Seminar
Details
In den neuen Ländern war das Thema „20 Jahre Friedliche Revolution“ unlösbar mit 40 Jahren DDR verbunden. Zwei Defizite sind bei deren bisherigen Aufarbeitung bemerkenswert: Zum einen gibt es keine ausreichende Darstellung der Alltagsgeschichte der DDR, die die Lebenssituation und Lebensleis-tung der Menschen angemessen darstellt bzw. würdigt, zum anderen wird der gesamte Komplex nur unter dem Stichwort des Erinnerns behandelt. Ziel des Seminars ist es, die Befindlichkeiten der Men-schen in den neuen Ländern zu thematisieren und zu reflektieren. Die Einnahme individueller Perspek-tiven hilft dabei, allgemein ausgeblendete Aspekte zu beleuchten. Diese „Kümmerer-Strategie“ wurde Anfang der 90er Jahre von der CDU eingesetzt, später nur noch von der PDS genutzt. Gegenwärtig wird sie von der NPD erfolgreich kopiert. Der Wertverlust des unter den Widrigkeiten des DDR-Systems geschaffenen bescheidenen Wohlstands der DDR-Bürger als auch die geringe Wertschätzung ihrer Lebensleistung führen zu einer „narzistischen Kränkung“. Hinzu kommt die Marginalisierung ganzer Parallelgesellschaften der ehemaligen DDR in der öffentlichen Wahrnehmung, die den Rückzug und die Ignoranz gegenüber aktuellen gesellschaftlichen Prozessen verstärkt. Viele Konfliktlinien lassen sich mit herkömmlichen demoskopischen und soziologischen Begriffen nicht fassen und werden dementsprechend im gesellschaftlichen Diskurs auch nicht thematisiert, da empirische Daten fehlen.
So scheint sich das Phänomen „DDR“ der gerechten Beurteilung zu entziehen. Ein großer Teil der ehemaligen DDR-Bürger verklärt die Vergangenheit. Der Alltag in der Diktatur wird sehr oft als ange-nehm, geschützt, wohlgeordnet und sozial sicher bewertet. Negative Aspekte werden vollkommen ausgeblendet. Teilweise scheint die Vergangenheit im Verhältnis zur Gegenwart ein anzustrebender Zustand zu sein, den man erst im Nachhinein richtig zu begreifen scheint. Ist diese Haltung notwendig, um mit der Erblast der Vergangenheit leben zu können? Zeitzeugen erinnern sich an eine vergleichsweise sorgenfrei erscheinende Zeit, in der man in vermeintlicher sozialer Sicherheit, freilich in eingeschränkten Lebensverhältnissen und ohne die im Westen selbstverständlichen bürgerlichen Freiheiten, in seiner Nische ein privates Glück genießen konnte. Die gesamtwirtschaftlichen Probleme wurden aufgrund der Zensur überhaupt nicht wahrgenommen. Im Kontrast dazu erscheinen häufig die wirtschaftlichen Schwierigkeiten nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit als existentielle Bedrohung, ohne zu realisieren, dass gerade die desolate Lage der DDR-Wirtschaft maßgeblich für diese Probleme verantwortlich ist.
Die Bewertung und wissenschaftliche Aufarbeitung der DDR legt hingegen ihren Fokus in die verdrängten Teile der Diktaturerfahrung. Sie will bewusst machen, wie verbrecherisch geschlossene Systeme werden können, wenn jede Form externer Normierungen verloren geht. Beide Positionen, die „Ostalgie“ und die damit einhergehende Relativierung als auch die „Dämonisierung“ werden dem Alltagserleben der DDR-Bürger nicht gerecht. Das DDR-System war ein „Ideologieschwellensystem“, das besonders aktiv wurde, wenn man sich nicht systemkonform verhielt. Dann offenbarte es alle Dimensionen eines totalitären Staates. Die (Lebens)Kunst bestand darin, minimale Kompromisslinien zu finden statt vor-auseilenden Gehorsam zu leisten.
Das Seminar reflektiert bewusst die sinnliche und emotionale Wahrnehmung der Vergangenheit und versucht zu zeigen, wie die DDR aus einer internen Perspektive empfunden wurde. Die Themen sollen in Differenz zur Gegenwart sichtbar machen, worunter man gelitten und was man schätzen gelernt hat. Diese Form des Verstehens kann helfen, den Weg in eine gemeinsame Zukunft zu gestalten.
Prüfungsleistungen:
Intensive Mitarbeit in der Lehrveranstaltung, Referat mit Präsentationspapier
Themenvorschläge:
Medien, Bildung, Kultur (Kabarett, Musikszene, Literatur), Xenophobie (Fremde), Opposition (Friedens-bewegung), Umweltsituation, Stasi, Planwirtschaft, Versorgungssituation (Mangel), Religion, Kirchen (Studentengemeinden), Konsiliarer Prozess, Sport, Wehrdienst (Bausoldaten), Ideologie, Wissenschaft, Wissenschaftlicher Atheismus
Melden Sie sich für das Seminar über OPAL an.
Organisation des Blockseminars (über Konrad-Adenauer-Stiftung):
Kerstin Brockow
E-Mail: kerstin.brockow@kas.de
Telefon: 0351-5634460
Literatur.
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Fest, J. (1993) Die schwierige Freiheit – Über die offene Flanke der offenen Gesellschaft, Berlin: Siedler
Klose, J. Hg. (2010) Wie schmeckte die DDR? Wege zu einer Kultur des Erinnerns, Leipzig: Evangeli-sche Verlagsanstalt
Klose, J. Hg. (2010) Die Belter-Gruppe. Studentischer Widerstand gegen das SED-Regime, Leipzig: Universitätsverlag
Klose, J. Hg. (2010) Ohnmacht der Studentenräte? Wolfgang Natonek und die Studentenräte nach 1945 an der Universität Leipzig, Leipzig: Universitätsverlag
Luhmann, N. (2003) Macht, Stuttgart: Lucius & Lucius
Plessner, H. (2001) Grenzen der Gemeinschaft – Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Frankfurt am Main: Suhrkamp
Popper, K.-R. (1980) Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band I+II, München: A. Francke
Prause, E., Klose, J. Hg. (2002) Lust am Leben. Die katholische Studentengemeinde Dresden, Leipzig: St. Benno
Saage, R. (1991) Politische Utopien der Neuzeit, Damstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft
Tönnies, F. (1991) Gemeinschaft und Gesellschaft, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft
Voegelin, E. (1993) Die politischen Religionen, München: Fink
Wolf, N. (2007) The End of America: Letter of Warning to a Young Patriot, White River Junction: Chelsea Green