Veranstaltungsberichte
Welche Bedeutung kommt dem Heimat-Begriff zu? Wie gewinnen die Menschen ihre Identität und wie wächst Sachsen-Anhalt als Bundesland zusammen? Diese Fragen standen im Mittelpunkt eines Gesprächsforums der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. in Zusammenarbeit mit dem Halleschen Salinemuseum e.V. in Halle (Saale). Die Kooperationspartner hatten ins Technische Halloren- und Salinemuseum geladen; Vereinsvorsitzender Steffen Kohlert führte vor Veranstaltungsbeginn durch das Museum und stellte die Einrichtung im Rahmen eines Grußwortes vor. Der frühere Ministerpräsident Dr. Christoph Bergner MdB moderierte die Diskussion.
Der ehemalige Hallenser Oberbürgermeister Dr. Klaus-Peter Rauen stellte dar, dass der Heimatbegriff sehr vielschichtig und individuell zu betrachten ist – es handelt sich um ein „komplexes Etwas aus psychologischen, geistigen und materiellen Elementen“. An seiner eigenen – von mehreren Brüchen durchzogenen - Biographie zeigte Rauen diese Vielschichtigkeit: Im Rheinland geboren und die ersten Lebensjahre in Düsseldorf verbringend, war ein normales Leben unter den Bedingungen des Zweiten Weltkriegs kaum möglich, so dass sich seine Eltern für einen Umzug nach Oberschlesien entschieden, wo der Vater eine neue Arbeitsstelle annahm. In Kattowitz erlebte der Junge friedliche Monate, doch musste die Familie bald vor der herannahenden Front ins Vogtland fliehen. Auch hier konnte Rauen keine „Wurzeln schlagen“ – dies gelang erst nach der Rückkehr ins Rheinland.
Sein rheinländisches Heimatbewusstsein spielte auch in der Zeit als Oberbürgermeister von Halle eine bedeutende Rolle: Als er angesichts der vielen Arbeit manchmal verzweifelt war, legte er eine Platte mit rheinischer Mundart auf und hatte bald wieder ein fröhliches Gemüt. Für das Thema des Abend stellte Dr. Rauen die Frage, wie der Heimat-Begriff für ein „Bindestrich-Land“ wie Sachsen-Anhalt zu versehen sei: Dies wird sehr lange dauern, vielleicht nie gelingen.
Die Geschichte Sachsen-Anhalts ist das wichtigste Forschungsfeld von Prof. Dr. Mathias Tullner (Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg), der als zweiter Referent sein Statement hielt. Auch Tullner blickt beim Heimatbegriff auf Region und Gefühl. Es ist ein sehr individueller Begriff. Heimat hängt zudem von geographischen Gegebenheiten ab und vom Gefühl, dort leben zu können und zu genießen. Doch Heimat kann sich im Leben eines Menschen auch verändern – manch einer muss sich eine neue Heimat suchen.
Für Sachsen-Anhalt sind die Begriffe Heimat und Identität komplizierter als in den anderen „neuen“ Bundesländern. Auf dem Gebiet des heutigen Sachsen-Anhalt gab es eine sehr wechselvolle Geschichte und die kurze Zeit als Bundesland nach 1947 war im Bewusstsein der meisten Menschen bereits vergessen, so Tullner. Eine Identität als Sachsen-Anhalter hatten die Bewohner der einstigen Bezirke Magdeburg und Halle jedoch nicht – sie sahen sich als Altmärker, Anhalter, Harzer usw. Zudem war das heutige Bundesland schon lange Zuwanderungsland, vor allem im Zuge der Industrialisierung (Chemieindustrie, Braunkohleförderung usw.). Auch Halle sei im 19. Jahrhundert sehr schnell gewachsen, weißt einerseits eine lange Tradition auf (Halloren, Universität, Leopoldina), zu der andererseits die Kohle- und Chemiearbeiter hinzukamen.
Angesichts des demografischen Wandels ist Sachsen-Anhalt in den letzten Jahren eher zum Abwanderungsland geworden, aber auch hier ist wieder eine Umkehr möglich. Sachsen-Anhalt weist zwar eine komplizierte Geschichte auf, erringt aber in allen Regionen Spitzenwerte europäischer Kultur. So gibt es im Bundesland vier UNESCO-Weltkulturerbe-Stätten – nach Bayern liegt Sachsen-Anhalt da an zweiter Stelle.
Das Thema Kultur stand bei Clemens Birnbaum im Mittelpunkt der Ausführungen zum Heimatbegriff. Der Direktor der Stiftung Händelhaus und Intendant der Händel-Festspiele verwies auf die Geschichte des Begriffs, der einst einen Rechtsstatus darstellte: „heimatlos“ bedeutete, keine Rechte mehr zu haben. Erst im 19. Jahrhundert wurde der Begriff in der heute bekannten Form besetzt – im Zusammenhang mit der Kleinstaaterei, mit dem wachsenden Regionalbewusstsein im Zeitalter der Napoleonischen Befreiungskriege sowie in der Suche nach Identifikationsfiguren. Als solche wird in Halle der Komponist Georg Friedrich Händel verehrt, auch wenn dieser einen Großteil seines Lebens in England verbracht hat. Die Bürger sammelten einst Geld, um ihm eine Statue auf dem Marktplatz zu errichten (ähnlich wie bei Johann Sebastian Bach in Leipzig).
Während im Ersten Weltkrieg die Verehrung des Wahl-Engländers Händels zu Konflikten führte, spielte dies nach dem Zweiten Weltkrieg kaum noch eine Rolle. Stattdessen wuchs das Bewusstsein zu einer neuen Identität: Europa. Bei Händel war Europa lediglich eine geografische Bezeichnung, nicht aber ein Begriff als Kulturraum. Heute spielt der Heimatbegriff aufgrund von Migration erneut eine bedeutende Rolle – auch bzgl. der Migration innerhalb Deutschlands: Dabei hat es schon immer Binnenmigration gegeben – und so steht die Frage, welche Bedeutung den „Transitorten“ zukommt, ob der Heimatbegriff die Örtlichkeit verliert und weiter/größer zu fassen ist und welche Bedeutung digitale Welten haben. Gerade angesichts der auseinander brechenden Familienverbünde wird letzteres immer wichtiger, denn so wird der Kontakt zwischen den weit vertreuten Angehörigen besser gehalten.
Als weiterer Referent ergriff Wilfried Köhler (Ministerium für Landesentwicklung und Verkehr) das Wort. Er unterschied zwischen dem Heimatbegriff bzgl. des Menschen (Umwelt, Kindheit, Vertrautheit, Freunde, erste Liebe) und der räumlichen Ebene (Landschaft, Bäume, Flüsse, Gebäude, Sprache, Dialekte, Bräuche, Gerüche, Speisen). Köhler stellte fest, dass Sachsen-Anhalt keine gemeinsame Identität aufweise. Doch gelte dies auch für sein Geburtsland Baden-Württemberg, in dem es auch mehr als 25 Jahre bis zu einer gemeinsamen Entwicklung gedauert habe. Auch Sachsen-Anhalt ist ein „Bindestrich-Land“ und da fühlen sich die Menschen eher zu ihrer jeweiligen Region hingezogen, bspw. Harz oder Börde.
Die Identitätsbildung dauert viele Jahre und Unterschiede werden noch lange zu spüren sein – doch gelte es, dieses Spannungsverhältnis produktiv zu nutzen. Auch das das Image Sachsen-Anhalts lange sehr schlecht gewesen und es habe große Bevölkerungsverluste gegeben – auch dies ein Zeichen mangelnder Identität? 2014 sei hingegen erstmals ein positiver Wanderungssaldo zu konstatieren gewesen, wenngleich der demografische Wandel weiterhin eine der größten Herausforderungen des Bundeslandes darstellt. Vor allem fehlt die Jugend, die oftmals ihre Heimat aufgrund Studium/Berufsausbildung verlässt. Um so wichtiger sei es, die Jugendlichen nach ihrer Ausbildung ins Land zurückzugewinnen – ein Weg dazu ist die Identitätsstärkung.
Steffen Kohlert vom Kooperationspartner Hallesches Salinemuseum e.V. schloss den Reigen der Referenten und stellte ein Projekt mit Zeitzeugen der Saline vor. Diese hatten einst abgeschottet mit ihren Familien innerhalb der Gemeinschaft gewohnt, verfügten über keine Beziehungen nach außen. Die nachkommen der einstigen Halloren sehen die Saline selbst nach Jahrhunderten noch als ihre Heimat an, berufen sich auf die lange Tradition. Auch Kohlert sprach die Bedeutung von Leitfiguren an, die nachkommenden Generationen als Vorbild dienen. Vor allem im Jahr 2017 – dem Jahr des 500. Reformationsjubiläum, wird dies für viele Menschen Martin Luther sein.
Aber auch die regionale Wirtschaft kann in eine solche Leitrolle schlüpfen (z.B: „Wir sind Chemie“). Gleiches gilt für Natur (z.B. Harz), Sport/Fußball, Traditionen – doch nach zwei Diktaturen sind viele Traditionen zerstört und müssen mühselig aufgebaut/wieder belebt werden. Die Förderung des Tourismus ist immens notwendig, um die Region und zugleich die Identität zu stärken, denn es gibt in Sachsen-Anhalt sehr viele Sehenswürdigkeiten, die es zu „vermarkten“ gilt.
In der abschließenden Diskussion stand die Frage im Raum, ob die Landespolitik in der Phase nach Wiedergründung des Landes Sachsen-Anhalt die Stärkung der Identität verpasst habe, welche unterschiedlichen Entwicklungen es zwischen Halle und Magdeburg gebe und wie Traditionen wieder belebt werden können. Diskutiert wurde über den großen Erfolg der „Straße der Romanik“, aber auch über den oftmals belächelten Slogan vom „Land der Frühaufsteher“. Zudem stand die Stadt Halle im Blickpunkt der Diskussion- etwa der gestoppte Zerfallsprozess, die Rolle der Kommunalpolitik sowie das Engagement der Bürgerinnen und Bürger. Letztere wurden dazu aufgefordert, ihre Stadt innerhalb der Einwohnerschaft bekannter zu machen, aber vor allem – dies auch nach außen zu tragen und somit Halle als sehenswerten Ort auch außerhalb der Stadtgrenzen zu bewerben.