„Dass in der reichsten Ortskirche der Welt die Kirchen am leersten sind, das sollte Euch doch zu denken geben.“ Diesen Satz in der einen oder anderen Version hat wohl schon mal jeder Deutsche gehört, der irgendwie mit dem Vatikan zu tun hat. Verwiesen wird in den Büros der römischen Kurie dabei gern auf den rasanten Glaubensschwund und die galoppierenden Austrittszahlen, die alle Debatten des Synodalen Wegs offenbar nicht aufhalten könnten.
Man kennt auch in Rom die deutschen Zahlen genau: Dass etwa vor einem Jahr die Zahl der Mitglieder der beiden Großkirchen erstmals seit Bestehen der Bundesrepublik unter die magische 50-Prozent-Marke gefallen ist. Dass rund drei Viertel der Menschen in Deutschland laut repräsentativen Umfragen die Kirchensteuer nicht mehr zeitgemäß finden. Dass allein 2022 mehr als eine halbe Million Menschen aus der katholischen und rund 380.000 aus der evangelischen Kirche austraten; ein trauriger Rekord. Und über 40 Prozent der Mitglieder beider christlicher Kirchen geben an, dass die Kirchensteuer auch sie mittelfristig zum Austritt bewegen könnte. (Die Zahlen stammen aus einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov vom April 2023).
Wie sieht es dagegen südlich der Alpen aus? Um es vorwegzunehmen: Auch in Italien werden die Kirchen leerer. Trotz der ungebrochenen Popularität von Papst Franziskus wurde auf dem Stiefel im vergangenen Jahr – laut des nationalen Statistik-Amts ISTAT – mit 20 Prozent der Gläubigen, die mindestens einmal pro Woche zur Messe gehen, ein Rekordtief erreicht. Immerhin 50 Prozent der Italiener besuchen gelegentlich oder an kirchlichen Festtagen den Gottesdienst. 30 Prozent hingegen haben im letzten Jahr niemals einen Fuß in die Kirche gesetzt, von bestimmten Ereignissen wie Taufen, Hochzeiten oder Beerdigungen abgesehen.
Im Vergleich mit anderen europäischen Ländern liegt das noch immer über dem Durchschnitt. Denn der teils dramatische Rückgang der Gottesdienstbesucher, der Inanspruchnahme der Sakramente und der Berufungszahlen spiegeln einen Trend wider, der sich heute in ganz Europa und Nordamerika etabliert hat; anders sieht es übrigens in Afrika, Asien und Lateinamerika aus, wie das vatikanische Annuarium Statisticum Ecclesiae verzeichnet. Die Tendenz hat sich in den Lockdowns der Pandemie-Jahre beschleunigt und nicht wieder umgedreht. Covid wirkte somit auch in Italien wie ein „Brandbeschleuniger“ für den Niedergang.
Die Daten des ISTAT zeigen weiter, dass sich in den letzten 20 Jahren, von 2001 bis 2022, die Zahl der regulär praktizierenden Katholiken fast halbiert hat (von 36 Prozent auf 19 Prozent), während sich die Zahl der "Nie-Praktizierenden" sogar verdoppelt hat (von 16 auf 31 Prozent). Am stärksten ist der Einbruch erwartungsgemäß bei den Jugendlichen. Geographisch gesehen ist die Zahl der regelmäßigen Messebesuche im Norden niedriger als im Süden des Landes. Trotz voranschreitender Säkularisierung lässt sich auf dem Stiefel jedoch beobachten: Die drei wichtigsten sakramentalen Lebensstationen wie Taufe, Trauung oder Beerdigung, werden von einem Großteil der Italiener nach wie vor kirchlich begangen.
Es zählt die Taufe, nicht die Mitgliedschaft
„Austrittszahlen“, wie sie regelmäßig in Deutschland veröffentlicht werden, gibt es in Italien übrigens nicht. Der Grund: Abseits der Taufregister gibt es keine offizielle standesamtliche oder sonst geartete staatliche Erfassung der Religionszugehörigkeit. Nach vatikanischer Sichtweise ist man ohnehin als Christ durch das Sakrament der Taufe lebenslang mit Christus und somit der Kirche verbunden - nicht durch eine Art „Vereinsmitgliedschaft“.
Diese Fakten sollte man im Hinterkopf haben, wenn wir über das italienische Modell der „Kirchensteuer“ sprechen. Wobei allein schon dieser Begriff falsch ist: Es gibt in Italien nämlich gar keine „Kirchensteuer“ im deutschen Verständnis. Denn anders als in Deutschland wird hierzulande keine zusätzliche Steuer für Kirchenmitglieder erhoben. Stattdessen müssen alle Einkommensteuerpflichtigen – unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit – 0,8 Prozent des anfallenden Steueraufkommens für soziale und kulturelle Zwecke nach Wahl entrichten. Zur Auswahl der „Otto per mille“ (wie die Formel gern verkürzt wird – zu Deutsch „acht Promille“) in der jährlichen Steuererklärung stehen verschiedene religiöse Institutionen, darunter die katholische Kirche und verschiedene protestantische Kirchen (darunter auch die deutschsprachige lutherische Kirchengemeinde in Italien), das dem Patriarchat von Konstantinopel unterstellte orthodoxe Erzbistum Italiens, jüdische, hinduistische und buddhistische Verbände, und schließlich der Staat. Muslimische Organisationen oder Verbände sind mangels struktureller Voraussetzungen nicht erfasst. Der Steuerpflichtige kann sein Kreuzchen gezielt hinter den Träger setzen, den er unterstützen will. Muss er aber nicht. Laut des römischen Finanzministeriums lassen fast 60 Prozent der italienischen Steuerzahler die Kästchen leer. Ihr Beitrag wird gemäß dem Schlüssel verteilt, den die restlichen rund 40 Prozent mit ihrer Auswahl definieren.
Der Steuerzahler entscheidet, wer sein Geld bekommt
Jene entscheiden sich mit ihrem Kreuz meist für die katholische Kirche (70 Prozent). Auf Platz zwei steht der Staat (24 Prozent). Alle drei Jahre wird in einer Kommission aus Mitgliedern von Regierung und Kirche festgelegt, welcher Prozentsatz an der Lohn- bzw. Einkommensteuer durch das Wahlverfahren entweder einer Religionsgemeinschaft oder anderen Zwecken zugewendet werden soll.
Während sich das frühere Modell ausschließlich auf die Katholische Kirche beschränkte, finanziert das „Otto per mille“-System heute insgesamt sechzehn Glaubensgemeinschaften. Für die Teilnahme an dem Verteilungssystem entscheidend ist der Abschluss eines Vertrages zwischen Staat und einzelner Kultusgemeinschaft, in dem sie ihre gegenseitigen Beziehungen regeln. Dieses Konkordat dient nicht nur der Finanzierung der jeweiligen Gemeinschaft, sondern umfasst das generelle Verhältnis zum Staat; unter anderem also die Ausbildung der Geistlichen, die Errichtung religiöser Gebäude oder die Militärseelsorge.
Die Gleichbehandlung aller Steuerzahler bei der Bestimmung der Finanzierungsquoten ist als demokratisches Element zu verstehen, denn damit haben sie unabhängig von der Höhe der geschuldeten Steuer den gleichen Einfluss auf den Verteilungsprozess. Es zählen also die Köpfe, nicht die persönliche Einkommenshöhe. Die Förderung von Religionen und bestimmten Kultuseinrichtungen wird somit nicht nur zu einem Belang der Allgemeinheit, sie gewährleistet auch Transparenz: Ihre Finanzierung wird nicht individueller Philanthropie oder dem Wohlgefallen organisierter Spender überlassen.
Das gegenwärtige italienische Modell der Finanzierung entstand in den Jahren 1984/1985 mit der Reform des Konkordats zwischen Staat und Katholischer Kirche, das noch aus den Mussolini-Zeiten stammte. Mit dem novellierten Staatsvertrag wurde der Katholizismus als offizielle Staatsreligion abgeschafft. Damit einhergehend die bis dahin geltenden Subventionen der Kirche durch den Staat, die u.a. eine Reaktion auf die massiven, entschädigungslosen Enteignungen kirchlichen Vermögens im Laufe des 19. Jahrhunderts gewesen war. Diese Modernisierung des Konkordats wurde nota bene (!) unter dem Pontifikat von Johannes-Paul II. und der damaligen Regierung unter Führung der Democrazia Cristiana eingeleitet.
Kirche wirbt mit TV-Kampagne
Wer in den Wochen vor den Abgabefristen der jährlichen Steuererklärung durch die italienischen Fernsehkanäle zappt, erlebt Erstaunliches: Da flimmert Werbung für die katholische Kirche über den Bildschirm. So auch in diesem Jahr. Zehn flotte Videospots für TV und Internet hat die Bischofskonferenz produzieren lassen. Darüber Beiträge und Testimonials in Zeitungen und Radio sowie Plakate. "Tue eine Tat der Liebe" lautet der Slogan der Werbekampagne.
In den aktuellen Videos zeigt die Kirche Projekte, die aus den Einnahmen der 0,8-Prozent-Abgabe unterstützt werden. Darunter sind etwa ein Wohnheim für alleinerziehende Mütter mit minderjährigen Kindern, eine Lebensmitteltafel und eine Obdachlosenunterkunft. Das Geld soll zudem in die Restaurierung von Kirchen fließen und Hilfsmaßnahmen im Ausland ermöglichen. Laut Bischofskonferenz kostete die neue Kampagne etwa eine Million Euro. Die katholische Kirche in Italien hat über den Beitrag "Otto per mille" rund eine Milliarde Euro im Jahr 2021 eingenommen; 2016 waren es noch 1,4 Milliarden. Zum Vergleich: In Deutschland beliefen sich die Kirchensteuereinnahmen für die katholische Kirche 2021 auf 6,73 Milliarden Euro.
Modell für Deutschland?
Kann Italiens Kirche davon leben? Bislang ja, auch wenn sie neuerdings um jeden Cent hart werben muss. Denn ein wichtiger Punkt kommt zu ihren Gunsten hinzu: Kirchliche Immobilien und Liegenschaften sind in Italien traditionell von der Grundsteuer befreit. Und davon gibt es auf dem Stiefel jede Menge. Trotzdem: Jeder Italien-Reisende weiß, wie viele Kirchen und Kapellen von Nord nach Süd verschlossen vor sich hin modern oder dem Verfall preisgegeben sind. Die Kirche tut sich sichtbar schwer, ihre Bauwerke abseits der großen Kunstmetropolen aus eigener Kraft zu erhalten, und der Staat hat häufig kein Geld für Zuschüsse zur fälligen Sanierung. Aufsehen erregte etwa vor ein paar Wochen eine Reportage aus dem Erzbistum Neapel: Von insgesamt 2000 Kirchen werden nur noch 340 für Gottesdienste genutzt. Rund 100 Gotteshäuser sind an kulturelle Institutionen vermietet und dienen als Veranstaltungsort. Der Rest schlummert vor sich hin und vergammelt. Ein Beispiel, das auch für andere Landesteile steht. Immerhin, im kommenden Jahr steht eine neue Runde in den Verhandlungen um die Höhe des Kultur-Steuersatzes an: Dann könnten aus „8xmille“ vielleicht „9xmille“ werden.
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