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Hani-meguellati / Wikimedia Commons / CC BY-SA 4.0

Länderberichte

Präsidentschaftswahlen in Algerien

Neuer Präsident Tebboune vor gewaltigen Herausforderungen

Im dritten Anlauf konnte Algerien am 12. Dezember 2019 den Nachfolger des auf Druck der Bevölkerung zurückgetretenen Langzeitpräsidenten Bouteflika wählen. Die von umfassenden Protesten begleiteten Wahlen brachten dem ehemaligen Premierminister Tebboune bereits im ersten Wahlgang den Sieg. Eine Befriedung der politischen Lages des Landes ist allerdings zunächst nicht zu erwarten. Algerien wird tiefgreifende politische und wirtschaftliche Reformen durchführen müssen, um die durch die Versäumnisse der Vergangenheit entstandene Schieflage des Landes abzufedern. Bei aller berechtigten Kritik am Beharrungsvermögen der bisherigen politischen Machthaber scheint mit den Protesten dieses Jahres und den Wahlen ein Umbruch in Gang gesetzt worden zu sein, der bei günstigem Ausgang zu einer Demokratisierung und Modernisierung des Landes führen kann.

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Wahlen im Angesicht einer politischen und wirtschaftlichen Krise

Algerien, das flächenmäßig größte Land Afrikas, hat nach den für den 18. April und dann für den 4. Juli geplanten Präsidentschaftswahlen im dritten Anlauf am 12. Dezember einen Nachfolger für Präsident Abdelaziz Bouteflika gewählt. Der gesundheitlich schwer angeschlagene Bouteflika, der das Amt seit 1999 innehatte und vier Amtszeiten regierte, wollte zunächst selbst wieder antreten, was aber zu massiven Protesten der Bevölkerung führte. Diese „Hirak“ genannten Proteste führten im März zur Ankündigung seines Verzichts auf eine weitere Kandidatur und – nachdem die Proteste weitergingen – im April zum vorzeitigen Rücktritt. Interimspräsident wurde gemäß der Verfassung der Präsident des Parlaments, Abdelkader Bensalah.

Mit Präsident Bouteflika verließ eine Figur des Unabhängigkeitskampfes gegen den französischen Kolonialismus die Macht, der Algerien nach dem Bürgerkrieg zwischen islamistischen Milizen und der Armee in den 1990er Jahren wieder versöhnt hatte und sich in seinem Herrschaftsanspruch daher stets auf die durch ihn erreichte Stabilität berief.  Die Verschleppung seiner politischen Abdankung verwässert die Erinnerung an diese Errungenschaften in der frühen Amtszeit nun beinahe völlig. Gerade bei jungen Algeriern überwog zuletzt das Bild eines von Selbsterhalt getriebenen Systems älterer Machthaber, die das Land gerade noch verwalten, aber notwendige Reformen nicht mehr initiieren wollten oder konnten.

Über 70 Prozent der Algerier sind unter 30 Jahre alt und weit nach der Unabhängigkeit, viele von ihnen sogar nach dem „schwarzen Jahrzehnt“ des Bürgerkriegs geboren. Die über 60-Jährigen machen in Algerien gerade einmal 9 Prozent der Bevölkerung aus, ihre übermächtige Präsenz in den Schlüsselstellen des Staates und intransparente Regierungsführung führte zuletzt zu wachsender Kritik gerade junger Algerier. Die Präsidentschaftswahlen sollten aus deren Sicht daher nicht nur dem demokratisch legitimierten Machtwechsel dienen, sondern auch ein Hebel  für eine Politik  sein, in der die Altersstruktur der Gesellschaft  besser abgebildet wird.

Die politische Krise des Landes fällt mit einer seit einiger Zeit absehbaren Wirtschaftskrise zusammen. 60 Prozent des Staatshaushalts und 95 Prozent der Exporte Algeriens stammen aus dem Ölgeschäft. Dieser Ölreichtum hatte es dem Regime lange erlaubt, sozialen Frieden durch Subventionen, Lohnerhöhungen im öffentlichen Sektor und hohe Sozialausgaben zu erkaufen. Diese Art der Rentenökonomie gelangt an ihre Grenzen, da nicht ausreichend in die Erschließung neuer Ölquellen investiert wurde, gleichzeitig aber die Entwicklung  produktiver Wirtschaftszweige durch die Konzentration auf das Öl ausblieb. Zwischenzeitlich führten die Schwankungen des Ölpreises auf dem Weltmarkt zu erheblichen Verwerfungen in der algerischen Wirtschaft. Seit dem Jahr  2014 sanken die Staatseinnahmen tendenziell,  die Regierung musste Subventionen kürzen, Steuern erhöhen und sich bei den Devisenreserven bedienen. Schon jetzt leidet die Bevölkerung unter einer hohen Arbeitslosigkeit, die insbesondere die junge Generation trifft, von der 30 Prozent keinen Job finden.

Auf den erzwungenen Rücktritt  Präsident Bouteflikas folgten Machtkämpfe innerhalb des als „pouvoir“ bezeichneten Netzwerks von einflussreichen Kräften in Algerien, darunter Generäle, Geschäftsleute und Politiker. Nachdem es in der vierten Amtszeit Bouteflikas einige Bewegung im algerischen Machtapparat gab, welche Beobachter als einen Machtzuwachs des Präsidenten gegenüber dem Militär interpretieren, nutze das Militär in der Person von General Ahmed Gaid Salah die im April 2019 entstandene  instabile Situation, um selbst wieder stärker die Fäden in die Hand zu nehmen. Salah drängte zudem seit dem Rücktritt  Bouteflikas auf die Einhaltung der von der Verfassung vorgegebenen Fristen für Neuwahlen und stellte sich damit gegen die vom Hirak vehement vorgetragene Überzeugung, wonach die Bedingungen für freie und faire Wahlen noch nicht gegeben seien.
 

5 Kandidaten – gleiches „System“?

Interimspräsident Abdelkader Bensalah hatte die Wahlen für den 12. Dezember 2019 festgelegt und am14. September ein Gesetz zur Schaffung einer unabhängigen Wahlbehörde unterzeichnet – ein Novum in Algerien. Mit der Leitung der Behörde wurde Mohamed Charfi, Richter und ehemaliger Justizminister betraut. Charfi wurde von Beobachtern als neutraler Kandidat für diese Position eingeschätzt, der als integer gilt und sich in der jüngeren Vergangenheit gegen den „Bouteflika-Clan“ gestellt hatte.

Das Interesse am Amt des Staatspräsidenten war enorm. 143 Aspiranten beantragten die für die Kandidatur notwendigen Unterlagen. 23 von ihnen reichten dann tatsächlich auch ihre Kandidatur ein. Nach algerischem Wahlrecht müssen Kandidaten jeweils 50.000 Unterschriften von in Wahllisten eingetragenen Algeriern sammeln, die sich zudem auf wenigstens 25 Provinzen (wilayas) verteilen. Diese Hürde schafften nur fünf der 23 Kandidaten, die dann von der Wahlbehörde zur Präsidentschaftswahl zugelassen wurden.  Die Wahl an sich sowie auch die  antretenden Kandidaten trafen auf harsche Kritik der Hirak-Demonstranten, die alle fünf Kandidaten als Vertreter des alten Systems brandmarkten.

Akzeptiert wurden die Kandidaturen von Azzedine Mihoubi, Interims-Generalsekretär der Regierungspartei Rassemblement National Democratique (RND); Abdelkader Bengrina, Präsident der Bewegung El-Bina; Abdelmadjid Tebboune, ehemaliger Premierminister und Mitglied der Regierungspartei Front de Libération Nationale FNL, der allerdings als unabhängiger Kandidat antrat; Ali Benflis, Präsident der Partei Talaie El Houriyet sowie Abdelaziz Belaid, Kandidat der Front Al-Moustakbel.

In der Tat verfügten alle Kandidaten über politische Erfahrungen in herausgehobenen politischen Funktionen und verkörperten damit nicht das vom Hirak geforderte Ende des „Systems“.

Abdelmajid Tebboube  ist Mitglied des FNL-Zentralkomitees und war im Jahr 2017 sogar für drei Monate Premierminister des Landes. Ali Benflis  kandidierte bereits zum dritten Mal bei den Präsidentschaftswahlen. Er war Mitglied im politischen Büro der FNL, Justizminister, Wahlkampfleiter von Präsident Bouteflika und dessen Regierungschef. Abdelaziz Belaid, mit 56 Jahren jüngster Kandidat, war ebenfalls bis 2011 Mitglied des Zentralkomitees der FNL. Der Arzt und Jurist war bereits 2014 Präsidentschaftskandidat, erhielt damals aber nur 3,4 Prozent der Stimmen.  Azzedine Mihoubi war für den RND von 2015 bis 2019 als Kulturminister im Kabinett vertreten, bevor er im Juli 2019 anlässlich eines außerordentlichen Parteitags des RND zum Interims-Generalssekretär ernannt wurde.

In geringerem Maße trifft die Systemzugehörigkeit auch auf  Abdelkader Bengrina zu, der über gewerkschaftliches Engagement in die Politik fand und im Jahr 1997 auf dem Ticket des den Moslembrüdern nahestehenden „Mouvement de la Société pour la Paix“ zum Minister für Tourismus und Kunsthandwerk ernannt wurde. Bengrina wurde in der Wahlberichterstattung von einigen Kommentatoren als Kandidat der Islamisten bezeichnet.
 

Geringe Wahlbeteiligung, Massenproteste und regionaler Wahlboykott

Der Wahlkampf der Präsidentschaftskandidaten wirkte insgesamt eher zurückhaltend. Wegen der zahlreichen Demonstrationen fanden viele Wahlkampfveranstaltungen vor ausgewähltem Publikum in geschlossen Räumen statt. Wahlplakate wurden nicht eingesetzt oder waren zumindest kaum wahrnehmbar. Ein Novum im Wahlkampf war eine am 6. Dezember durchgeführte Fernsehdebatte mit allen Kandidaten. Wenngleich eine wirkliche Debatte nicht zustande kam und die Kandidaten vorbereitete Stellungnahmen vortrugen, wurde diese Initiative allgemein begrüßt. Sie verdeutlichte aber auch, dass sich die Profile und Programme der Kandidaten stark ähnelten.

Zur Wahl am 12. Dezember 2019 waren über 24 Millionen Wahlberechtigte aufgerufen, über 61.000 Wahlbüros wurden eingerichtet und über eine halbe Millionen Wahlhelfer mobilisiert. Die Abstimmung wurde von einer massiven Präsenz von Sicherheitskräften begleitet.

Wenngleich die Wahl in den meisten Regionen ruhig verlief, führte sie in der Hauptstadt Algier zu heftigen Protesten, die wie schon während des Hirak vor allem im Stadtzentrum vor der Großen Post und in den angrenzenden Hauptstraßen große Menschenmassen mobilisierten.  Algier schien am Wahltag zweigeteilt in Wähler und Demonstranten, die ihre Ablehnung der Wahl durch Rufe „Nein zu den Wahlen mit der Bande“, „Generäle in die Mülltonne“  oder auch „Mörderregime (pouvoir assassin)“  Nachdruck verliehen. Die Sicherheitskräfte versuchten zunächst, die  Demonstrationen zu verhindern, mussten sich dann aber angesichts der Übermacht der Demonstranten zurückziehen.

Einen extremen Wahltag erlebte die Region der Kabylie, wo zahlreiche Wahlbüros geschlossen oder verwüstet wurden.

Die offiziell festgestellte Wahlbeteiligung betrug mit ca. 6,7 Millionen Stimmen knapp 40 Prozent der registrierten Wähler, wobei es eine bemerkenswert niedrige Wahlbeteiligung der ca. 900.000 im Ausland lebenden Wahlberechtigten gab (z.B. Berlin 5 Prozent, Paris 4,5 Prozent). In einigen Wahlbezirken wie in Tizi-Ouzou oder Bejaia  tendierte die Wahlbeteiligung gegen null.
 

Adelmadjid Tebboune Sieger im ersten Wahlgang

Mit ca. 4,9 Millionen Stimmen und damit 58 Prozent konnte Adelmadjid Tebboune die Wahl bereits im ersten Wahlgang für sich entscheiden. Die übrigen Kandidaten erkannten das Wahlergebnis an, Ali Benflis und Abdelkader Bengrina kündigten den Rücktritt von ihren Parteiämtern an. 

Der neue Staatspräsident ist am 17. November 1945 geboren und zählt zur Garde der Politiker, die von den Demonstranten als „System“ bezeichnet werden. Tebboune verfügt über einen  Abschluss der Nationalen Verwaltungsschule ENA und hatte zunächst diverse administrative Funktionen in dekonzentrierten Verwaltungsebenen.  Zwischen 1999 und 2002 übte er in kurzer Abfolge die Ämter Kulturminister, Minister für Gebietskörperschaften und Minister für Wohnungswesen und Stadtentwicklung  aus. Nachdem er im Jahr 2002 mit einem der größten Finanzskandale der algerischen Geschichte in Verbindung gebracht wurde, verließ er die Politik. 2012 wurde er in der Regierung Sellal erneut Minister für Wohnungswesen und ab Mai 2017 für drei Monate Premierminister. Bereits im August 2017 wurde er aus dieser Funktion entlassen, offenbar, nachdem er in Konflikt mit geschäftlichen Interessen politisch einflussreicher Personen geraten war, zu denen auch der Bruder des damaligen Staatspräsidenten, Said Bouteflika gehörte. Er wurde durch  Ahmed Ouyahia ersetzt, der im Zuge des politischen Umbruchs ebenso wie sein Vorgänger Sellat im Dezember 2019 zu hohen Haftstrafen wegen Korruption verurteilt wurden.

Das Regierungsprogramm Tebboune umfasst unter dem Motto „Engagiert für den Wechsel, fähig ihn umzusetzen“  54 Maßnahmen mit dem Ziel, eine neue Republik aufzubauen. Dazu zählen eine Diversifizierung der Wirtschaft durch  die Entwicklung von Wirtschaftszweigen außerhalb des Erdölsektors, der Ersatz von Importen durch lokale Produkte, die Förderung von Startups und die Stärkung der Rolle der Gebietskörperschaften im Entwicklungsprozess. Tebboune will überdies ausländische Direktinvestitionen fördern und Steuerentlastungen für Geringverdiener schaffen.

Die Wahl des neuen Staatspräsidenten leistet einen Beitrag zur Entschärfung der politischen Krise, die damit jedoch nicht gelöst wird. Algerien befindet sich weiterhin vor erheblichen politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen, die nun von einem Präsidenten gemeistert werden müssen, der den jüngeren Teil der Bevölkerung nicht ausreichend vertritt. In diesem Sinne ist sein Mandat keineswegs so stark, wie es der Wahlsieg im ersten Wahldurchgang  vermuten lässt. Tebboune scheint sich dieses Umstandes bewusst und hat den Demonstranten und der Opposition umgehend nach seiner Wahl einen Dialog angeboten. In einer ersten Reaktion schienen die Oppositionsparteien für einen solchen Dialog offen. Auch von Teilen der Demonstranten wurde das Angebot wohlwollend aufgegriffen. Diese wollen die jetzige Nachwahlphase nutzen, um sich besser zu organisieren und ihre Repräsentanten zu bestimmen. Ein anderer Teil der Demonstranten hält aber an seiner Kritik am „System“ fest und fordert weiterhin eine Entlassung des „alten Regimes“. Da Tebboune über die Unterstützung des Militärs in der Person des Generals Ahmed Gaid Salah verfügt, der die Durchführung der Wahl zudem forciert hat, dürften für die verbleibenden Demonstranten schwierigere Zeiten bevorstehen. Ein gewaltsames Vorgehen gegen die Protestbewegung ist nicht auszuschließen. 

Die neue Regierung Algeriens muss einen tiefgreifenden Wandel einleiten, der politische und wirtschaftliche Reformen, aber auch einen Generationenwechsel umfassen muss. Auch eine verbesserte Regierungsführung wird ihre Wirkung erst mittelfristig  zeigen, da das Land durch die Versäumnisse der Vergangenheit in eine enorme Schieflage geraten ist. Das Ausmaß dieser Schieflage und die Tiefe des Tals, durch welche das Land in den nächsten Jahren gehen muss, bevor Reformen greifen, wird nun allmählich bekannt. Mit den Protesten dieses Jahres  und den Wahlen ist aber womöglich ein Umbruch in Gang gesetzt worden, der bei günstigem Ausgang zu einer Demokratisierung und Modernisierung des Landes führen kann.

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Dr. Holger Dix

Dr. Holger Dix

Leiter des Regionalprogramms Politischer Dialog Subsahara-Afrika, Interimsleiter des Auslandsbüros Südafrika

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