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Länderberichte

Die Verfassung Südafrikas als "living document"?

von Matthias Wissing

20 Jaher nach Unterzeichnung der Interimsverfassung gibt es Tendenzen, die Verfassung einschneidend zu ändern

Nachdem Präsident Frederik Willem de Klerk im September 1989 das Amt des Staatspräsidenten übernommen hatte, kündigte er in seiner Rede zur Parlamentseröffnung am 02. Februar 1990 an, über eine neue demokratische Verfassungsordnung verhandeln zu wollen. Gleichzeitig ordnete er die Aufhebung des Verbots zahlreicher Oppositionsparteien und insbesondere die sofortige Freilassung Nelson Mandelas aus der Haft an.

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Nach der Unterzeichnung der „Nationalen Übereinkunft für Frieden“ im September 1991 durch die Regierung, den ANC (African National Congress), sowie zahlreichen weitere Parteien und Organisationen war ein weiterer wichtiger Grundstein für eine demokratische Zukunft Südafrikas gelegt. Infolge der Unterzeichnung der „Nationalen Übereinkunft für Frieden“ traten die Verhandlungsparteien im Dezember 1991 als Vollversammlung des „Konvents für ein demokratisches Südafrika (CODESA I) zusammen. Nach dem Scheitern dieser Verhandlungen und der im Mai 1992 durchgeführten CODESA II Konferenz führten schließlich die fortan als „Multi-Party Negotiating Process“ (MPNP) bezeichneten Verfassungsgespräche zur Festlegung des Termins für die ersten freien Wahlen (Ende April 1994). In diesem Zuge erzielten die Verhandlungsparteien auch Einigkeit über die wesentlichen Eckpunkte einer Übergangsverfassung (Interim Constitution), die am 18. November 1993 vom Verhandlungsrat (Negotiation Counsel) als Interimsverfassung beschlossen und schließlich vom Parlament in Kapstadt am 22. Dezember 1993 gebilligt wurde.

Nachdem Nelson Mandela im April 1994 bei den Wahlen zum ersten schwarzen Präsident Südafrikas gewählt worden und der ANC stärkste Kraft geworden war, wurde eine verfassungsgebende Versammlung einberufen, die bis zum 09. Mai 1996 einen Verfassungsentwurf für eine endgültige Verfassung Südafrikas vorlegte. Dieser Entwurf wurde am 04. Dezember 1996 vom Verfassungsgericht genehmigt und am 10. Dezember schließlich von Präsident Nelson Mandela unterzeichnet. Seit dem 04. Februar 1997 ist die Verfassung als „Constitution of the Republic of South Africa“ offiziell gültig.

Seitdem ist Südafrika eine parlamentarische Demokratie mit einem starken Exekutivpräsidenten, der alle fünf Jahre durch die Nationalversammlung gewählt wird und weitreichende Befugnisse besitzt. Durch die Gliederung in neun Provinzen und diesen untergeordneten 284 Gemeinden (aufgeteilt in „metropolitan municipalities, district und local counsils“) weist Südafrika aber auch föderale Elemente auf.

Constitution als Kompromissverfassung

Während der Verhandlungen über die neue Verfassung Südafrikas bestanden über viele Punkte und Kapitel der Verfassung Uneinigkeiten zwischen den Verhandlungspartnern. Insbesondere die Einrichtung der „three spheres of government“ (national, provincial, local) in Kapitel 3 der Verfassung und damit die Ausgestaltung des Staates mit föderalen Elementen wird immer wieder als ein großer Kompromiss aller beteiligten Verhandlungsparteien bezeichnet. Die Vertreter des ANC strebten während der Verhandlungen stets einen zentralistischen, einheitlichen Verfassungsstaat an, während andere beteiligte Parteien wie die National Party, die Progressiv Federal Party und die Inkatha Freedom Party eine Bundesrepublik ähnlich der deutschen Bundesrepublik favorisierten.

Nach Meinung des ANC ist das aktuelle System und die Einrichtung der Provinzen nur das Ergebnis einer ausgehandelten Übergangslösung („negotiated transition“) und das Ergebnis der weiteren Entwicklungen, die seit 1994 stattgefunden haben. Während die meisten Aspekte der aktuellen Verfassung die Ansichten des ANC widerspiegeln würden, seien manche Kapitel nur Kompromisse und Übergangsregelungen gewesen, die nicht mehr zu den heutigen Gegebenheiten passten.

Fakt ist wohl, dass zumindest eine so friedliche Einigung über die Verfassung Südafrikas ohne einen Kompromiss über die Einrichtung der neun Provinzen nicht möglich gewesen wäre.

Aktuelle Form der Verfassung und Diskussionen um Reformbedarf

Die Verfassung in der aktuellen Form entspricht der Verfassung von 1996, wurde jedoch durch insgesamt 17 Amendments, zuletzt durch den von Präsident Zuma am 01. Februar 2013 unterschriebenen „Constitution Seventeenth Amendment Act 2012“, immer wieder angepasst bzw. geändert.

Die Verfassung Südafrikas besteht aus einer Präambel, insgesamt 14 Kapiteln und sieben Anhängen.

Das eigentliche Herzstück der Verfassung und mit Sicherheit den fortschrittlichsten Teil bildet das zweite Kapitel der Verfassung, die sog. „Bill of Rights“. Dieses Kapitel gewährleistet umfangreiche Menschenrechte auf der Basis eines Grundrechtekatalogs. Die „Bill of Rights“ gewährleistet jedem Bürger Südafrikas Gleichheit vor dem Gesetz, den Schutz vor Diskriminierung und Sklaverei sowie das Recht auf Leben. Weiterhin werden, ähnlich wie im deutschen Grundgesetz, die Privatsphäre, das Eigentum, die Rede-, Religions-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit ausdrücklich geschützt. Anders als im deutschen Grundgesetz geht die südafrikanische „Bill of Rights“ jedoch mit ihren grundrechtlichen Schutzzielen noch weiter. So werden außerdem ein freier Zugang zu einer adäquaten Unterkunft, freier und allgemeiner Zugang zu Nahrung und Wasser, die medizinische Versorgung sowie eine Grundausbildung in einer der offiziellen Landessprachen im südafrikanischen Grundgesetz gewährleistet. Die verfassungsrechtliche Garantie der letztgenannten Rechte führte in der Vergangenheit immer wieder zu Klagen einzelner Bürger vor dem Verfassungsgericht. Das Gerichtsverfahren „Soobramoney ./. Minister of Health“ erregte hierbei besondere Aufmerksamkeit. In diesem Fall erkannte das Verfassungsgericht zwar eine grundsätzliche Verpflichtung des Staates zur Erfüllung der in der „Bill of Rights“ niedergelegten Rechte an, lehnte jedoch die Bezahlung der speziellen Dialyse des Klägers aufgrund des damit verbundenen hohen finanziellen Aufwandes für den Staat ab. Dieser und weitere Fälle verdeutlichen das Dilemma, indem sich der südafrikanische Staat und seine Justiz befinden. Zwar werden sehr weitreichende Grundrechte in der „Bill of Rights“ verfassungsrechtlich garantiert, der Staat ist jedoch oft nicht in der Lage, die Einhaltung und die Implementierung dieser fundamentalen Rechte zu gewährleisten.

In Kapitel 6 der Verfassung Südafrikas sind die Einrichtung der Provinzen und die damit verbundene Ausstattung des Staates mit föderalen Elementen verankert. Die Einteilung Südafrikas in Provinzen war wie bereits ausgeführt der wahrscheinlich am heftigsten diskutierte Streitpunkt während der Verhandlungen über die Verfassung. Auch nahezu 20 Jahre nach Inkrafttreten der Verfassung herrscht in allen politischen Lagern immer noch große Uneinigkeit über die Rolle und die Ausgestaltung der Provinzen. Aufgrund großer administrativer Probleme und erheblicher Lücken bei der Erfüllung der verwaltungstechnischen Dienstleistungen sowohl der Provinzen als auch ihrer Gemeinden wird die Arbeit der Provinzen und ihrer Verwaltungen zunehmend von allen Seiten kritisch hinterfragt.

In Kapitel 8 der Verfassung Südafrikas ist die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der südafrikanischen Justiz verankert. Der Staat und die staatlichen Institutionen werden außerdem verpflichtet, die Gerichte und besonders das Verfassungsgericht, den „Constitutional Court“, bei seiner Entscheidungsfindung zu unterstützen, die Arbeit der Gerichte nicht zu behindern und die Unabhängigkeit der Gerichte zu schützen. In diesem Zusammenhang werden zurzeit heftig das Auswahlverfahren bzw. die Kriterien, die für die Berufung eines Richters an das Verfassungsgericht gelten. diskutiert. Besonders im Fokus stand dabei in den letzten Jahren die wiederholte Ablehnung des führenden Juristen Jeremy Gauntlett als Verfassungsrichter. Nachdem Gauntlett zu Beginn des Jahres bereits zum fünften Mal von der „Judicial Service Commission“ (JSC) nicht als Bewerber für eines der höchsten Richterämter ausgewählt worden war, wurden Stimmen laut, die kritisch hinterfragten, ob wirklich die juristische Qualifikation ausschlaggebend für eine erfolgreiche Bewerbung sei. Kritiker der Entscheidungen der JSC führten an, dass es fraglich sei, ob es der Kommission wirklich darum gehe, qualifizierte Bewerber als Richteranwärter auszuwählen. Sie vermuten eine Überbewertung der Hautfarbe und damit der Repräsentativität der Richterschaft in Bezug auf die Bevölkerungsstruktur des Landes.

Kapitel 9 der Verfassung listet vom Staat unabhängige einzelne Institutionen auf, die zur Überwachung und Förderung der Demokratie und Kontrolle der Regierung dienen. Diese sog. „Chapter 9 Institutions“ sollen die notwendige Verbindung zwischen Bürgern und Staat schaffen und unparteiisch und unabhängig arbeiten. Zu diesen Einrichtungen gehören u.a. der „Auditor General“, die „South African Human Rights Commission“ und der „Public Protector“, der als „watchdog“ über jede Institution des Staates wachen soll und Beschwerden der Bürger gegen die Regierung oder gegen Behörden untersucht. Zwar sind diese Institutionen vom Staat unabhängig und können im Auftrag der Bürger Untersuchungen anstreben, aufgrund der Unverbindlichkeit der Ergebnisse dieser Untersuchungen für den Staat ist der Einfluss dieser „Ch9s“ faktisch jedoch begrenzt. „Chapter 9 Institutions“ besitzen nämlich nicht das Recht, direkt Disziplinarmaßnahmen gegen Mitglieder der Regierung einzuleiten, können jedoch im Namen der betroffenen Bürger Gerichtsverfahren anstreben. In jährlichen Reports an die Nationalversammlung (National Assembly) müssen alle „Chapter 9 Institutions“ von ihren Fortschritten und Arbeitsergebnissen berichten.

„A second transition or a second phase of the transition“?

Der Übergang von der Apartheid zum jetzigen Regierungssystem wird innerhalb des ANC stets als „first transition“ oder „political transition“ bezeichnet. Diese erste Phase habe nur die Rahmenbedingungen für einen nationalen Konsens geschaffen. Nun sei Südafrika jedoch an einem Punkt angelangt, an dem die Verfassung als ausgehandeltes Dokument nicht mehr geeignet bzw. sogar zweckwidrig sei, auf die nun anstehenden sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen des Landes angemessen zu reagieren. Mitglieder des ANC gehen in ihren Äußerungen teilweise sogar soweit, dass die Verfassung in ihrer jetzigen Form nur ein Gefallen des ANC gegenüber denjenigen Parteien gewesen sei, die sich dem Wandel verschließen wollten. Die Forderungen nach einer Verfassungsänderung werden außerdem von dem ANC nahestehenden Gewerkschaften und Vereinigungen wie der „National Union of Metalworkers“ (NUMSA) unterstützt. Soweit die Verfassung in ihrer jetzigen Form dem Wandel in der südafrikanischen Zivilgesellschaft nicht mehr gerecht werden könne, müssten die Mechanismen eben dieser Verfassung genutzt werden, um eine zeitgemäße Anpassung zu erreichen. Für das Vorhaben, diese notwendigen Anpassungen vorzunehmen, müsse sich der ANC nicht entschuldigen.

Der ANC führt an, dass es Zeit für eine „second transition“ sei, denn nur so könnten die anstehenden gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Probleme längerfristig gelöst werden. Diese „second transition“ wurde in einem Thesenpapier des ANC zur Vorbereitung der „National Policy Conference“ im Juni 2012 in die Diskussion eingebracht. Nach dieser Konferenz, auf der das Themenpapier zur „second transition“ vorgestellt und diskutiert wurde, einigten sich die Mitglieder des ANC darauf, dass nicht eine „second transition“ bevorstehe, sondern dass eine „second phase of the transition“ begonnen habe.

Verfassungsänderung notwendig für „second phase of transition“?

Seit dem Ende der Konferenz sind immer wieder Erklärungen des ANC erfolgt, dass eine erfolgreiche zweite Phase des Wandels nur durch Änderungen der Verfassung erreicht werden könne. Während der sich anschließenden Diskussionen führte der Vizepräsident des ANC, Cyril Ramaphosa, an, dass die Verfassung nicht „auf Steintafeln vom Tafelberg“ gebracht worden, sondern von den Bürgern Südafrikas geschrieben worden sei. Diese Männer und Frauen Südafrikas könnten die Verfassung daher auch wieder ändern.

Vom Leiter der Nationalen Planungskommission (NPC), Minister Trevor Manuel ist die Verfassung Südafrikas anschließend als „living document“ bezeichnet worden. In einer Rede führte Manuel näher aus, dass die Verfassung Südafrikas schon 17 Mal geändert worden sei und der ANC nicht zögern werde, weitere notwendige Änderungen dieses Dokumentes zu veranlassen. Nur mit entsprechenden Änderungen könne man angemessen auf die heutigen Gegebenheiten reagieren und würde nicht zögern, dies auch zu tun.

Die geplanten Änderungen reichen von einer Streichung der „sexual orientation clauses“ über die Anpassung der Aufgaben der „Reserve Bank“ bis hin zur Neustrukturierung bzw. Neuzuschnitts der neun Provinzen Südafrikas. Die letztgenannte Änderung ist die wohl am meisten diskutierte Überlegung des ANC die Verfassung betreffend.

Anders verhält es sich mit einer eventuellen Umgestaltung der Aufgaben der „Chapter 9 Institutions“. Hierzu wurde vor einigen Jahren eigens eine Kommission eingesetzt, die die Effektivität der „Ch9s“ untersuchen sollte. Eines der Ergebnisse der Evaluierung war, dass vielen Bürgern Südafrikas die Einrichtungen in Kapitel 9 der Verfassung gar nicht bekannt sind bzw. ein Zugang zu den jeweiligen Institutionen für den einzelnen Bürger schwierig sei. Im Gegensatz zu den anderen oben erwähnten und vom ANC geplanten Verfassungsänderungen scheint eine Reaktion auf die Ergebnisse der Kommission, zumindest aus verfassungsrechtlicher Perspektive, nicht in Sicht bzw. nicht gewollt.

Reaktionen auf die Äußerungen des ANC

Zwar wird zum Beispiel auch die Verfassung der USA vereinzelt als „living document“ bezeichnet, welches der heutigen Zeit angepasst werden müsse, jedoch ist die Verfassung der Vereinigten Staaten ca. 200 Jahre älter als die Verfassung Südafrikas. Die „Constitution of the Republic of South Africa“ in diesem Kontext als ein “living document” zu bezeichnen erscheint daher ein wenig befremdlich. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass der ANC und seine Mitglieder in der Folgezeit landesweit starke Kritik für ihre Äußerungen erfahren mussten.

Helen Zille, Premierministerin der Provinz Westkap und Vorsitzende der Democratic Alliance (DA), verteidigte die Verfassung in ihrer jetzigen Form vehement. Die Verhandlungen über die Verfassung seien zäh, langwierig und sehr sensibel gewesen, aber ihr Ergebnis habe Südafrika gerettet. Alle Parteien hätten während der Verhandlungen versprochen, das erzielte Ergebnis zu respektieren und zu ehren. Ob eine Verfassung die Zeit überdauern würde, hänge mehr als alles andere von der gemeinsamen Übereinkunft der Verhandlungspartner ab. Verfassungen, wie die südafrikanische, die aus intensiven Verhandlungen entstanden seien, hätten eine sehr viel höhere Lebensdauer als andere, „diktierte“ Verfassungen. Ob eine Verfassung den Ansprüchen an sie genügen kann, hänge nicht von den Umständen ihrer Entstehung, sondern von denjenigen Personen ab, die damit beauftragt sind, die von der Verfassung gegebenen Regeln umzusetzen.

Auch Dave Steward, der geschäftsführende Direktor der FW de Klerk Stiftung, äußerte sich überaus k ritisch zu dem aus seiner Sicht stattfindenden „Missbrauch“ der Verfassung durch den ANC. Steward bezog sich dabei auf die Ideologie des ANC, die „National Democratic Revolution“ (NDR). Zwar sei das angebliche Ziel der NDR die endgültige Abschaffung des Apartheid-Kolonialismus und die Etablierung einer nicht rassistischen Gesellschaft, jedoch diskriminiere die NDR weiterhin Bürger aufgrund ihrer Hautfarbe und Abstammung. Im Zusammenhang mit den Plänen der NDR würde nämlich nun die Mehrheit der weißen Südafrikaner als „Antagonisten“ betrachtet. Dieser „staatlich geförderte Rassismus“ der weiterhin betrieben würde, sei absolut unvereinbar sowohl mit dem Wortlaut der Präambel als auch dem Geiste der gesamten Verfassung und widerspreche dem Gedanken der Einheit der Nation.

Der ehemalige Präsident Südafrikas, FW de Klerk, ging in einer Rede auf einer gemeinsam von der KAS und der nach ihm benannten Stiftung veranstalteten Konferenz auf die derzeitigen Tendenzen einer Verfassungsänderung ein. Seiner Ansicht nach gebe es zurzeit Tendenzen, einige Passagen der Verfassung als absolut bzw. primär hervorzuheben, während andere Abschnitte der Verfassung als nebensächlich bzw. sekundär behandelt würden. Diese Tendenzen müssten gestoppt und bekämpft werden und der Verfassung als Ganzes, mit jeder einzelnen Klausel, müsse die gesamte Aufmerksamkeit gewidmet werden. De Klerk führte schließlich an, dass die Verfassung so interpretiert und ausgelegt werden müsse, wie sie zurzeit existiere. Man dürfe die Verfassung nicht nur bei passenden Gelegenheiten zur Rate ziehen und nicht nur aus dem Kontext gerissen zitieren.

Lindiwe Mazibuko, die Fraktionsvorsitzende der DA, verteidigte ebenfalls die Verfassung Südafrikas in ihrer jetzigen Form. Die Verfassung als nationale Übereinkunft stünde über jeglicher Parteipolitik. Die vom ANC proklamierte „second transition“ und die hiermit einhergehenden Verfassungsänderungen seien nur dazu gedacht, um von den andauernden Schwierigkeiten bei Erbringung der öffentlichen Dienstleistungen und der Inkompetenz der Regierung abzulenken.

Einer der führenden Verfassungsrechtler Südafrikas, Pierre de Vos, stellte klar, dass es nicht auf die Anzahl der Verfassungsänderungen ankomme, sondern auf die Bedeutung der Sektionen der Verfassung, die geändert würden. Das Argument, die Verfassung sei bereits mehrmals geändert worden, weshalb weitere Änderungen nicht ins Gewicht fallen würden, sei verfehlt. Die nun geplanten Änderungen beträfen fundamentale Prinzipien der Verfassung und nicht allein technische Bezeichnungen, wie die der Änderungen in der Vergangenheit. Befürworter der geplanten Verfassungsänderungen sollten zuerst einmal konkret aufzeigen, welche Kapitel der Verfassung die weitere Transition Südafrikas erschweren bzw. behindern würden, bevor einschneidende Änderungen der Grundzüge des Staates erfolgen dürften.

Die Verfassung Südafrikas als „living constitution“?

Eine „living constitution“ ist eine Verfassung, die sich entwickelt und entfaltet, sich im Laufe der Zeit verändert und sich den momentanen Gegebenheiten anpasst, ohne formell novelliert zu werden.

Daher könnte jede Verfassung und auch die Verfassung Südafrikas als „living document“ und „living constitution“ bezeichnet werden. Es erscheint keine wirkliche Alternative zu geben, als eine „lebendige“ Verfassung im Staat zu haben. Die Verfassung Südafrikas ist seit ihrem Inkrafttreten bereits 17 Mal geändert worden. Diese Änderungen betrafen aber überwiegend nebensächliche Kapitel bzw. Anpassungen des Wortlautes sowie Änderungen von Bezeichnungen staatlicher Einrichtungen.

Die Transition Südafrikas muss als noch nicht abgeschlossen betrachtet werden. Grundsätzliche Fragen der Politikgestaltung, die Überprüfung der Rechte der Zivilgesellschaft und Probleme des Rechtsstaates rücken immer wieder in den Fokus. Es scheint daher auf den ersten Blick unausweichlich, dass die Verfassung weitere Änderungen erfahren wird, um auf alle Entwicklungen verfassungsgemäß reagieren zu können. Verfassungsänderungen stellen daher grundsätzlich eine gute Möglichkeit dar, um angemessen auf die Änderungen in der Gesellschaft reagieren zu können. Es wäre verfehlt, die Verfassung als Relikt der Vergangenheit zu betrachten und zuzulassen, dass Teile der Verfassung die Gesellschaft daran hindern, den notwendigen Fortschritt zu erreichen.

Werden diese Entwicklungen der Gesellschaft jedoch als Vorwand missbraucht, um Verfassungsänderungen auf den Weg zu bringen, die einzig den Zweck verfolgen, die Macht der Regierung zu erhalten und eventuell Misserfolge der Regierung zu verschleiern, ist ein Aufschrei in der kritischen Gesellschaft Südafrikas mehr als verständlich.

Die Verfassung Südafrikas ist sehr jung und vor allem überaus detailliert ausgestaltet. Es kann daher nicht als selbstverständlich betrachtet werden, diese moderne Verfassung als eine „living constitution“ zu bezeichnen.

Die Grundsätze der Verfassung sollten - entgegen der Auffassungen Cyril Ramaphosas - sehr wohl als „in-Stein-gemeißelt“ betrachtet werden. Die Verfassung eines Staates ist das grundlegendste Recht, welches der Staat besitzt und hat den Anspruch, alle fundamentalen Leitsätze in sich zu vereinen.

Diese Grundsätze und Leitlinien des Staates als „lebend“ zu betrachten und damit den erzielten Kompromiss über die Grundfesten Südafrikas durch ständige Änderungen versuchen zu unterminieren, würde zur Aushöhlung der Verfassung und zur Umgehung der Gerichte führen. Denn es ist die Justiz, die mit der Auslegung der Verfassung beauftragt ist. Die Gerichte müssen den Text der Verfassung dem jeweiligen Fall entsprechend auslegen und ihre Entscheidungen an der Verfassung messen. Es liegt in den Händen der Justiz, die Verfassung zu einem „living document“ zu machen, nicht in den Händen der Politik bzw. der Regierungsparteien.

Die Verfassung als „living document“ zu bezeichnen ist nicht gänzlich verfehlt. Jedoch sollte diese „Lebendigkeit“ lediglich im Zusammenhang mit der Auslegung der Verfassung durch die zuständigen Gerichte erfolgen. Es ist die Aufgabe des „Constitutional Court“, die grundsätzlichen Leitlinien, welche die Verfassung vorgibt, zu interpretieren und eine zeitgemäße Rechtsprechung auf der Basis der Verfassung zu finden.

Durch den „17th Amendment Act“ der Verfassung, der am 23. August 2013 proklamiert und damit in Kraft getreten ist, wurden die Befugnisse des „Constitutional Court“ sogar noch erweitert. Das Verfassungsgericht Südafrikas kann nun in allen Verfahren, die es von Bedeutung für die Gesellschaft hält, den Fall an sich ziehen und ihn mit Bindungswirkung entscheiden. Die Rechtsprechung des „Constitutional Court“ ist somit nicht mehr nur auf Fälle beschränkt, die verfassungsrechtlich von Bedeutung sind, sondern Gerichtsverfahren aus allen Rechtsgebieten können vom Verfassungsgericht übernommen und angehört werden.

Durch diese Ausweitung der Befugnisse des „Constitutional Court“ ist es dem Verfassungsgericht Südafrikas nun möglich, die Wahrung der in der Verfassung verankerten Rechte über alle Rechtsbereiche und -gebiete hinweg zu überwachen. Es liegt daher nun am höchsten Gericht Südafrikas, die Verfassung in allen Rechtsfragen durch entsprechende Auslegung zu einem „living document“ werden zu lassen.

Die Diskussion über die „lebende“ Verfassung zeigt die Zwiegespaltenheit Südafrikas. Die Verfassung des Landes steht im Spannungsfeld zwischen parteipolitisch bzw. wahlkampftaktisch motivierten Änderungsbestrebungen und ihrer Eigenschaft als ausgehandeltes Grundmanifest der südafrikanischen Gesellschaft.

Nach der Manguang-Konferenz des ANC, auf der Präsident Zuma erneut zum Parteivorsitzenden gewählt wurde, ist es zwar ein wenig ruhiger um die Diskussion der „second phase of the transition“ geworden. Jedoch scheint dies dem bevorstehenden Wahlkampf für die Wahlen in Südafrika im Frühjahr 2014 geschuldet. Dem ANC scheint der Gegenwind, der ihm nach dem Bekanntwerden der geplanten Verfassungsänderungen entgegen wehte, eine Warnung gewesen zu sein. Es wird interessant zu sehen sein, wie sich die Diskussion um die Änderungen der Verfassung Südafrikas nach den nächsten Parlamentswahlen entwickeln wird.

Die Aufgabe der Zivilgesellschaft Südafrikas und ihrer Organisationen wird daher darin liegen, die weiteren Entwicklungen intensiv zu beobachten und kritisch zu verfolgen. Es liegt dabei u. a. in der Hand von Organisationen wie den Partnern der KAS, dem South African Institute for Advanced Constitutional, Public, Human Rights and International Law (SAIFAC) oder der FW de Klerk Stiftung, über den Bestand der Verfassung zu wachen und einen Missbrauch durch die jeweilige Parlamentsmehrheit zu verhindern.

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