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Länderberichte

Rumänische Justiz vor dem EuGH

von Hartmut Rank, Christoph Popa

Untersuchung der sog. „Justizgesetze“, der Rechtmäßigkeit des Kooperations- und Kontrollverfahrens (CVM) und von Fällen des rumänischen Verfassungsgerichts

Rumänien befindet sich seit seinem Betritt zur Europäischen Union in einem Prozess der Entwicklung hin zur Harmonisierung mit den fundamentalen Grundsätzen und Prinzipien, für die die EU steht. Diese Entwicklung wird von der Europäischen Kommission seit dem Beitritt im Jahr 2007 durch das Kooperations- und Kontrollverfahren (auch als „Verfahren für Zusammenarbeit und Überprüfung“ bezeichnet, VZÜ, engl. CVM) begleitet. Im Rahmen der ursprünglich als kurzfristig geplanten, mittlerweile knapp anderthalb Jahrzehnte andauernden Monitoring berichtet die Europäische Kommission jährlich über die Fortschritte der Mitgliedsstaaten Bulgarien sowie Rumänien in Bezug auf deren rechtsstaatliche Entwicklung. Momentan sind gleich mehrere Fälle, die sich mit zentralen Aspekten des rumänischen Justizsystems befassen, vor dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) anhängig. Neben einer Bewertung der in Rumänien umstrittenen Justizreformen der Jahre 2017-2019 ist auch die Frage, inwieweit die CVM-Empfehlungen der EU-Kommission verbindlich sind, Gegenstand von in Kürze zu erwartenden Entscheidungen. Schon die Analyse der beim im Luxemburg ansässigen Gerichtshof anhängigen Fälle sowie der Anträge des Generalanwalts lassen eine Reihe von Schlüssen zu.

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Frühere „CVM-Berichte“ zu Rumänien zeigten beachtenswerte Fortschritte in der Bekämpfung der Korruption und Förderung der Unabhängigkeit des Justizsystems.  Infolge struktureller Verschlechterungen in den Jahren 2017-2019 in den genannten Bereichen stagnierte die positive Entwicklung Rumäniens nicht nur, vielmehr wurden die gelobten Fortschritte zunichte gemacht.  

Der aus Sicht der Europäischen Kommission zuletzt rückschrittliche Weg, auf dem sich Rumänien bis 2019 befunden hat, führte zu viel Kritik aus dem Ausland und Protesten in Rumänien selbst. Durch diese Entwicklung sahen sich rumänische Gerichte verpflichtet, den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg um Vorabentscheidungen in mehreren Rechtsfragen zu ersuchen, um auf diese Weise dessen Auslegung des Unionsrechts zu erfahren. Im Kern geht es dabei um die Rechtsnatur der Entscheidungen und Berichte im Rahmen des CVM-Verfahrens, also um die Frage, ob diese verbindlich sind. Zusätzlich beantragten rumänische Gerichte eine Klärung, inwieweit die sog. „Justizgesetze“ gegen das Unionsrecht verstoßen. Auch mehrere Entscheidungen des rumänischen Verfassungsgerichts wurden zur Überprüfung der Unionsrechtskonformität an den EuGH übersandt.

 

Anhängige Rechtssachen im Überblick

Aktuell sind mehrere Fälle und Fragen vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) anhängig, die einen Bezug zu Rumänien aufweisen. Konkret betreffen einige dieser Fälle die umstrittene Justizreform, die durch eine PSD-geführte Regierung unter dem damaligen rumänischen Ministerpräsidenten Mihai Tudose am 23. August 2017 vorgestellt wurde. Hierauf folgten nicht nur Proteste in Rumänien selbst, auch in Brüssel sah man dies kritisch. Neben den Demonstrationen in vielen Städten Rumäniens fanden auch berufsständische Vereinigungen den Mut, Kritik zu üben. Einzelne Richter setzten Verfahren aus und wählten den Weg des Vorabentscheidungsersuchens. Deutlich wird vor allem, dass die Vereinigung „Forum der Richter Rumäniens“ einen erheblichen Anteil an der Bewegung hin zur Überprüfung der nationalen Vorschriften hat. Die Vereinigung ist an drei der fünf verbundenen Rechtssachen beteiligt und zeigt sich in einem Interview ihres Vorsitzenden Dragoș Călin positiv überrascht über den Mut und die Bereitschaft weiterer Richter und Staatsanwälte, dieser Bewegung zu folgen und sie zu unterstützen.  

Im Kern der Rechtssachen steht die Frage, inwieweit die sog. „Justizgesetze“ und der daraus resultierende strukturelle Wandel mit dem Unionsrecht vereinbar sind. Vor allem wird die Vereinbarkeit mit den rechtsstaatlichen Grundsätzen in Frage gestellt. Sollte der EuGH der Sichtweise der Antragsteller folgen und die fragliche Reform der sog. „Justizgesetze“ als unionsrechtswidrig bewerten, würde allein dies bereits einen Fortschritt für die rechtsstaatliche Entwicklung Rumäniens bedeuten.

 

Bewertung der Entscheidungen und Berichte im Rahmen des CVM-Verfahrens

Rumänische Gerichte ersuchten die Hilfe des EuGH hauptsächlich, um die Rechtsnatur der auf Grundlage des CVM-Verfahrens erlassenen Entscheidungen und Berichte zu klären. Generalanwalt Michal Bobek schlug in seinen veröffentlichten Schlussanträgen folgende Lösung vor: Der Erlass solcher Entscheidungen und Berichte seien Handlungen eines Organs der Europäischen Union. Laut Art. 267 Abs. 1 lit. b AEUV ist eine solche Handlung erforderlich, um eine Vorabentscheidung durch den EuGH beantragen zu können. Der Generalanwalt bejahte diese Fragestellung mit der Begründung, die Entscheidung basierend auf dem CVM-Verfahren sei ein Beschluss im Sinne des Art. 288 Abs. 4 AEUV und sie sei auf Grundlage der Art. 37 und 38 der Beitrittsakte erlassen worden.  Untersucht wurde auch die rechtliche Wirkung der CVM-Entscheidungen bzw. -Berichte und deren Verbindlichkeit für einen Mitgliedsstaat. Hier differenzierte der Generalanwalt zwischen der CVM-Entscheidung und dem CVM-Bericht, kam aber in beiden Fällen zu einer Verbindlichkeit für Rumänien.

Erstere begründet sich auf den Wortlaut des Art. 288 Abs. 4 AEUV, wonach Beschlüsse grundsätzlich bindend sind. Zudem würde eine fehlende Verbindlichkeit der CVM-Entscheidungen faktisch zu einer Aufgabe der Kernanforderungen des Beitritts zur Europäischen Union führen.  Hinsichtlich der VZÜ-Berichte befand der Generalanwalt, sie seien keine „Handlung“ im Sinne des Art. 288 Abs. 4 AEUV, sondern stellten vielmehr ein Rechtsakt eigener Art dar.  Die Verbindlichkeit für den Mitgliedsstaat resultiert infolgedessen aus Art. 4 Abs. 3 EUV, dem sog. „effet utile“-Grundsatz. Hieraus leitet der Generalanwalt eine verstärkte Verpflichtung des Mitgliedsstaats, der sich in einem CVM-Verfahren befindet, zur „loyalen Zusammenarbeit“ mit der Europäischen Kommission ab. Vor allem bezieht sich diese Verpflichtung darauf, dass die Kommissionsberichte im Rahmen nationaler Justizreformen und dem Erlass von Gesetzes- bzw. Verwaltungsmaßnahmen ausreichend berücksichtigt werden müssten.

Somit wurden die vorab zu klärenden Fragen hinsichtlich der Rechtsnatur der Handlungen und deren Verbindlichkeit im Rahmen des CVM-Verfahrens beantwortet: nun steht fest, dass das Unionsrecht Anwendung findet und die Fragen in die Zuständigkeit des EuGH fallen.

 

Beurteilung der in Rede stehenden nationalen Bestimmungen

Rumänien befand sich, laut den Berichten der Europäischen Kommission, bis 2017 auf einem guten Weg und hätte wohl durch die Erfüllung der Vorgaben und Empfehlungen der Europäischen Kommission das CVM-Verfahren bereits beenden können. Die dann folgende strukturelle Verschlechterung im Bereich der Unabhängigkeit der Justiz und der Korruptionsbekämpfung ließ die Kommission umdenken. Die EU-Kommission sah in der damaligen rumänischen Justizreform in dieser Form eine zunehmende Gefahr politischer Einflussnahme auf Entscheidungen der Judikative, obwohl der Mitgliedsstaat genau diese Entwicklung hätte verhindern sollen.

Ziel der Europäischen Kommission war es, die Unabhängigkeit der Justiz und die Korruptionsbekämpfung auf ein Niveau zu bringen, auf dem eine Verschlechterung nahezu unmöglich ist und somit keiner Kontrolle durch die Europäische Union mehr bedarf. Zunächst sah es diesbezüglich auch gut aus, wie der CVM-Bericht vom Januar 2017 zeigt. Die negativen Auswirkungen vor allem mehrerer rumänischer Dringlichkeitsverordnungen im Jahr 2017 waren enorm, so dass es für die Europäischen Kommission unmöglich erschien, das CVM-Verfahren zu beenden. Konkret kritisiert wurden die vorläufige Ernennung eines Behördenleiters der Justizinspektion sowie die Schaffung der eigenständigen Abteilung für die Untersuchung von Straftaten in der Justiz.

 

Vorläufige Ernennung einer Interimsleitung für die Justizinspektion

Die Ernennung der Interimsleitung der Justizinspektion sorgte für kritische Stellungnahmen und Bedenken hinsichtlich der Unabhängigkeit der rumänischen Justiz. Zwar kann man das Argument der Justizinspektion teils verstehen, wonach das Mandat der früheren Leitung geendet habe, ohne dass die hierfür zuständige Behörde ein neues Auswahlverfahren eingeleitet habe und somit eine Verlängerung des früheren Mandats zwingend gewesen sei. Dennoch zeigen die Wirkungen der Dringlichkeitsverordnung Nr. 77/2018 eine konträre Entwicklung zu den eigentlich gewünschten Fortschritten in Richtung einer unabhängigen Justiz. Laut der rumänischen Verfassung ist für die Ernennung der Leitung der Justizinspektion der Oberste Richterrat („Oberster Magistraturrat“) zuständig. Die Behörde wird als Garant der richterlichen Unabhängigkeit angesehen, wurde aber durch die Dringlichkeitsverordnung Nr. 77/2018 vielmehr in ihren verfassungsmäßigen Rechten beschränkt. Faktisch wurde dem Obersten Richterrat die Möglichkeit der Ermessensausübung genommen und eine automatische Verlängerung des Mandats, durch ein anderes, als das gesetzlich vorgeschriebene Verfahren, ermöglicht. Diese Einschränkung der verfassungsmäßigen Rechte des Obersten Richterrats durch eine Dringlichkeitsverordnung verletzt nicht nur die rumänische Verfassung, sondern verstößt gleichzeitig auch gegen das Unionsrecht.

Das Unionsrecht erfordert grundsätzlich die Vermeidung von Rechtsakten, durch die eine politische Einflussnahme bzw. politischer Druck auf die Judikative entstehen könnte. Dies soll durch Art. 19 Abs. 1 EUV und Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gewährleistet werden. Aus Sicht des Generalanwalts stehen die genannten Vorschriften dem durch die Dringlichkeitsverordnung Nr. 77/2018 geschaffenen System entgegen, da es die erforderlichen Garantien nicht gewährleisten kann. Dies wird vor allem durch die Tatsache deutlich, dass die Dringlichkeitsverordnung es der Regierung möglich macht, ein bereits abgelaufenes Mandat zu verlängern, ohne dass die nach der rumänischen Verfassung hierfür zuständige Behörde ihr Ermessen in dieser Frage ausüben kann.

Hier wird auch deutlich, warum die Europäische Kommission die Justizgesetze in der damaligen Form und vor allem die Wirkungen der Dringlichkeitsverordnungen derart kritisiert und als Rückschritt in der Entwicklung Rumäniens sieht. Das vorherige System und in erster Linie die Zuständigkeit des Obersten Richterrats garantierten ein Verfahren nach rechtsstaatlichen Grundsätzen. Durch die Verordnung Nr. 77/2018 und die Möglichkeit der Einflussnahme auf die Ernennung der Leitungsposition laufen rechtsstaatliche Grundsätze Gefahr, untergraben zu werden. Zudem verliert das Justizsystem dadurch ein Stück seiner Unabhängigkeit und unterliegt steigender politischer Einflussnahme.

 

Abteilung für die Untersuchung von Straftaten in der Justiz

Die Mehrheit der aktuell von rumänischen Gerichten dem EuGH vorgelegten Rechtsfragen betreffen die 2018 neu gegründete Abteilung für die Untersuchung von Straftaten in der Justiz (rum.: SIIJ), eine neue Sonderabteilung innerhalb der Staatsanwaltschaft. Die Schaffung dieser Abteilung im Jahr 2018 wurde von Anfang an von starker Kritik begleitet, da eine zunehmende politische Einflussnahme auf die Arbeit der Richter und Staatsanwälte befürchtet wurde.

In diesem Fall erwähnte die Venedig-Kommission auch die Auswirkungen auf die öffentliche Wahrnehmung: Die Schaffung einer neuen Institution erwecke den Eindruck, das Justizsystem sei umfänglich von Kriminalität und Korruption betroffen, da es sonst einer Spezialabteilung innerhalb der Staatsanwaltschaft nicht bedurft hätte. Dass hierdurch aber die Vergehen von Richtern jeglicher Art auf dieselbe Stufe gehoben werden, wie Korruption, organisierte Kriminalität und Terrorismus, erscheint im Kontext unverhältnismäßig.

Dennoch ist die in Rede stehende Sonderabteilung der Staatsanwaltschaft mit einem rechtfertigenden Schleier ummantelt. Selbstverständlich lässt sich sagen, eine unabhängige Sonderabteilung für Vergehen von Richtern und Staatsanwälten führe zu einem Rückgang von Korruption innerhalb des Justizsystems. Zudem führen die hohen Anforderungen einer Tätigkeit in dieser Abteilung möglicherweise ebenso zu mehr Rechtssicherheit und Unabhängigkeit. Es erfordert nämlich eine 18-jährige Erfahrung als Staatsanwalt und die Bewältigung eines transparenten Verfahrens, um überhaupt in die Abteilung aufgenommen werden zu können.

Nichtsdestotrotz erscheint es fraglich, ob die Schaffung einer Sonderabteilung tatsächlich gerechtfertigt war. Seit der Errichtung der Sonderabteilung wird deutlich, dass es an einer vollständigen Funktionsfähigkeit der Abteilung mangelt. Vor allem wird dies durch das Verhältnis der steigenden Anzahl der Fälle im Gegensatz zu der sehr beschränkten Anzahl von Staatsanwälten, die diese Fälle zu bearbeiten haben, deutlich. Zudem fehlt es an einer angemessenen territorialen Struktur, da die Sonderabteilung, im Gegensatz zu anderen Abteilungen der Staatsanwaltschaft, ihren Sitz lediglich in Bukarest hat und nicht in ganz Rumänien vertreten ist. Gegen eine „echte“ Rechtfertigung (und damit im Ergebnis eher für eine Schwächung der Korruptionsbekämpfung) spricht die Tatsache, dass die Sonderabteilung eine ausschließliche Zuständigkeit für Fälle betreffend Richter und Staatsanwälte besitzt. Die Zuständigkeit behält die Abteilung selbst dann, wenn für die gleiche Tat zusätzlich eine andere (nicht der Justiz angehörige) Person strafrechtlich verfolgt wird. Infolge dieser Regelungen ermöglichen fiktive Beschwerden gegen Richter bzw. Staatsanwälte es, gezielt in die Zuständigkeit der Sonderabteilung zu fallen. Somit haben Außenstehende die Möglichkeit, die Zuständigkeiten innerhalb der Justiz zu beeinflussen. Einer Einflussnahme von außen ist dadurch Tür und Tor geöffnet.

Die Errichtung einer solchen Sonderabteilung innerhalb der Staatsanwaltschaft begegnet zunächst wohl keine Bedenken, da womöglich die Hemmschwelle eines strafrechtlichen Verhaltens von Richtern und Staatsanwälten hierdurch deutlich angehoben wird. Jedoch entdeckt man in der Umsetzung eher andere Ziele. Die Sonderabteilung ist nach den bisherigen Vorschriften nicht nur ein „allmächtiger Überbau“, der das Verhalten der Richter und Staatsanwälte kontrollieren soll, sondern bringt eine faktisch fiktive Immunität derjenigen Staatsanwälte hervor, die in dieser Sonderabteilung arbeiten. Dieser „Teufelskreis der Zuständigkeiten“ lässt den Schluss zu, dass die Errichtung dieser Abteilung nicht primär zur Bekämpfung der Korruption motiviert war, sondern tendenziell eher zur politischen Einflussnahme auf Entscheidungen, die seitens der Judikative zu treffen sind.

Aufschlussreich ist die Tatsache, dass die Sonderabteilung unmittelbar nach ihrer Errichtung zunächst Ermittlungen gegen solche Richter und Staatsanwälte eingeleitet bzw. wiederaufgenommen hat, die öffentlich gegen den strukturellen Wandel argumentiert hatten. Zusätzlich wurden Staatsanwälte ins Visier genommen, die zum Zeitpunkt des Erlasses der Vorschriften über die Sonderabteilung Mitglieder der Regierung strafrechtlich verfolgt haben.

Schlussendlich ergibt sich aus diesen objektiven Aspekten stets der Eindruck, als würde die Abteilung gezielt gegen die Menschen ermitteln, die gegen die Interessen der Initiatoren agierten. Eine solche Entwicklung widerspricht nach unserer Auffassung rechtsstaatlichen Grundsätzen, vor allem deshalb, da dies den Druck auf weitere Richter und Staatsanwälte, die andere Meinungen vertreten, erhöht. Von einer unabhängigen, integren Justiz kann auf Grund dieser Entwicklungen nicht mehr gesprochen werden.

Als weiterer Aspekt muss bedacht werden, dass jeder das Recht auf ein faires Verfahren innerhalb einer angemessenen Frist hat. Rechtsstaatliche Grundsätze sind nicht mehr gewahrt, wenn die angemessene Frist nicht eingehalten werden kann.

Vor allem ist auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 6 Abs. 1 EMRK zu berücksichtigen. Der nicht klar umgrenzte Begriff der Angemessenheit ist zwar stets unter den besonderen Umständen des Einzelfalls zu bewerten, jedoch müssen auch objektive Aspekte herangezogen werden. Ein solcher Aspekt würde aus objektiven Gesichtspunkten schon dann gegen rechtsstaatliche Grundsätze sprechen, soweit er faktisch der Möglichkeit der Einhaltung der angemessenen Frist entgegensteht. Der EGMR spricht hier von der Verpflichtung der Staaten, sich in einer Weise zu organisieren, in der die Justiz den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK entsprechen kann.

Durch die Errichtung der Sonderabteilung hat Rumänien gegen dieses Prinzip verstoßen und somit eine Maßnahme umgesetzt, die rechtsstaatlichen Grundsätzen widerspricht. Die Anzahl der innerhalb der Sonderabteilung beschäftigten Staatsanwälte ist derart gering, dass es unmöglich erscheint, die Verfahren in angemessener Zeit zu bearbeiten. Dies wird zwangsläufig zu einer unangemessenen Dauer der Strafverfahren führen. Seitens des Mitgliedsstaates ist demnach wohl festzustellen, dass eine fehlerhafte Organisation der Sonderabteilung zu einem Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK geführt hat.

 

Überprüfung mehrerer Entscheidungen des Rumänischen Verfassungsgerichts

Neben den dargestellten Fällen zu den rumänischen Justizreformen sind auch drei weitere Fälle aus den Jahren 2016, 2018 und 2019 in Luxemburg anhängig. Diese betreffen Entscheidungen des rumänischen Verfassungsgerichts (Entscheidung 51/2016, 685/2018 und 417/2019) und zielen allesamt auf die Überprüfung der Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht ab. Konkret entschied das rumänische Verfassungsgericht die Frage, ob die Zusammensetzung einiger Spruchkörper des Obersten Kassations- und Justizgerichtshofs (Înalta Curte de Casaţie şi Justiție „ICCJ“) unzulässig waren. Zur Vorabentscheidung ersuchten der ICCJ und das Tribunal in Bihor den EuGH mit der Bitte um Überprüfung, ob die Grundsätze der richterlichen Unabhängigkeit und Rechtsstaatlichkeit sowie der Schutz der finanziellen Interessen der EU gewahrt seien.

 

Beteiligung von Inlandsnachrichtendiensten an Überwachungsmaßnahmen

In der Entscheidung 51/2016 erklärte das Verfassungsgericht die Beteiligung von Inlandsnachrichtendiensten an der Durchführung technischer Überwachungsmaßnahmen zum Zweck der strafrechtlichen Ermittlungshandlungen für verfassungswidrig. Der EU Generalanwalt schlug dem EuGH vor, zu entscheiden, dass das EU-Recht der Entscheidung des nationalen Gerichts nicht entgegenstehe, da das Unionsrecht nicht die Voraussetzungen und Anforderungen solcher Maßnahmen normiere, sondern lediglich die Wahrung der unionsrechtlichen Grundsätze fordere. Einen Einfluss solcher verfassungsgerichtlichen Entscheidungen auf laufende bzw. künftige Korruptionsverfahren betrachtet der Generalanwalt als eine logische Konsequenz, die eben nicht gegen die Entscheidung des Verfassungsgerichts spreche.

 

Unzulässige Zusammensetzung von Spruchkörpern

Auch die Entscheidung über die unzulässige Zusammensetzung des ICCJ (685/2018) erachtet der Generalanwalt als unionsrechtskonform. Die Frage der Zusammensetzung liege in der Zuständigkeit des Mitgliedsstaates. Zudem sieht Bobek auch die finanziellen Interessen der Union durch die Entscheidung des Verfassungsgerichts als nicht beeinträchtigt an, schließlich resultieren aus dieser Entscheidung keine neuen Rechtsbehelfe. Ebenfalls würden keine Maßnahmen der Korruptionsbekämpfung untergraben, weswegen auch daraus keine Unionswidrigkeit resultieren könne. Aus Sicht des Generalanwaltes seien keine geeigneten Gründe ersichtlich, die gegen eine Unabhängigkeit bzw. Unparteilichkeit des Verfassungsgerichts sprächen.

 

Fachgremien zur Korruptionsbekämpfung

Die Entscheidung des rumänischen Verfassungsgerichts in der Sache 417/2019 bezog sich auf die Verpflichtung des Obersten Kassationsgerichtshofs zur Einrichtung von Fachgremien zur erstinstanzlichen Auseinandersetzung mit Korruptionsdelikten. Laut dem Verfassungsgericht ist der Oberste Kassationsgerichtshof dieser Verpflichtung nicht nachgekommen. Nach Ansicht des Generalanwalts sollte der EuGH in der Weise entscheiden, dass dieser Beschluss des rumänischen Verfassungsgerichts tatsächlich gegen das EU-Recht verstoße, konkret gegen Art. 325 Abs. 1 AEUV. Er erklärt die Entscheidung des Verfassungsgerichts insofern als unionsrechtswidrig, dass die Zusammensetzung der Spruchkörper nur aufgrund der fehlenden Spezialisierung auf Korruptionsfälle für rechtswidrig erklärt werden würde. Dies hätte zur Folge, dass zahlreiche erstinstanzliche Korruptionsfälle zwischen April 2003 und Januar 2019 erneut überprüft und verhandelt werden müssten. Bedenken entstehen im Hinblick auf die praktischen Folgen des Beschlusses: Nach Auffassung des Generalanwalts würde die nachträgliche Straffreiheit in einer hohen Zahl von Fällen einen Nachteil der finanziellen Interessen der EU darstellen. Daher wertet er die rumänische Entscheidung als unionsrechtswidrig, die die Verpflichtung des Mitgliedsstaates zur Wahrung der finanziellen Interessen der EU, die aus Art. 325 Abs. 1 AEUV resultiert, verletze.

 

Ausblick

Die abschließenden Entscheidungen des EuGH in diesen Rechtssachen stehen noch aus.

Nach den rumänischen Parlamentswahlen Ende 2020 ist in Rumänien erneut Bewegung in Richtung EU-konformer Justizreformen gekommen. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Streits um die Einhaltung von Rechtsstaatsprinzipien in weiteren EU-Mitgliedsstaaten wird dieser Schritt nicht nur der Europäischen Kommission gefallen. Letztlich wird er auch Rumänien nützen, da damit das angestrebte Ende des schon seit 2007 geltenden CVM-Mechanismus in Sichtweite rückt. Für dieses Ziel wurde ein optimistischer und engagierter Zeitplan erstellt, aus dem sich ergibt, dass bereits Ende April 2021 die Gesetzesentwürfe vorgelegt werden sollen.  Konkrete Schritte sind bereits eingeleitet. Mitte Februar 2021 hat der rumänische Justizminister Stelian Ion (Mitglied der Partei Union zur Rettung Rumäniens, USR) einen entsprechenden Gesetzesentwurf an die Regierung übersandt. 2020 konnte diese Reform nicht umgesetzt werden, da die PNL-geführten Minderheitsregierungen sich situativ Mehrheiten suchen mussten und nach Ausbruch der Pandemie andere Fragen dringender waren.

Der Gesetzesentwurf des Justizministers zielt auf die Abschaffung der Abteilung für Sonderermittlungen innerhalb der Justiz. Der Justizminister begründet diesen Schritt mit dem Wunsch, zur Normalität zurückzufinden. Zudem bezeichnet er die Sonderabteilung als ein ineffizientes Organ, das sein Ziel, Richter, die das Gesetz verletzen zur Rechenschaft zu ziehen, vollständig verfehlt hat. Außerdem hatte die Sonderabteilung lediglich zwei Fälle pro Jahr vor Gericht gebracht hat. Hierüber zeigt sich der Justizminister sehr verwundert.
 
Dennoch bleibt abzuwarten, inwieweit die aktuelle Regierung die Anforderungen der EU umsetzen wird und ob die negativen Auswirkungen der strukturellen Veränderungen in Rumänien nicht noch versteckte Baustellen aufgeworfen hat. Schließlich sank nicht nur das Vertrauen der Europäischen Kommission in die Standfestigkeit der rechtsstaatlichen Entwicklung Rumäniens, sondern zusätzlich auch das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung und der Fortschritte im Kampf gegen die Korruption auf höchster Ebene. Es wird mehr als nur eines Gesetzes bedürfen, das Vertrauen der rumänischen Bevölkerung in die Justiz wiederherzustellen.

Hierbei können die Entscheidungen des EuGH bereits den ersten Schritt ebnen. Aufgrund des Grundsatzes des Anwendungsvorrangs des EU-Rechts müssen supranationale vor nationalen Vorschriften und Regelungen angewendet werden. Im konkreten Fall würde die Kollision unionsrechtlicher Grundsätze mit nationalen Regelungen bedeuten, dass die EU-Vorschriften vorrangig anzuwenden sind. Sollte sich Rumänien an diesen Entscheidungen orientieren und diese als Gradmesser heranziehen, dürfte es bereits in näherer Zukunft Gesetzesänderungen geben, die den Vorgaben der EU entsprechen und das Land weiter in Richtung eines voll funktionierenden Rechtsstaats bewegen.

Es bleibt abzuwarten, wie der EuGH die hier dargestellten Fälle beurteilt. Unabhängig davon ist es zu begrüßen, dass das Parlament nun Reformen des rumänischen Justizsystems wieder ernsthaft in Angriff genommen hat.

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Dr. Pavel Usvatov

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