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Veranstaltungsberichte

Europa erzählen, oder: Der Engel der Geschichte

von Andre Kagelmann, Nadine Maria Seidel

Internationale Konferenz der Konrad-Adenauer-Stiftung für Wissenschaftler, Politiker, Schriftsteller, Journalisten und Studenten im Rahmen der Konferenzreihe „Brücken bauen in Europa” vom 3.-6. Juni 2019 in Novi Sad

Internationale Konferenz der Konrad-Adenauer-Stiftung für Wissenschaftler, Politiker, Schriftsteller, Journalisten und Studenten im Rahmen der Konferenzreihe „Brücken bauen in Europa” vom 3.-6. Juni 2019 in Novi Sad

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„Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen, und seine Flügel sind aufgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.“ (Walter Benjamin)

Wie erzählt man Europa? Finanzkrise, Populismus, Nationalismus stiften Geschichten einer permanenten Unzulänglichkeit oder einer bürokratischen Farce. Die Europäische Union ist aber kein ‚Salatgurkenkrümmungsvermessungsverein‘, sondern ein historisch einzigartiges Friedensprojekt. Die EU hat die größten Trümmer der Geschichte, nämlich die zweier Weltkriege, hinter sich gelassen. Die in ihr vereinten Nationen sind seit 1945 von Kriegen verschont geblieben, was aber nicht auf das geographische Europa insgesamt zutrifft. Wie erzählt man Europa also in den Regionen und Ländern Europas, die nicht bzw. noch nicht zur EU gehören?

In Serbien, in der Vojvodina, in Novi Sad, in der europäischen Jugendhauptstadt 2019, in der zukünftigen europäischen Kulturhauptstadt (2021, zusammen mit Timișoara in Rumänien und Elefsina in Griechenland), also mitten in Europa, aber nicht innerhalb der Europäischen Union, fand das zehnjährige Jubiläum der Konferenzreihe „Brücken bauen in Europa“ statt. Zu diesem hatte die Konrad-Adenauer-Stiftung, in ihrem Selbstverständnis als Förderin der europäischen Integration, über 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus 19 Nationen eingeladen.

Nach Grußworten von Norbert Beckmann-Dierkes, dem Leiter der KAS in Serbien und Montenegro (und hauptverantwortlichen Organisator der Konferenz), von Miloš Vučević, dem Oberbürgermeister der Stadt Novi Sad sowie von S.E. Thomas Schieb, dem Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Serbien, zeigte der Vorsitzende der KAS und Präsident des Deutschen Bundestages a.D., Prof. Dr. Norbert Lammert, in seiner Festrede europäische Perspektiven in Zeiten des Populismus zwischen Identität und Integration auf. Dabei unterstrich er zunächst die Bedeutung von Kultur und Literatur als Kernelemente dessen, was Gesellschaften innerlich und im Innersten zusammenhält. Lammert betonte vor dem Hintergrund der heterogenen Jubiläen der Versailler Friedensverträge 1919 und des Falls der Berliner Mauer 1989 sowie im Kontext der aktuellen Europawahlen die Errungenschaften der EU. Dabei korrigierte die einseitige negative Sicht auf einen zwar schwierigen und komplexen, aber einzigartigen historischen Prozess. Allerdings stellten sich, anders als das von Fukuyama 1992 vorzeitig ausgerufene „Ende der Geschichte“, Fragen nach Demokratie und freier Marktwirtschaft immer noch bzw. wieder neu. Die Erzählung von diesem, in ständigen Aushandlungsprozessen begriffenem Europa sei zwar nicht von zu viel Rationalität, aber von zu wenig Emotionalität geprägt, und zwar insbesondere in menschlichen Fragen wie Identifikation und Identität, was auch eine Erklärung für das Wiedererstarken der Idee des Nationalstaates sei, wie sie von den Populisten gerade mit erschreckend großem Erfolg propagiert wird. Dabei ist das Modell des Nationalstaats in einer globalisierten Welt – selbst die ganze EU zählt nicht mehr als 6,8 Prozent der Weltbevölkerung – und den mit dieser Globalisierung verbundenen Herausforderungen nicht mehr handlungs- und wettbewerbsfähig. Vor diesem Hintergrund sei auch die Beitrittsperspektive Serbiens und anderer offizieller oder inoffizieller EU-Beitrittskandidaten zu sehen, freilich verknüpft mit der Erfüllung des Anforderungskatalogs der EU und der übergreifenden Aufgabe ihrer Weiterentwicklung.

Im Anschluss daran blickte Aleksandar Vučić, der Präsident der Republik Serbien, auf die zukünftige Rolle seines Landes in Europa. Ausgehend von der Betrachtung historischer Zusammenhänge entwickelte sich seine Rede zu einem emotional aufgeladenen Lob Europas, ohne dabei komplexe Fragen wirtschaftlicher und politischer Zusammenarbeit, der Rechtsstaatlichkeit, mit der Aus- und Abwanderung verbundenen strukturellen Problemen, aber auch unterschiedlichen Mentalitäten aus dem Blick zu verlieren. Insgesamt sei aber festzustellen, dass Serbien seinen Weg gehe, einmal schneller, einmal langsamer, so Vučić, aber es gehe diesen Weg mit dem Wunsch, der Europäischen Union eines Tages beizutreten.

Der zweite Tag der Konferenz begann mit einem Grußwort der Stellvertretenden Vorsitzenden der KAS Prof. Dr. Beate Neuss, die den Prozess der europäischen Einigung mit dem Bild des Brückenbauens zwischen den Mitgliedsstaaten verband und unter das Motto der Europäischen Union ‚in Vielfalt geeint’ stellte. Unter Verweis auf die tragische Dauerkrise des Brexits und insbesondere vor dem Hintergrund des mit dem Beitritt der Nationalstaaten in die EU verbundenen Souveränitätstransfers rief sie die mit den Beitrittsverhandlungen verbundenen Umstrukturierungen in Erinnerung, welche es nicht nur formal zu erfüllen genüge, sondern welche man auch als notwendige Strukturelemente der EU zu verstehen habe. So garantierten die Kopenhagener Kriterien von 1993 in ihren politischen, wirtschaftlichen und institutionellen Dimensionen wenn nicht einen ewigen, so doch einen sehr dauerhaften europäischen Frieden. Insofern seien diese Kriterien auch weder verhandelbar noch nachverhandelbar.

Die erste Tagungssektion „Europa erzählen“, moderiert von Prof. Dr. Michael Braun, dem Leiter des Referats Literatur der KAS, wurde eingeläutet mit dem Vortrag von Prof. Dr. Andreas Rödder (Universität Mainz), der unter dem Titel „Wer hat Angst vor Deutschland?“ die Geschichte der ‚Integration‘ Deutschlands in Europa im Wechselspiel von zwei Narrativen perspektivierte: dem vom wirtschaftlichen, technologischen und militärischen Aufstiegs und Fall ‚Deutschlands‘ einerseits und der Diskrepanz von Selbst- und Fremdwahrnehmung andererseits. So sei die Selbstwahrnehmung als Kulturnation, ursprünglich universell gedacht, umgeschlagen in die Idee einer deutschen Überlegenheit und verbunden mit einem Führungsanspruch, der nach den Verheerungen zweier Weltkriege dann dialektisch in eine Friedenskultur gekippt sei. Während man aber selbst von der eigenen Friedfertigkeit restlos überzeugt sei, führe die (v.a. wirtschaftliche) Stärke Deutschlands bei anderen Nationen mitunter zu einem latenten Gefühl der Bedrohung. Dem korrespondiere eine durchaus als sprunghaft wahrgenommene deutsche politische Mentalität, die zwischen legalistischer Austeritätspolitik in der Schuldenkrise und einer moralisch hochaufgeladenen Performance in der Flüchtlingskrise oszilliere. Deshalb plädierte Rödder auch dafür, die Wahrnehmungen der anderen europäischen Staaten noch ernster zu nehmen und sie gleichzeitig in eine Balance mit dem eigenen politischen Handeln zu bringen.

An die Entfaltung dieser primär diachronen Perspektive schloss Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte (Universität Duisburg-Essen) mit acht vornehmlich synchronen Feststellungen zur Europawahl aus deutscher Sicht an:

1. Freie Wahlen wirken, sie verändern die politische Landschaft, die Gesellschaft, Staaten, die EU, und zwar direkt und indirekt.

2. Europäische Wahlen formieren eine europäische Öffentlichkeit.

3. Die Europawahl hat sich von einer Neben- zu einer Hauptwahl entwickelt.

4. In Deutschland existiert ein vitales und robustes Parteiensystem, das auf Herausforderungen reagiert.

5. Es ist eine Ost-West-Teilung des ‚Wählermarktes‘ festzustellen; dabei ist vor einer Pathologisierung des Ostens zu warnen.

6. Bei den Wählerinnen und Wählern existiert eine Sehnsucht nach ‚neuen Auftritten‘, was auch die momentane Konjunktur der Grünen erklären helfe.

7. Aus Volksparteien können Bewegungsparteien werden.

8. Das ‚Betriebssystem‘ der Gesellschaft wurde durch die neue Öffentlichkeit des Internets fundamental verändert.

Als ‚Zukunftskunst‘ beschrieb Korte abschließend die Frage, was die ‚Grammatik‘ der Transformationsprozesse der Gesellschaft sei und wie man diese Erkenntnisse in politisches Handeln umsetzen könne.

Zusammengeführt wurden die Vorträge in einer Diskussion, die durch einen kurzen Vortrag von Prof. Dr. Bernhard Vogel, dem Ehrenvorsitzenden der KAS, eingeleitet wurde, der die bereits dargelegten Einschätzungen der Europawahl weiter konturierte und mit der Frage nach der ‚Angst vor Deutschland‘ verknüpfte. Zudem schärfte er den Blick für die Spezifik der Entwicklung der Parteienlandschaft im Osten Deutschlands.

Auch wurde betont, dass sich eine gesamteuropäische kollektive und belastbare Identität entwickeln müsse, die Verschiedenheit und Patriotismus gleichermaßen zulässt.

Die Sektion 2 „Erinnerungskulturen in Europa“, moderiert von Dr. Nino Galetti, dem Leiter der KAS in Frankreich, wurde eröffnet von einem Vortrag von Dr. Karsten Dümmel, dem Leiter des Politischen Bildungsforums der KAS im Saarland, der die Aufklärungsarbeit der Bundesbehörde für Stasiunterlagen in den Blick nahm. Deren Programm bezeichnete Dümmel mit Václav Havel als „Versuch, in der Wahrheit zu leben“. In einem zweiten Schritt perspektivierte Dümmel sowohl inkludierende als auch exkludierende symbolische Praxen des kulturellen Gedächtnisses, um mit einem Plädoyer für den kulturellen und persönlichen Austausch zu schließen.

Prof. Dr. Verena Lenzen (Universität Luzern) fragte in ihrem Vortrag danach, wieviel Erinnerung die Zukunft braucht. Dazu erörterte sie zunächst, ausgehend vom Bild der in Flammen stehenden Notre Dame de Paris, das Verschwinden der Zeitzeugen und das Auftauchen von Gedächtniskulturen als dialektischen Gegensatz von Erinnern und Vergessen und als historiographische Wende des Übergangs vom multinationalen kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis. Daran anschließend konturierte sie im Anschluss an das Canetti-Wort „vorbei ist nicht vorüber“ das ‚Erinnere Dich!‘ als ethischen Imperativ der jüdischen Gedächtniskultur (Inzentiv), und zwar in Abgrenzung zur ägyptischen Gedächtniskultur (Quietiv). Seinen Abschluss fand der Vortrag im Voraugenführen des Gedächtnisbildes, wie es Walter Benjamin in Anschauung von Paul Klees „Angelus novus“ als „Engel der Geschichte“ entworfen hat, der Schlüsselfigur von Benjamins Geschichtsphilosophie und einer Ikone der intellektuellen Moderne.

Prof. Dr. Bogdan Mirtschev (Universität Sofia) schloss anschließend den Bogen zum politischen Auftakt der Sektion in seinem Vortrag über Regionen und Nationen als Grundbedingungen der europäischen Gemeinschaft und in klarer Positionierung zwischen den klassischen gegenpoligen Konzepten von de Gaulle und Churchill. Dabei legte Mirtschev sein besonderes Augenmerk zunächst auf die Begriffsgeschichte der Nation, um sich dann deren unterschiedlichen Wesensbestimmungen in einer historischen tour d‘horizon anzunähern. Abschließend referierte er über Konzepte eines Europas der Regionen in Abgrenzung zu zentralistischen Positionen.

Die dritte Sektion, die unter der poetisch aufgeladenen Überschrift „Europa, Deine Sünden, Deine Narben, Deine Hoffnungen“ stand, moderiert von Sven Petke, dem Leiter der KAS in Bosnien und Herzegowina, wurde von dem Vortrag von Prof. Dr. Oliver Jens Schmitt (Universität Wien) eingeleitet, der sich ‚dem Geist der Zeit in Europa‘ anzunähern suchte, indem er den Blick nach Osten, auf die traditionell wenig beachteten europäischen Staaten wendete. Den Begriff ‚Osten‘ wertete er als standortabhängige und überhaupt verschiebbare Chiffre der Ausgrenzung europäischer Integration aus einer ‚westlichen Sicht‘. Aus einer ‚östlichen Sicht‘ perspektivierte er das Machtgefälle zwischen (kleinen) osteuropäischen und (großen) westeuropäischen Staaten, gekoppelt an unterschiedliche sozioökonomisches Niveaus und verbunden mit unterschiedlichen Mentalitäten sowie kulturellen Praxen.

In Korrespondenz mit den Überlegungen Norbert Lammerts unterzog Prof. Dr. Johann Holzner (Universität Innsbruck) Ivo Andrićs Roman „Die Brücke über die Drina” (1945/1953), dem ersten Teil von dessen Bosnischer Trilogie, einer Re-Lektüre. Er betonte dabei Fluktuation von Wahrnehmungsrastern (Andrićs Erzählverfahren seien an Fontane geschult), um vermeintlich Sicheres infrage zu stellen, neu zu bewerten und dabei Ambivalenzen auszuhalten, und zwar unter Rückgriff auf ein überliefertes Inventar an Geschichten, die Andrić neu kontextualisierte und kommentierte. Dabei lege er besonderes Augenmerk auf das Zusammenleben verschiedener Kulturen auf engsten Raum und auf die Darstellung interkultureller Konflikte, wobei Andrić ethnischen Essentialismus aufbreche.

Prof. Dr. Peter Hanenberg (Universität Lissabon) eröffnete seinen Vortrag über „Novalis und die Folgen in der Europäischen Literatur“ mit einem detaillierten Blick auf Novalis' Essay „Die Christenheit oder Europa“. Mit Georg Braungart las Hanenberg den Text nicht als religiös-reaktionäres Dokument, sondern als ästhetischen Ausdruck eines emphatischen europäischen, im Werden begriffenen Subjektbegriffs. In einem zweiten Schritt kontrastierte er diese Überlegungen mit den religiösen Provokationen in Michael Houellebecqs umstrittenem Roman „Unterwerfung“ (2015), um die Dichotomie von Ästhetik und Religion in einem permanenten Prozess des kulturellen Übersetzens und Aushandelns von Gegensätzen zumindest ein Stück weit aufzulösen.

„Das Kulturerbe der Nationen – die Zukunft Europas“ war der Gegenstand der Ausführungen von Prof. Dr. Christoph Parry (Universität Vaasa), der zunächst die heikle Frage nach kulturellem Eigentum bzw. kultureller Provenienz stellte. Nationen, also erfundene Gemeinschaften (B. Anderson), versicherten sich ihrer selbst u.a. durch gemeinsame große Erzählungen bzw. Gründungsmythen (Nationalepen) in einer gemeinsamen Sprache und konsolidierten sich über Diskriminierungen (Inklusion durch Exklusion). Diese Prozesse kontrastierte er mit den Biographien und Werken der drei ‚exonationalen‘ Autoren Paul Celan, Joseph Conrad und Joseph Roth.

Prof. Dr. Oliver Jahraus (Ludwig-Maximilians-Universität München) entfaltete in seinem Vortrag mit dem Titel „Zwischen Maghreb und Moderne: Wo liegt Belgrad?“ ein Panorama historisch-literarischer Echoräume, und zwar zunächst am Beispiel von Bora Ćosićs Roman „Die Tutoren“ (1978/2015), den er in ‚abgrenzender Analogie‘ zu James Joyces „Ulysses“ las. Als zweites Beispiel zog er den Roman „Sanduhr“ des ‚Verdichtungskünstlers‘ Danilo Kiš heran, den er als ein polyphones forum internum bezeichnete („Es ist besser, man gehört zu den Verfolgten als zu den Verfolgern“). Seinen dritten literarischen Anschauungsraum gewann er aus Aleksandar Tišmas Roman „Der Gebrauch des Menschen“ (1976/1991), dem zweiten Teil einer eigenwilligen und düsteren Pentalogie, die die Abgründe des 20. Jahrhunderts in den Blick nimmt. Daran anschließend perspektivierte Jahraus die erzählten Räume in Anlehnung an Maria Todorovas Idee der stereotypen Erfindung bzw. Konstruktion des Balkans als mehrfach anders codierter Peripherie. In einem letzten Schritt erweiterte er seine Überlegungen auf allgemeine Fragen der Erzeugung von Peripherie, etwa durch den Brexit.

Die vierte und letzte Sektion der Tagung, moderiert von Prof. Dr. Amelia Valtolina (Universität Bergamo), stand unter der Überschrift Religion und Bildung, womit zugleich zwei Wurzeln Europas bezeichnet sind. Sie wurde eröffnet durch den politikwissenschaftlichen Vortrag von Prof. Dr. Marianne Kneuer (Universität Hildesheim), in dem Prozesse intentionaler demokratischer Erosion und des Rückfalls in nationalistische Narrative u.a. am Beispiel der ‚illiberativen Demokratie‘ in Ungarn und den Bestrebungen der Etablierung einer ‚fünften Republik‘ in Polen verhandelt wurden. Mit diesen Prozessen sei eine Re-Konfiguration der Machtstrukturen verbunden, einhergehend mit starken Eingriffen in die Medienfreiheit. Dementsprechend pessimistisch sprach Kneuer in ihrem kontrovers diskutierten Vortrag von demokratischen Stagnationen und Rückschritten auf dem Westbalkan.

Prof. Dr. Friedhelm Marx (Universität Bamberg) perspektivierte aus literaturwissenschaftlicher Sicht – und sozusagen unter umgekehrten Vorzeichen wie seine Vorrednerin – Thomas Manns Wandlung zum europäischen Republikaner. Thomas Mann habe sich, abkehrend von den konservativen Positionen in seinen ‚unpolitischen Ansichten‘ und in Abgrenzung zum anschwellenden Bocksgesang des Nationalismus sukzessive stärker für paneuropäische Ideen im Anschluss an u.a. Coudenhove-Kalergi orientiert. Sein politisches Engagement für eine innereuropäische Annäherung – und als solches wurden auch seine Reise nach Frankreich und Polen wahrgenommen – führte wiederum zu wüsten polemischen Angriffen von Rechtskonservativen und National(sozial)isten. Dieser relativ späte persönliche ‚Turn‘ Thomas Manns zu einer europäischen politischen Perspektive sei allerdings, so die Schlussthese des Beitrags, schon viel früher in seinem literarischen Werk angelegt gewesen.

Ihren Abschluss fand die Sektion mit einer Diskussionsrunde zum interreligiösen Dialog von Christentum, Judentum und Islam in Serbien/Europa mit Impulsvorträgen des Erzbischofs Stanislav Hočever (Diozöse Belgrad) und von Prof. Dr. Rade Kisić, moderiert von Prof. Dr. Jelena Kostić-Tomović (beide Universität Belgrad).

Den Höhepunkt des Konferenztages markierte die enthusiastische und engagierte Europarede von Ana Brnabić, der Ministerpräsidentin der Republik Serbien, die die Europäische Union als Friedens- und Freiheitsprojekt auf der Basis gemeinsamer Werte perspektivierte. Dabei betonte sie einerseits die Mühen des langen Weges, der vor Serbien liege, zeigte sich aber zugleich zuversichtlich, diesen Weg – seit dem Jahr 2011 hat das Land den Status eines Beitrittskandidaten – in nicht zu ferner Zukunft erfolgreich zu bewältigen. Dabei müsse der Prozess der europäischen Integration Serbiens sowohl in Übereinstimmung mit den Idealen und Werten der Europäischen Union als auch durch die konkrete politische Arbeit im Kleinen und überhaupt durch die Weiterführung der bereits begonnenen Reformprozesse zustande gebracht werden. Ana Brnabić wurde in ihrer Rede nicht müde, die Gemeinsamkeiten der bereits in der Europäischen Union versammelten Länder mit der Kultur Serbiens zu betonen, auch wenn noch viele Fragen offen stünden.

Am vierten und letzten Tag der Konferenz wurden die Erträge der Tagung in einer von Frank Spengler (dem Leiter der KAS Ungarn) moderierten (Podiums-)Diskussion unter der Überschrift „Europa neu denken“ und in vier Impulsvorträgen von Erzbischofs Stanislav Hočever (Diozöse Belgrad), Prof. Dr. Klaus Manger (Universität Jena), Prof. Dr. Jürgen Ritte (Universität Sorbonne Nouvelle, Paris) und Prof. Dr. Amelia Valtolina (Universität Bergamo) gebündelt.

Gerahmt wurde die Konferenz durch ein großes Spektrum von Lesungen, von denen der Vortrag von Michael Martens (F.A.Z.) über ‚den abwesenden‘ Nobelpreisträger Ivo Andrić (1892-1975) den Anfang machte, dessen europäische Biographie, ‚erzählt‘ zwischen den Polen Dichtung und Diplomatie, vorgestellt wurde; Andrićs opus magnum „Die Brücke über die Drina“ spiegelt schon im Titel den Geist der Konferenzreihe. ’In Anwesenheit’ gelesen wurde von Norbert Gstrein (eingeführt von Prof. Dr. Vahidin Preljević, Universität Sarajevo, moderiert von Prof. Dr. Helmut Kiesel, Universität Heidelberg), wobei Gstreins Poetik einer Begrenzung realistischen Erzählens kontrovers diskutiert wurde. Hinzu kamen Lesungen von Dragana Mladenović und Lindita Arapi sowie die Vorstellung des Theaterprojekts „Out of Box“ am Belgrader Zentrum für Menschenrechte: Gerade dieser künstlerischen Beitrag junger Serbinnen und Serben, ihr soziales und politisches Engagement sowie ihr großer Enthusiasmus für Europa und seinen auf der Menschenwürde basierenden Werten spiegelte jenen, die sich bereits Bürgerinnen und Bürger der EU nennen dürfen noch einmal, welch ein historisches Privileg ihnen zuteil geworden ist – und wofür es sich auch zukünftig zu kämpfen lohnt, und zwar in ganz Europa; am 6.6. feierte man in Serbien übrigens den europäischen Kindertag.

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