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Länderberichte

Kommunalwahlen in der Türkei

von Walter Glos, Bruno Hamm-Pütt

Lokaler Entscheid wird zur nationalen Überraschung

Die türkischen Lokalwahlen haben sich entgegen anderslautender Prognosen als Erfolg für die Opposition erwiesen. Vor allem die größte Oppositionspartei CHP geht als Gewinner hervor. Während sowohl die regierende AK Partei als auch die Opposition in den ersten 48 Stunden danach noch in einem gewissen Unglauben über die Ergebnisse gefangen sind, bietet der Länderbericht Hintergründe, bündelt Ergebnisse und diskutiert mögliche Auswirkungen.

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Am letzten Tag im März 2024 waren die Bürger der Türkei landesweit aufgefordert, ihre Stimme in gleich vierfacher Hinsicht abzugeben: Gewählt wurden die Bürgermeister für die jeweilige Provinz, zusätzlich der Bezirksbürgermeister sowie Gemeinderat und Nachbarschaftsvertreter. Der Fokus der Aufmerksamkeit lag dabei vor allem auf dem für die gesamte Provinz zuständigen Bürgermeister. Insbesondere die wirtschaftsstarke Metropole Istanbul und die Hauptstadt Ankara, die die CHP bei der letzten Wahl 2019 gewonnen hatte, sollte von der AK Partei zurückerobert werden.

 

Konsolidierte Regierung, Zersplitterte Opposition

Seitens der Regierungspartei hatte man sich im Vorfeld gute Chancen ausgerechnet. Bei den letztjährigen Wahlen im Mai 2023 hatte Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan den Posten des Präsidenten verteidigen können, während das zugehörige Regierungsbündnis der Volksallianz erneut deutlich vor dem Oppositionsbündnis lag. Das ideologisch breite Bündnis der Nationalallianz unter CHP-Führung zerstritt sich im Nachgang. Der unterlegene Kandidat Kemal Kılıçdaroğlu wurde auf einem Parteitag im November 2023 überraschend ausgewechselt und durch Özgür Özel ersetzt. Die Neuaufstellung an der Spitze der CHP nur fünf Monate vor der Wahl war ebenso als Hypothek betrachtet worden. Zusätzlich kritisierten selbst regierungsferne Medien eine Endlosschleife an kemalistisch überdecktem Klientelismus in den Reihen der CHP. Obwohl das neue Team um Parteichef Özel deutlich Wechselbereitschaft signalisierte, konnte eine breite Personalveränderung nicht umgesetzt werden. Bestes Beispiel war Lütfü Savaş – CHP-Kandidat für den Posten als Provinzbürgermeister in der schwer vom Erdbeben gezeichneten Provinz Hatay. Savaş‘ Erdbebenmanagement wurde häufig als mangelhaft bewertet wurde und seine flüchtlingsfeindlichen Äußerungen stießen wiederholt auf Kritik. Dies wurde auch seitens der CHP-Parteizentrale geteilt. Dennoch stellte man ihn erneut auf und verlor. Bei der IYI-Partei wurde auf einen Wechsel an der Spitze verzichtet, wodurch Gründerin Meral Akşener ihren Verbleib mit einer Welle von Austritten erkaufte. Die pro-kurdische Yeşil Sol Parti (Grün-Links-Partei) musste ihren Namen in DEM ändern und wirkte nicht zuletzt wenig angetan, weiterhin mit der CHP zu kooperieren. Die islamisch-konservativen Kleinstparteien verschwanden trotz teils prominenter Führung durch ehemalige AK-Partei-Minister in der Bedeutungslosigkeit.

Mit dem Ende der Allianz war auch die Wiederholung des erfolgreichen Ansatzes in Istanbul und Ankara 2019 in Frage gestellt. Ein breites, aus der Mitte der türkischen Gesellschaft stammendes Bündnis hatte vor fünf Jahren in Istanbul und Ankara die langjährige Regierungszeit der AK Partei abgelöst. Damit, so eine häufige Interpretation, habe die Opposition die Wahl eigentlich schon verloren gegeben. Es gehe den Parteien nun primär darum, das eigene Profil für die nächste Präsidentschaftswahl in vier Jahren zu schärfen.

Im Gegensatz dazu war die AK-Partei äußerst siegessicher in den Wahlkampf gestartet. Umfragen in Istanbul und Ankara zeigten zwar einen Vorsprung für die Amtsinhaber. Doch auch bei den Wahlen im letzten Jahr hatte es einen ähnlichen Vorsprung für die Opposition gegeben. Prognosen der Meinungsforschungsinstitute wurden somit wenig vertraut: man blieb bis zum Wahltag skeptisch.

Ein wiederkehrendes Thema im Wahlkampf war das mangelnde Charisma des Istanbuler Kandidaten der AK-Partei, Murat Kurum. Rückblickend muss ebenso die Istanbuler Kampagne der AK-Partei als gescheitert gelten. Mit dem AK-Partei-Wahlslogan „Nur Istanbul“ wurde dem amtierenden Bürgermeister Ekrem İmamoğlu unterstellt, er sei an lokalen Herausforderungen aufgrund seiner nationalen Ambitionen nur begrenzt interessiert. Ebenfalls unglücklich war das in Istanbul dominierende Wahlplakat, auf dem Kurum neben einem merklich größeren Erdoğan in den Hintergrund gestellt blieb.

 

Themensetzung und Wahlstrategie

Insgesamt war Kooperation zwischen der in Ankara ansässigen Regierung und der Provinzverwaltung ein Thema, um die türkische Wählerschaft für die Regierungspartei zu gewinnen. Wahlkampfäußerungen Erdoğans wurden dabei teilweise als Bevorteilung AK Partei-regierter Provinzen interpretiert.

Ein Sieg auf breiter Front wäre jedoch vor allem ein gelungener Stimmungstest für Erdoğan gewesen, der das Präsidialsystem zusätzlich gestützt hätte. So wäre er in seiner Absicht einer Verfassungserneuerung bestärkt worden, die ihm eine Amtsfortführung über 2028 hinaus ermöglichen könnte. Zugleich wurden während des Wahlkampfes gängige Themen der Sicherheit des Landes vor kurdischem Terrorismus bedient. Die Aussicht einer umfassenderen Operation im Irak gegen die kurdische Terrororganisation PKK sollte nationalistische Stimmen mobilisieren. Auch lautstarke Kritik an Israels Vorgehen im Gaza-Streifen war ein zentrales Motiv bei Erdoğans Wahlkampfveranstaltungen.

Auf Seiten der regierenden Volkallianz ist rückblickend wohl entscheidend, dass die ihm angehörige, islamistische Yeniden Refah Partisi (Erneute Wohlstandspartei/YRP) unter Führung Fatih Erbakan im September 2023 verkündete, bei den Lokalwahlen mit unabhängigen Kandidaten anzutreten.

In den Medien dominierte dennoch das Thema der wirtschaftlichen Misere, die angesichts von Inflationswerten bei 67% eine schwere Belastung darstellt: explodierende Mietpreise, gestiegene Lebensmittelkosten und dramatische Einbußen bei der Kaufkraft.

Auf Seiten der Opposition war keine einheitliche Strategie zu erkennen. Es fehlte aufgrund parteiinterner Konflikte an einer koordinierten Kampagne. Fest stand nur, dass man Istanbul und Ankara verteidigen wollte.   

Die pro-kurdische DEM-Partei sowie das zugehörige Elektorat erschien desillusioniert, nach dem augenscheinlich gescheiterten Versuch, breitere gesellschaftliche Allianzen zum eigenen politischen Vorteil zu gestalten. Berichte von Verhandlungen mit der Regierung sowie Äußerungen von kurdischen Politikern, wonach nur Erdoğan in der Lage sei, einen erneuten Friedensprozess zu initiieren, deuteten nicht auf eine strategisches Wahlverhalten zugunsten der CHP.

 

Überraschung am Wahlabend

Doch mit den ersten veröffentlichten Ergebnissen deutete sich ein Trend an, mit dem so keiner gerechnet hatte und der sich dennoch über den Abend hinweg verstetigte. Ankara und Istanbul konnten nicht nur verteidigt werden, sondern beide Kandidaten bauten ihren Vorsprung gegenüber ihrem Mitbewerber aus. Mansur Yavaş erzielte in Ankara mit 60,4% etwa das doppelte Ergebnis im Verhältnis zu AK-Partei Herausforderer Turgut Altınok, der nur auf 31,6% kam. In Istanbul gewann erneut Ekrem İmamoğlu, der mit 51,1% der Stimmen ebenfalls deutlich vor Murat Kurum landete, der lediglich 39,6% der Stimmen auf sich vereinen konnte. Entscheidend dafür waren Siege in traditionell konservativen Bezirken Istanbuls, die in den letzten Wahlen mehrheitlich für die AK-Partei gestimmt hatten. Ebenfalls bemerkenswert ist, dass alle fünf Metropolregionen (Ankara, Istanbul, Izmir, Bursa, Adana) an die CHP gingen.

Nach den vorläufigen Ergebnissen hat die CHP 35 von 81 Provinzen für sich entscheiden können. Die regierende AK-Partei liegt dagegen bei nur 24 Provinzen. Die pro-kurdische DEM kommt auf 10 Provinzen. Erdoğans Koalitionspartner, die nationalistische MHP, gewinnt 10 Provinzen und die YRP erobert ihrerseits zwei. Am Ende der Auszählung stand fest: Mit 37.7% lag die CHP landesweit mehr als 2-Prozentpunkt vor der AK-Partei, die nur auf 35.5% der Stimmen kam. Nach 47 Jahren ist die CHP erstmals wieder die Partei mit den meisten Stimmen in der Türkei.

Überraschend waren zudem Siege der CHP in Zentralanatolien, die gemeinhin als Hochburgen der AK-Partei gelten. Auch in der Erdbebenregion konnte die CHP mit Kilis und Adıyaman zwei Regionen gewinnen.

 

Ist damit eine generelle Wende in der Türkei eingeläutet?

Versucht man die gestrige Überraschung analytisch zu fassen, ist festzustellen: die CHP hat vor allem gewonnen, weil die AK-Partei verloren hat. Hatte es 2023 noch etliche Wahlgeschenke finanzieller Art gegeben, wurde dieses Jahr darauf verzichtet. Vor allem die Gruppe der Rentner reagierte. Verständlich, denn im Gegensatz zu den Mindestlöhnen, die im Januar 2024 um 50% erhöht wurden, erfolgte keine Anpassung der Pensionsbezüge.

Ebenfalls dazu beigetragen hat eine historisch niedrige Wahlbeteiligung von nur 78,5% (2019: 84,6%); im Vorfeld der Wahlen hatten Experten genau den gegenteiligen Effekt vermutet – niedrige Beteiligung stärke die AK-Partei, da ihre Wählerschaft FÜR einen Kandidaten stimme, während die Opposition auf Stimmen GEGEN die Regierungspartei angewiesen sei: Das Gegenteil war letztlich der Fall. Angestammte AK-Partei-Wähler blieben der Wahl so entweder fern oder wählten die YRP; landesweit die drittstärkste Kraft (wenn auch nur mit 6,2%). Der politische Wandel bei den gestrigen Wahlen kam somit nicht aus der Mitte, sondern von den Rändern: marginale Parteien wie die YRP haben entscheidend zu dem Ergebnis beigetragen. Hier ist Erdoğan möglicherweise auch seine Israel-Rhetorik zum Verhängnis geworden: Aller Empörung zum Trotz legten monatliche Handelsbilanzen immer wieder nahe, dass wirtschaftliche Beziehungen nach und mit Israel bestsehen blieben.

Da die AK-Partei traditionell beansprucht, auf kommunaler Ebene stark zu sein, muss nun evaluiert werden, wie hier wieder an Zustimmung gewonnen werden kann. Ob die YRP dabei ein wirklicher Konkurrent wird, hängt davon ab, ob die islamistische Partei in der Lage ist, sich über diese Wahl hinaus als eigenständige Kraft zu etablieren.

Ein weiterer Faktor ist der Wahltermin: Während Wahlen im Ramadan allgemein vorteilhaft für religiös-konservative Parteien sind, waren dieses Jahr viele Leute finanziell nicht in der Lage, das im Islam übliche Fastenbrechen angemessen zu feiern. So wurde die Wahrnehmung der wirtschaftlichen Notlage zusätzlich verstärkt.

Während sich in den südöstlichen, mehrheitlich kurdisch besiedelten Gebieten die DEM klar behauptete, hat die kurdische Wählerschaft in Istanbul zudem zugunsten des Amtsinhabers İmamoğlu gestimmt. Ein Trend, der so auch nicht prognostiziert worden war. Auch weil İmamoğlu im letzten Jahr eher als nationalistisch denn als kurdennah aufgefallen war. Das macht ihn als Kandidaten für die kommende Präsidentschaftswahl besonders relevant. Denn es scheint, als ob er die Glasdecke der CHP-Zustimmungswerte, die allgemein auf etwa 25% veranschlagt werden, durchbrechen kann und heterogene Fraktionen in der Türkei politisch vereint. Dennoch bleibt eine Frage offen: Im Dezember 2022 hatte ein Gericht geurteilt, dass der Bürgermeister Istanbuls aufgrund von Beamtenbeleidigung eine Gefängnisstrafe von fast drei Jahren zu verbüßen hätte. Das Berufungsverfahren läuft. Sofern das Urteil bestätigt wird, ist der Fortgang der politische Karriere İmamoğlus mehr als ungewiss.

 

Wie wirkt sich die Lokalwahl auf das nationale Geschehen aus?

Mit dem überraschenden Sieg sind eine Reihe an Herausforderungen für die Opposition auf einen Schlag gelöst worden. Nach der Niederlage letztes Jahr ist Erdoğans Besiegbarkeit erneut bewiesen worden. Die Gruppe um den neuen CHP-Vorsitzenden Özel hat ihre parteiinterne Position konsolidiert und kann nun eine Strategie für die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2028 entwerfen. Indem die CHP zudem alle 8 Provinzen in der wirtschaftlich starken Ägäisregion für sich entscheiden konnte, ist sie in den kommen Jahren in der Lage, auf mehr Ressourcen zurückgreifen.

Als Präsident Erdoğan am späten Wahlabend vom Balkon der Parteizentrale in Ankara sprach, unterstrich er eingangs, dass Wahlen eine der wichtigsten Institution in einer Demokratie seien. Indem Erdogan die Wahl unmittelbar nach Ausgang öffentlich anerkannte, haben sich Befürchtungen, wonach der autoritäre Trend in der Türkei anhielte, nicht bestätigt. Erdoğan verwies zudem auf die schwierige finanzielle Lage, was zum einen das Ausbleiben an Wahlgeschenken erklärt und allgemein als erneute Unterstützung der Fiskalpolitik des Finanzministers Mehmet Şimşek bewertet wurde.

Sofern man berücksichtigt, dass die AK-Partei in ihren Anfängen vor allem aufgrund ihrer wirtschaftlichen Kompetenz Zuspruch erhielt, ist der Weg aus der Finanzkrise für Erdoğan der Weg in eine politisch erfolgreiche Zukunft. Şimşek arbeitet mit einem kompetenten Team, das mehrfach angedeutet hat, dass nach der Lokalwahl strukturell notwendige Reformen implementiert werden. Es ist angesichts der Potentiale der türkischen Wirtschaft denkbar, noch vor der nächsten Wahl in eine Phase gesamtgesellschaftlichen Wachstums zu kommen. Dies könnte wiederum der AK-Partei eine erneute Mehrheit verschaffen. Ob der Kandidat dann wieder Erdoğan heißt, ist unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Er selbst hatte von seiner letzten Wahl gesprochen und im Wahllokal offen geäußert, dass ihn zwei Wahlen in einem Jahr müde gemacht hätten. Sofern er antritt, sind vorgezogene Wahlen nötig, was ihm jedoch weniger Zeit zum wirtschaftlichen Aufschwung ließe. Ein anderer Weg geht über eine Verfassungsänderung. Hier wäre ein Sieg in den Lokalwahlen gewissermaßen Voraussetzung gewesen, da er dafür politisches Kapital jenseits der eigenen Regierungskoalition aufwenden müsste – ein Kapital, auf das er so nun nicht zurückgreifen kann.

So bliebt abzuwarten, wie sich der lokale Erfolg mittelfristig auf das nationale Geschehen in der Türkei auswirkt. Fest steht, die Opposition geht gestärkt aus der Wahl hervor und hat somit die Gelegenheit, sich vor der Wahl 2028 zu beweisen.

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Kontakt

Dr. Ellinor Zeino

Ellinor Zeino

Leiterin (des.) Auslandsbüro Türkei

ellinor.zeino@kas.de +90 312 440 40 80

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