Ins Zentrum der tschechischen Überlegungen, welchen Themen man sich in diesem Halbjahr vorrangig widmen wolle, sind Fragen wie Energiesicherheit, Verteidigungspolitik und Widerstandskraft der Institutionen oder auch die Flüchtlingsproblematik gerückt. Die Umsetzung dieser Prioritäten manifestierte sich in der tschechischen und europäischen Führungsrolle in der Osteuropapolitik, die alle anderen politischen Bereiche in den Schatten stellte.
Situation zu Beginn des Jahres 2023
In der Praxis setzte die Tschechische Republik eine harte Vorgehensweise gegen Russland durch: sie koordinierte die Diskussion über die Sanktionspolitik, brachte die Bestrafung von Kriegsverbrechen durch die Errichtung eines internationalen Gerichtshofes und die Isolation des Putin-Regimes auf der internationalen Bühne auf den Weg, während die tschechische Regierung Auswege aus ernsten Dilemmas wie etwa der Energieabhängigkeit ihres Landes von Russland suchte. Die Energiefrage und die Anzahl an außerordentlichen Sitzungen des EU-Rats unter dem Vorsitz der Tschechischen Republik verdeutlicht, wie schwer es für die EU-Mitglieder war, eine gemeinsame Sprache zu finden.
In der Frage der Ostpolitik der EU kann die tschechische Ratspräsidentschaft nur gemischte Ergebnisse vorweisen, da die Debatte über eine Reform der Östlichen Partnerschaft nur schwer in die Gänge kam und eine Diskussion unter EU-Mitgliedern auf höchster Ebene gerade erst begonnen hat. Zugleich wurden in der Russlandpolitik nur äußerst zaghafte Aktualisierungen vorgenommen, die zwar von langer Hand von den EU-Institutionen vorbereitet wurden, aber letztendlich keine größere Veränderung bringen, da es den 27 Mitgliedstaaten an einer gemeinsamen Vision fehlt. Die Arbeit an einer neuen politischen Strategie wird somit auf einen Zeitpunkt verschoben, an dem günstigere Bedingungen für einen gemeinsamen Ansatz der EU vorliegen, um Schritte in dieser Richtung zu unternehmen.
Den größten Erfolg verzeichnete die tschechische Diplomatie in ihren Beziehungen zur Ukraine. Diese profitierte von einem umfangreichen Paket, das ihr auf verschiedenen Ebenen Hilfe bringen sollte. Hierzu zählte unter anderen die Stärkung der Zusammenarbeit im Bereich Sicherheit, die den Start einer neuen Ausbildungsmission für ukrainische Soldaten umfasste oder zum ersten Mal auch die Nutzung von Mitteln aus dem Finanzinstrument Europäische Friedensfazilität. Nicht nur dieser Schritt, sondern auch viele andere wären vor dem 24. Februar 2022, der in vielerlei Hinsicht einen Wendepunkt für die EU darstellte, unvorstellbar gewesen. Die offizielle Haltung der Tschechischen Republik und der EU zur Zusammenarbeit mit der Troika Ukraine, Moldau und Georgien blieb dabei unverändert. Diese Länder haben ein Assoziierungsabkommen mit der EU unterzeichnet und profitierten zudem von der erstarkten offiziellen Präsenz der Tschechischen Republik bei EU-Ratssitzungen in verschiedenen Zusammensetzungen. Alle drei, besonders die Ukraine und Moldau, genossen eine Vorzugsbehandlung seitens der EU, zu der auch die Tschechische Republik beigetragen hat, die ihnen stets die Tür zu einer engeren Integration offen gehalten hatte.
Nicht zuletzt spielte die Tschechische Republik eine konstruktive Rolle bei der Vermittlung der unterschiedlichen Positionen der EU-Mitglieder zu Schlüsselfragen in Zusammenhang mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und dessen Folgen. Die Tschechische Republik bot zudem einer Opposition von wenig interessierten oder absichtlich nicht konstruktiven Mitgliedstaaten die Stirn, darunter vor allem Ungarn, das im Bereich Außenpolitik an Glaubwürdigkeit eingebüßt hatte und in zahlreichen Fragen im Kontext der russischen Aggression isoliert dastand.
Künftige Dilemmas
Am Ende des tschechischen Mandats im Dezember 2022 bzw. zu Beginn des Jahres 2023 sind noch einige Schlüsselfragen und die Positionierung der EU zu bedeutenden politischen Themen offen geblieben, die nun Aufgabe der schwedischen EU-Ratspräsidentschaft sind.
Ein wichtiger Bestandteil der Debatte – deren Ergebnisse nach wie vor wenig zufriedenstellend sind – ist es, wie die EU-Mitglieder davon überzeugt werden können, die künftige Integration der Ukraine und Moldaus in die EU zu befürworten und voranzutreiben. Aber auch die Frage, wie die Widerstandsfähigkeit gestärkt und wie die Ukraine nach dem Krieg beim Wiederaufbau unterstützt werden kann, der auf den Prinzipien der Nachhaltigkeit und Modernisierung gründen muss, die das Land den Standards der EU annähern werden. Obwohl die Tschechische Republik starke Argumente vorbrachte, warum sich die Ukraine und Moldau weiter der EU annähern und die Bürger spürbar davon profitieren sollten, ist es bisher nicht gelungen, in dieser Hinsicht einen breiten politischen Konsens unter den EU-Staaten zu erzielen, besonders unter jenen Mitgliedsländern, die ein geringeres Interesse haben oder weniger dazu neigen, sich der Mehrheit anzuschließen. Hier spiegelt sich in gewissem Maße ein langfristiges Problem wider, mit dem mittelgroße EU-Länder wie etwa die Tschechische Republik im Hinblick auf Kapazitäten und Mittel konfrontiert sind, auch wenn es ihr durch Fokussierung auf einige in der politischen Diskussion allgemein anerkannte Schlüsselbereiche gelungen ist, sich bei den 27 Mitgliedstaaten politisch und international Gehör zu verschaffen.
Als ein weiterer Punkt, mit dem das genannte Thema eng zusammenhängt, erwies sich das Konzept eines „breiteren Europas“. Dieses wird vor allem von der Europäischen Politischen Gemeinschaft verkörpert, die nun auf die Agenda zurückkehrt, über die im Rahmen der EU entschieden wird, obgleich sie neben der politischen Erweiterung, die im vergangenen Jahrzehnt praktisch zum Stillstand gekommen ist und mit tiefen strukturellen Problemen einherging, in manchen Mitgliedstaaten aber auch einen Mangel an politischem Willen litt, immer noch ihren Platz sucht. Die EU muss eine proaktivere Haltung einnehmen und festlegen, welche Rolle die einzelnen politischen Initiativen künftig spielen werden, was besonders aus finanzieller Sicht und im Hinblick auf die Verwaltung der finanziellen Mittel, die im Rahmen des Mehrjährigen Finanzplanes bis 2027 zur Verfügung stehen, keine leichte Aufgabe sein wird. Größere Fortschritte bei den Aussichten der Länder des Westbalkans auf eine Mitgliedschaft würden zu einer Entschärfung der Anspannung zwischen den politischen Optionen und den einzelnen betroffenen Ländern beitragen, die dazu neigen, um finanzielle Mittel zu ringen. Es würde auch zu größeren Anstrengungen motivieren, wenn der real erzielte Fortschritt und nicht der politische Wille der EU-Mitgliedstaaten ein Beitrittskriterium wäre.
Unter tschechischem Vorsitz wurde in diesem Sinne viel in eine Neukalibrierung der Politik der Östlichen Partnerschaft investiert, bei der eine Kehrtwende erzielt werden konnte. Dass dieses Projekt nicht komplett abgeschrieben werden musste und teilweise neu erfunden wurde, ist einem produktiven Dialog auf Arbeitsebene zu verdanken, bei dem es gelungen ist, eine Diskussion über das weitere Vorgehen in diesem besonders komplizierten politischen Bereich anzustoßen. Ein neues Gleichgewicht zwischen den stärkeren bilateralen Beziehungen (Differenzierung), vor allem mit der assoziierten Troika, und der multilateralen Dimension (Inklusion) zu finden, damit die Zivilbevölkerung von Belarus oder Aserbaidschan und die proeuropäischen Kräfte in diesen Staaten im politischen Rahmen bleiben, wird eine besondere Herausforderung für die kommende schwedische EU-Ratspräsidentschaft darstellen. Dies gilt vor allem für Armenien, das zu Hause stürmische Zeiten durchlebt, während es durch die geopolitische Natur des Konflikts mit Aserbaidschan, der sich in Zusammenhang mit der Frage des Latschin-Korridors wohl wieder verschärft, eingeengt wird.
Was Russland angeht, war aus tschechischer Sicht entscheidend, dass die EU-Mitgliedstaaten am selben Strang ziehen und es im Idealfall gelingt, die laufenden Reformprozesse in den Beziehungen zwischen der EU und Russland abzuschließen, wie es vom tschechischen Außenminister Jan Lipavský angekündigt worden war. Dieser Entschluss trug gewisse Früchte, als der Hohe Vertreter der EU Josep Borrell im November 2022 im Namen des Europäischen Auswärtigen Dienstes und der Europäischen Kommission neue Prinzipien für den Umgang mit Russland verabschiedete. Anscheinend haben es nun alle EU-Mitglieder akzeptiert, dass man nicht einfach zum „business as usual“ zurückkehren könne. Zugleich werden zahlreiche Diskussionen darüber geführt, wie man in Zukunft mit Russland (und auch mit der Ukraine) umgehen wolle und wie großen Druck man auf Putins Regime ausüben könne, wobei im Prinzip Szenarien entworfen werden, wie es nach Kriegsende weitergehen könnte. Diese Diskussion zu koordinieren, wird die Aufgabe der künftigen Ratspräsidentschaften sein, allen voran Schwedens.
Dem Thema Sicherheit wird in den Beziehungen zu den osteuropäischen Nachbarn sowie zu den engeren Partnern in der EU, besonders der NATO, eine Schlüsselrolle zukommen. Die tschechische Regierung hat sich in diesem Bereich an ihren traditionellen Ansatz gehalten und eine engere Zusammenarbeit zwischen beiden Bündnissen propagiert, auch wenn es manchmal nicht leicht war, bei Meinungsunterschieden zwischen den Mitgliedern zu vermitteln. Die Frage der strategischen Autonomie (bzw. Souveränität) ist in den Hintergrund gerückt, als die Unterstützung seitens der USA und der NATO noch deutlicher und für Europa immer entscheidender wurde. In Anbetracht der ungeheuren Brutalität des Kriegs, den Russland gegen die Ukraine führt, mit all dem Terror, der Tag für Tag gegen die zivile Infrastruktur und Menschen ausgeübt wird, stellt sich jedoch die Frage, wie die europäischen Sicherheitskapazitäten einschließlich des verarbeitenden und produzierenden Gewerbes mobilisiert werden können.
Fazit
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der tschechische Vorsitz im Rat der Europäischen Union in Bezug auf die Ukraine und Osteuropa ein äußerst positiver und konstruktiver Zeitraum war. Es hat sich gezeigt, dass die Tschechische Republik zwar in der Lage ist, selbst komplexe politische Abkommen zu koordinieren (etwa im Bereich Energie) und dass sie in ihren proukrainischen Positionen sehr ambitioniert ist (was sich z. B. in ihrer abschließenden Erklärung zum Thema EU-Erweiterung widerspiegelt), dass sie indes keine Einigkeit in wichtigen Strategiefragen zwischen den EU-Mitgliedstaaten herbeizuführen vermag, wozu schlicht und einfach mehr Zeit erforderlich wäre. Hier muss das Augenmerk u. a. auf dem künftigen Erweiterungsprozess liegen, besonders im Falle der Beitrittskandidaten Ukraine und Moldau. Dies gilt auch für die künftige Haltung der EU gegenüber Russland. In einigen Kernfragen herrscht in der Debatte Einigkeit, es bleibt jedoch offen, wie man in Zukunft mit dem Putin-Regime umgehen soll und welchen Druck man ausüben muss, um den imperialistischen Ambitionen der russischen Führung gegenüber der Ukraine und weiteren Nachbarn, die traditionelle Opfer russischer Repressionspolitik sind, Einhalt zu gebieten.
Pavel Havlíček ist Analytiker bei AMO - Tschechische Assoziation für internationale Fragen. Seit Januar 2023 ist er auch KAS Czechia Central Europe Fellow for Security Policy. Er beschäftigt sich vor allem mit Osteuropa, insbesondere mit der Ukraine, Russland und der Östlichen Partnerschaft. Beruflich befasst er sich auch mit Fragen der strategischen Kommunikation und Desinformation sowie der Demokratisierung und Unterstützung der Zivilgesellschaft. Pavel Havlíček ist Mitglied der Jugendorganisation TOP Tým und Mitglied der politischen Partei TOP 09 (EVP).