Länderberichte
Marathonsitzung bringt Entscheidung
Nach Monaten der Diskussionen und Streitereien hat das tschechische Abgeordnetenhaus weitere zwei Sitzungstage benötigt, um letztendlich dem Lissabonner Vertrag zuzustimmen. Mit 125 zu 61 Stimmen nahm das Vertragswerk somit die erste institutionelle Hürde in Tschechien. Mit dem Senat und der Unterschrift des Staatspräsidenten Vaclav Klaus stehen aber noch weitere, nicht unerhebliche bevor. Im Abgeordnetenhaus deutete sich dabei an, was im Senat wohl noch anstehen wird: Eine in sich gespaltene und bei europapolitischen Fragen zersplitterte ODS. So stimmten neben den Kommunisten auch 36 von 79 Fraktionsmitgliedern der ODS gegen die offizielle Position ihres eigenen Premiers Mirek Topolanek. Dieser wiederum zeigte im Vorfeld der Sitzungen im Abgeordnetenhaus keine allzu große Euphorie für die Abstimmung und bezeichnete den Vertrag als „unnötig“. „Meine Entscheidung ist eine ganz rationale. Es ist sicherlich nicht so, dass ich so jubeln würde, wie wir es im alten Regime bei jeder Dummheit tun mussten. Ich juble nicht.“ Allerdings unterstütze er den Vertrag, da Tschechien ansonsten in Europa unnötig unter Druck geraten könne. Kritische Töne kamen von Seiten der „Rebellen“ in der ODS: Der Lissabonner Vertrag sei der Preis für Topolaneks Ambitionen auf den Posten eines EU-Kommissars, spekulierte der ehemalige Finanzminister und heftige Regierungskritiker Vlastimil Tlusty (ODS).
Steht zweite Verfassungsklage bevor?
Zwar kann Topolanek mit der Abstimmung im Abgeordnetenhaus einen wichtigen Teilerfolg einstreichen, unter Dach und Fach ist die Ratifizierung damit aber noch lange nicht. Nachdem der Senat bereits im vergangenen Jahr eine Verfassungsklage einreichte, die unter lauten Protesten des Staatspräsidenten Vaclav Klaus (ODS) zurückgewiesen wurde, bereitet ein Teil der ODS-Senatsfraktion nun offensichtlich eine zweite Klage vor, die abermals die „exzessive Übertragung nationaler Rechte an die EU“ kritisiert. In die gleiche Richtung zielt auch, dass der Senat die für April angesetzte Abstimmung an die Bedingung bindet, dass das Abgeordnetenhaus bis dahin ein Gesetz verabschiedet, dass die Regierung bei zukünftigen Kompetenzfragen zwischen nationalem Parlament und EU an eine Verfassungsmehrheit in beiden Parlamentskammern bindet. Weite Teile der ODS und anderer Fraktionen hegen ähnliche Zweifel, wie sie nun auch das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf die Kompetenzen nationaler Parlamente äußerte. Allerdings könnte dieser legislative Prozess wiederum für erhebliche Verzögerungen im Ratifizierungsprozess sorgen – Ein Umstand, der so manchem Spitzenpolitiker der Regierung nicht Unrecht sein könnte.
Fokus Ratpräsidentschaft
Eine Ausrede für den schleppenden parlamentarischen Ratifizierungsprozeß hat die Regierung parat: Die Ratspräsidentschaft ist Hauptaugenmerk. In der Tat widmet sich das tschechische Kabinett mit aller Kraft der neuen Verantwortung, und entgegen vieler negativer Erwartungen fällt eine Zwischenbilanz nach den ersten beiden Monaten überaus positiv aus. (Mehr Informationen zur tschechischen Ratspräsidentschaft erhalten Sie in unseren monatlich erscheinenden Newslettern unter www.kas.de/prag.) Neben all den gut funktionierenden organisatorischen Fragen scheint sich ein tschechisches Talent in der Praxis erneut bewiesen zu haben: Das Krisenmanagement. Mirek Topolanek zeigte sich Anfang des Jahres beinahe froh über all die plötzlich aufkommenden Krisen. So konnte er nicht nur auf europäischer Bühne als Vermittler punkten, sondern sich auch zuhause wichtiges Vertrauen zurückholen. Aber gerade dort muss er seine Fähigkeiten als Krisenmanager mehr denn je unter Beweis stellen. Gleichwohl gelang es ihm, gerade durch die bisher erfolgreiche Ratspräsidentschaft seine Position im Land zu stärken.
Topolanek vor weiteren Baustellen
Waren seine Umfragewerte kurz vor dem ODS-Parteitag nur knapp im zweistelligen Bereich, katapultierte er sich durch sein Auftreten in Moskau auf nahezu 30 Prozent. Unerwartet half also gerade die von der ODS so heftig kritisierte Position Tschechiens in Europa der Partei, sich nach den heftigen Niederlagen im vergangenen Jahr zumindest vorübergehend zu stabilisieren. Diesen Trend gilt es nun im Hinblick auf die regulär für 2010 angesetzten Wahlen zu festigen. Ein schwieriges Unterfangen: Mit Juraj Raninec ist ein parteiinterner Kritiker Topolaneks aus der ODS-Fraktion im Abgeordnetenhaus ausgetreten. Erneut also muss Topolanek um seine Mehrheit im Parlament fürchten. Vom sich bisher erstaunlich zurückhaltenden Vaclav Klaus muss in der nahen Zukunft mit Unruhe stiftenden Kommentaren zu den Vorgängen rund um Lissabon gerechnet werden. Der Senat wird sich intensiv mit dem Lissabonner Vertrag auseinander setzen. Und die anstehenden Europawahlen könnten weiteren Druck für Topolanek bringen, sollte die ODS große Mandatsverluste an die neu entstandene Freie Bürgerpartei (SSO) und Libertas.cz erleiden. Der Regierungschef wird also auch in Zukunft mit den vielen Variablen in seinem Umfeld balancieren müssen, um seine Partei für die nächsten Wahlen vorzubereiten.
Europa im Stimmungshoch
Die Zustimmung der tschechischen Bevölkerung zur Europäischen Einigung scheint von der positiven Entwicklung der Ratspräsidentschaft zu profitieren: In einer Medienanalyse der Agentur „Newton“ zeigte sich, dass positive oder zumindest neutrale Beiträge in ihrer Anzahl im Vergleich zu europaskeptischer Berichterstattung angestiegen sind – mit Blick auf die Vergangenheit ein wichtiger Trend. Europa ist nun anders als früher für die Bürger tatsächlich in greifbarere Nähe gerückt als es im fernen Brüssel ist. Das kunterbunte Logo der Ratspräsidentschaft ist allgegenwärtig, lokale Aktionstage und Festivals des Europaministeriums, der EU-Institutionen, anderer Nichtregierungsorganisationen und Universitäten erfreuen sich großer Nachfrage und Themen wie die „Entropa“-Plastik beleben die Diskussion des Europäischen Projekts in Tschechien. In den Nachrichten zeigen sich tschechische Vertreter neben Größen der europäischen und globalen Politik und unterstreichen damit den wichtigen Beitrag Tschechiens in der EU. In der Tat ist es für die Tschechen eine neue Erfahrung, ihre Minister auf höchster europäischer Ebene in der Führung zu sehen – Europakritikern und Populisten ist viel Wind aus den Segeln genommen.
Ein Portugiese kennt keinen Frost
Kommentatoren und Beobachter tragen jedenfalls ihren Teil dazu bei, dass Europa bei den Menschen ankommt. So wird in Prag gewitzelt, dass die Tschechen zumindest eine Kompetenz hätten, die manch andere Länder in Europa nicht einbringen könnten: Man wisse hierzulande, was Kälte ist – ein Portugiese eben nicht. Allein auf dieser Grundlage wären Verhandlungen mit Russland erst überhaupt erfolgversprechend und Europa könne froh sein, dass die Tschechen das Ruder in der Hand hätten. Eine dem tschechischen Humor entsprechend pragmatische Erkenntnis. Bleibt zu hoffen, dass Tschechien auch in Zukunft solch konstruktive Talente an sich entdecken und in Europa einbringen wird.