Kein Wettbewerb, keine Wahl
Kaum jemand hatte erwartet, dass die Parlamentswahlen in Aserbaidschan am 01. September frei und fair ablaufen oder dass unabhängige Kandidaten eine realistische Chance besitzen würden, ins Parlament gewählt zu werden. Die Erwartungen wurden umfassend bestätigt. Dabei waren es weniger Unregelmäßigkeiten bei der Organisation der Stimmabgabe, vielmehr hatte Präsident Alijew bereits im Vorfeld klar gemacht, dass es für die Wählerinnen und Wähler in Aserbaidschan faktisch keine Wahl geben würde. Nur eine verschwindend geringe Zahl tatsächlich unabhängiger Kandidaten wurde überhaupt registriert, und dort, wo diese antraten, war sichergestellt, dass die Vertreter des Regimes gewinnen würden. Zudem war das Land in den Wochen und Monaten vor der Wahl von einer weiteren massiven Welle von Repressionen gegen Regimekrititer überrollt worden. Die OSZE-Wahlbeobachtermission erklärte dementsprechend, dass die Wahlen zwar technisch gut organisiert worden waren, allerdings unter restriktiven politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen stattfanden. Das schlug sich in einem kaum sichtbaren Wahlkampf nieder, der wiederum die vollständige Abwesenheit eines politischen Pluralismus im Land widerspiegelte. Da den „Systemkandidaten“ von Alijew der Sitz im Parlament ohnehin sicher war, mussten diese auch nicht nennenswert in einen Wahlkampf investieren. Das schienen auch die Wählerinnen und Wähler so zu sehen: Die Wahlbeteiligung lag nach offiziellen Angaben bei etwas mehr als 37%, zehn Prozent weniger als bei den letzten Wahlen in 2020 (48%) und zwanzig Prozent weniger als bei den Parlamentswahlen in 2015 (56%). Das spricht für die tiefe politische Apathie in der aserbaidschanischen Bevölkerung, die bereits bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen im Februar manifest gewesen ist.
Unabhängig und “unabhängig’”
Laut der Nachrichtenagentur Turan entfielen auf die Regierungspartei 67 Sitze, mehrere kleinere Parteien wie die „Zivile Solidarität“ oder „Recht, Gesetz und Demokratie“ gewannen zwei oder drei Sitze, vor allem werden aber 45 nominell unabhängige Abgeordnete im neuen Parlament sitzen. Das bedarf einer Erläuterung: Es ist eine eingeübte Praxis autoritärer Regime, durch Aneignung von Begrifflichkeiten aus dem demokratischen Diskurs die Illusion zu erwecken, dass Organisationen, Institutionen, oder Prozesse in einem Sinne verfasst sind oder ablaufen, wie wir es etwa aus der EU kennen. Diese Imitierung ist jedoch eine bloße Augenwischerei, die Verwirrung stiften soll und die mit der tatsächlichen Wirklichkeit nichts zu tun hat. Oppositionsparteien im aserbaidschanischen Parlament sind in Wirklichkeit keine Opposition, sondern stimmen tatsächlich immer mit der Regierung. Eine Partei mit dem Namen „Recht, Gesetz und Demokratie“ setzt sich in Wirklichkeit nicht für einen Rechtsstaat oder einen demokratischen Parteienwettbewerb ein. Wahlen, die die zentrale Wahlkommission als „demokratisch, frei, transparent und fair“ bezeichnet, sind in Wirklichkeit streng kontrolliert und manipuliert. Und: Abgeordnete, die sich im neuen aserbaidschanischen Parlament als unabhängig bezeichnen, sind in Wirklichkeit der Regierung zuzuordnen und waren vor den Wahlen genauso handverlesen, wie die Vertreter der Regierungspartei. Der Eindruck von Pluarlismus im aserbaidschanischen Parlament war und ist nichts weiter als ein trügerischer Schein.
Bei der Bewerung des Wahlverlaufes ist also zwischen „unabhängigen“ und unabhängigen Kandidaten und Kandidatinnen zu unterscheiden. Tatsächlich unabhängige Kandidaten waren zwar zur Wahl am 01. September angetreten und vereinzelt auch zugelassen worden, hatten aber keine Chance.
Drohungen und Einschüchterungen
In unserem Länderbericht aus dem Vorfeld der Wahlen hatten wir mit Shahriyar Majidzadeh einen tatsächlich unabhängigen Kandidaten für den Tartar-Aghdara-Goranboy Wahlbezirk porträtiert. Sein Beispiel illustriert den wahren Verlauf der Parlamentswahlen. Während des Wahltages wurde Majidzadeh zwei Mal gewaltsam attackiert, erhielt Todesdrohungen, sein Auto wurde von der Straße gedrängt, er durfte nicht an der Auszählung der Stimmen teilnehmen, auch seine Wahlbeobachter waren Drohungen und Einschüchterungen ausgesetzt. Majidzadeh plant, diese Vorgänge in Aserbaidschan vor Gericht zu bringen und sich danach gegebenenfalls an den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof zu wenden. Der offiziell gewählte handverlesesene Gegenkandidat von Majidzadeh ist ein Geschäftsmann aus Alijews Partei „Neues Aserbaidschan“, dessen Schwiegervater Verbindung zur organisierten Kriminalität besitzt. Anderen Kandidatinnen, etwa der tatsächlich unabhängigen Vafa Naghi im Neftchala Wahlbezirk, erging es ählich.
Außenpolitische Implikationen
Neben innenpolitischen Fragen des Ablaufes und der Legitimität der Wahlen hatten diese auch außenpolitische Implikationen. Bemerkenswert war der Besuch von Wladimir Putin wenige Tage vor den Wahlen. Auch wenn es bei den Gesprächen in Baku vornehmlich um wirtschaftliche Themen, um Konnektivität sowie Fragen der regionalen Beziehungen insbesonderemit Blick auf den Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan gegangen sein wird, war die Begegnung mit Putin für Alijew sicherlich auch eine Vergewisserung, die Wahlen in der repressiven und kontrolliert-manipulativen Art und Weise abhalten zu können, wie es geplant war. Auch auf die laufenden Friedensverhandlungen mit Armenien werden die Wahlen Einfluss haben. Dabei hatte es zuletzt konkrete Fortschritte gegeben, so dass es nicht mehr ausgeschlossen scheint, dass noch in diesem Jahr ein Friedensabkommen zwischen den beiden Ländern geschlossen werden kann. Mit dem neuen Parlament, aus dem heraus die Regierung gebildet wird, scheint eine Fortsetzung des vorwiegend bilateral verlaufenden Verhandlungsprozesses möglich. Und schließlich steht der COP 29 vor der Tür, und für Alijew ist es tatsächlich wichtig, dieses Ereigenis ohne kritisches Getöse der internationalen Gemeinschaft an den innenpolitischen Zuständen abhalten zu können.
Aserbaidschan und das europäische Dilemma
Im Januar hatte Aserbaidschan die Parlamentarische Versammlung des Europarates verlassen, nachdem der aserbaidschanischen Delegation zuvor das Stimmrecht entzogen worden war. Grund war unter anderem die Weigerung der Regierung in Baku, Wahlbeobachter des Europarates zu den Präsidentschaftswahlen im Februar zuzulassen. Auch die Parlamentswahlen wurden vom Europarat nicht beobachtet.
Für das offizielle Aserbaidschan und für Alijew persönlich war das internationale Ansehen des Landes stets von großer Bedeutung. Deshalb hatte die Regierung über Jahre viel in die sogenannte Kavierdiplomatie investiert, mit der über Bestechung von Politikern und Politikerinnen Einfluss auf Entscheidungsträger genommen werden sollte, auch im Europarat. Nachdem dieses Vorgehen in zahlreichen Skandalen öffentlich geworden ist, funktioniert diese Form von Diplomatie nicht mehr.
Dafür gibt es ein anderes Dilemma: Europa kann kein Interesse daran haben, Aserbaidschan vollends an die autoritäre Achse um Russland zu verlieren. Wirtschaftskontakte zwischen Aserbaidschan und der EU, die auch über Energielieferungen hinausgehen, sind im beiderseitigen Interesse. Das trifft nicht auf Repressionen gegen Journalistinnen, willkürliche Verhaftungen, Gewalt gegen Regimekritiker, Wahlfälschungen oder aggressive Außenpolitik gegenüber Armenien zu. Aserbaidschan ist und bleibt auf absehbare Zeit ein Balanceakt für Europa. Die COP 29 im November wird die nächste Gelegenheit sein zu zeigen, ob der Balanceakt gelingen kann.
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