Länderberichte
Notwendig wurde die Kabinettsumbildung durch die Vakanz in gleich drei Ministerien. Bildungsminister Neji Jalloul (Nidaa Tounes), der in der Bevölkerung über großes Vertrauen verfügte, war im April 2017 nach massivem Druck der Gewerkschaften aus dem Amt entlassen worden. Finanzministerin Zribi (parteilos) musste zu diesem Zeitpunkt ebenfalls ihren Posten räumen, nachdem sie öffentlich einen weiteren Verfall des Wechselkurses für den Tunesischen Dinar prophezeit hatte. Zuletzt trat der Minister für Entwicklung, Investitionen und Internationale Zusammenarbeit Mohamed Fadhel Abdelkefi (parteilos) zurück, der nach der Entlassung Zribis auch Interim-Finanzminister war. Der von ihm für den Rücktritt genannte Grund war ein gegen ihn laufendes Gerichtsverfahren, welches er nicht behindern wollte. Das Gerichtsverfahren wurde direkt nach der jetzt erfolgten Kabinettsumbildung mit Verweis auf Verjährung eingestellt, was die Vermutung befördert, sein Rücktritt wäre nicht ganz aus freien Stücken erfolgt und stünde in Zusammenhang mit seiner als Interims-Finanzminister gemachten Ankündigung, der Staat könne schon bald seine Beamten nicht mehr bezahlen.
Die Regierungsumbildung nahm ganze vier Monate in Anspruch. Lange Zeit war unklar, ob nur die vakanten Ressorts neu besetzt werden würden, oder es einen umfassenden Austausch von Ministern geben würde. Auch wurden Forderungen nach einer „Technokratenregierung“ oder einer „Regierung der Kompetenzen“ laut, die keinen parteipolitischen Interessen folgen solle. Solche Forderungen, die einen auch in den Meinungsumfragen erkennbaren Mangel an Vertrauen in die Politiker und die politischen Parteien ausdrückte, wurden erstaunlicherweise sogar von einigen Politikern erhoben.
Die Verhandlungen dauerten auch deshalb so lange, weil das Kräftegefüge der mit dem Vertrag von Karthago im Jahr 2016 geschaffenen Regierung der Nationalen Einheit beibehalten werden sollte und somit ein umfassender Abstimmungsprozess erfolgen musste, der neben den politischen Parteien auch die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände umfasste. Überdies musste auch noch ein Konsens zwischen Regierungschef Chahed und Staatspräsident Caid Essebsi erreicht werden. Nach der semipräsidentiellen tunesischen Verfassung sind Angelegenheiten der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik im Zuständigkeitsbereich des Staatspräsidenten, sein Gestaltungsanspruch in der Regierungsarbeit reicht allerdings darüber hinaus. Erschwert wird die Ernennung neuer Minister und Staatssekretäre in Tunesien auch dadurch, dass jedes neue Kabinettsmitglied einzeln durch Abstimmung im Parlament bestätigt werden muss und bei Ablehnung eines Kandidaten der gesamten Regierung das Vertrauen entzogen wird. Demnach musste zwischen den handelnden Akteuren nicht nur die Unterstützung des Regierungschefs sichergestellt werden, sondern über jeden einzelnen – auch parteilosen – Kandidaten erfolgreich verhandelt werden.
Alle Kandidaten überstanden diese Abstimmung mit deutlichen Mehrheiten. Das Kabinett besteht aus Vertretern der Parteien der säkularen Nidaa Tounes, der islamistischen Ennahda, der liberalen Afek Tounes und kleineren Parteien, sowie einer Mehrheit parteilich nicht gebundener Ministern, die teilweise von der Unterstützung der Gewerkschaften oder der Arbeitgeber profitierten. Der Charakter der Regierung als eine der Nationalen Einheit wurde bestätigt. Zudem wurde auch der Forderung nach einer Regierung der Kompetenzen und einer Zurückdrängung parteipolitischer Interessen Rechnung getragen. Die Mehrheit der Minister ist parteipolitisch unabhängig.
Regierungschef Chahed ist Mitglied von Nidaa Tounes. Die Zusammenarbeit mit seiner Partei verlief zuletzt aber nicht reibungslos. Er hat seit seiner Amtsübernahme im vergangenen Jahr deutlich an Popularität gewonnen und geriet so in den Kreis möglicher Anwärter auf die Nachfolge von Staatspräsident Caid Essebsi, der altersbedingt in absehbarer Zeit nicht mehr für eine Wiederwahl zur Verfügung stehen wird. Tunesiens Staatspräsident wird trotz seiner begrenzten Prärogativen direkt gewählt, weshalb einige der Parteifreunde Chaheds, die sich ebenfalls als mögliche Präsidentschaftskandidaten sehen, eine Vorentscheidung der Präsidentschaftswahlen 2019 befürchten. Jedenfalls waren zuletzt aus der Leitung der eigenen Partei auffällig viele kritische Stimmen zur Bilanz der Regierung Chahed zu hören, die auf einen Mangel an Unterstützung Chaheds durch seine Partei schließen lassen.
Bemerkenswert ist die Ressortaufteilung zwischen den Parteien. Nidaa Tounes, die als Sieger der Parlamentswahlen des Jahres 2014 hervorgegangen war und den - allerdings qua Amt parteilosen –Staatspräsidenten, den Parlamentspräsidenten und den Regierungschef stellt, erhielt die vier Ressorts Gesundheit, Transport, Tourismus sowie Jugend und Sport. Der große Koalitionspartner Ennahda, der bedingt durch die Spaltung von Nidaa Tounes inzwischen stärkste Kraft im Parlament ist, erhielt mit den Ministerien für Industrie und KMU, für Entwicklung, Investitionen und internationale Zusammenarbeit sowie für Kommunikationstechnologie die meisten wirtschaftsrelevanten Ministerien. Dazu zählt auch die Ernennung von Taoufik Rajhi zum beigeordneten Minister, der sich im Kabinett mit den wirtschaftlichen Reformen beschäftigen wird. Zahlreiche Schlüsselministerien wie das Innenministerium, das Außenministerium, das Verteidigungsministerium und das Finanzministerium wurden an parteilose Minister vergeben. Bemerkenswert ist auch die Bestätigung des Trends, politische Entscheider der Ära Ben Ali zu reaktivieren. Dazu zählen die neuen Minister Ridha Chalghoum (Finanzen), Abdelkarim Zbidi (Verteidigung), Lotfi Brahem (Inneres) und Hatem Ben Salem (Bildung). Da beinahe zeitgleich mit der Einführung der neuen Regierung ein Gesetz zur nationalen Versöhnung im Verwaltungsbereich verabschiedet wurde, demzufolge hochrangige Beamte des Ben Ali Regimes nicht strafrechtlich verfolgt werden sollen, machte die Anschuldigung einer „Konterrevolution“ die Runde.
Das jetzt die von einigen Beobachtern als Chaheds letzte Chance bezeichnete Kabinett steht vor schwierigen Herausforderungen. Der Regierungschef selbst nennt seine Regierung ein „gouvernement de combat“ (Kampfkabinett), das der Korruption, dem Terrorismus, den regionale Disparitäten und der Arbeitslosigkeit den Kampf ankündigt.
Tatsächlich sind die Aussichten auf rasche Erfolge gering. Das Wirtschaftswachstum liegt weiter bei unter zwei Prozent und damit deutlich unter den durchschnittlichen Wachstumsraten der vorrevolutionären Zeit, weshalb sich zunehmend die Frage aufdrängt, ob es eine wirtschaftliche Dividende der Demokratie geben wird. Die regionalen Disparitäten führen weiter zu erheblichen Spannungen. Die Sicherheitslage hat sich zwar verbessert, die Gefährdungslage bleibt aber insbesondere auch wegen der politischen Situation Libyens, auf welche Tunesien nur sehr begrenzten Einfluss hat, hoch. Die kürzlich erfolgte Ankündigung des Staatspräsidenten, eine Initiative zur rechtlichen Gleichstellung von Männern und Frauen im Erbrecht zu ergreifen, hat zu wütenden Angriffen islamitischer Eiferer geführt und zeigte erneut, wie weit das Land von einer gemeinsamen Identität entfernt ist.
Angesichts der bisherigen Verweildauer von Regierungen seit der Revolution und angesichts der Vielzahl von politischen Herausforderungen ist es eher unwahrscheinlich, dass die jetzt ernannte Regierung bis zu den Parlamentswahlen 2019 Bestand haben wird.