluss des CVM sollten wir den Schengen-Betritt Rumäniens und Bulgariens weiter klar diplomatisch und politisch unterstützen. Deutschland muss seinen Beitrag dazu leisten, dem Nachbarland Österreich zu verdeutlichen, dass die Blockade des Schengen-Beitritts von Rumänien und Bulgarien die falsche Plattform ist, um ein Zeichen gegen eine angeblich gescheiterte europäische Asyl-Politik zu setzen. Wir dürfen, sollten und müssen Rumänien und Bulgarien als Teil der Lösung für sichere EU Außengrenzen sehen. Jetzt ist die beste Gelegenheit offene Fragen bzgl. des Grenzregimes kooperativ und mit Nachdruck gemeinsam zu lösen. Rumänien signalisiert hier alle Bereitschaft. Österreich muss nach dem angerichteten Schaden jetzt konstruktiv den ersten Schritt auf Rumänien zu machen.