Veranstaltungsberichte
In ihren Redebeiträgen entwarfen die anwesenden Experten ein umfassendes Bild der Rolle der Parteien in den Regionen. Dabei gingen sie auf die postrevolutionären Hintergründe ebenso ein wie auf die Repräsentationskrise der Politik und die Organisation von Parteien in Deutschland.
Für Hassen Zargouni, den Leiter des Umfrageinstituts Sigma Conseil, ist die Beziehung zwischen den Tunesiern und den politischen Parteien von Misstrauen und Enttäuschung geprägt. Diese Ansicht leitete er aus den Ergebnissen einer neuen Umfrage der KAS und von Sigma Conseil ab, der zufolge 72 % der Tunesier ein schlechtes Bild von politischen Parteien haben. Das Verhältnis der tunesischen Bevölkerung zu ihren politischen Vertretern wird jedoch auch von geographischen Aspekten geprägt. So fühlen sich insbesondere die Menschen aus den vernachlässigten Regionen, in denen Ende 2010 die Revolution ihren Anfang nahm, auf zweifache Weise ausgeschlossen: Zum einen hat das neue politische System für viele nicht die einst gehegten Hoffnungen und Erwartungen erfüllen können. Zum anderen fühlen sich die Menschen weiterhin nicht repräsentiert, da die in ihren Regionen mehrheitlich gewählten Parteien auf nationaler und parlamentarischer Ebene bedeutungslos geblieben sind.
Lösungen, um die tunesischen Parteien fester in der Bevölkerung in den Regionen zu verankern, kann womöglich der Vergleich mit anderen Ländern bieten. Vor diesem Hintergrund stellte der deutsche Politikwissenschaftler Andreas Marchetti die Organisationsstrukturen von Parteien in Deutschland vor. Eine große Bedeutung kommt hier dem „bottom-up“-Aufbau zu. Denn durch eine spürbare Nähe zur Bevölkerung können politische Parteien Marchetti zufolge an Effizienz und Handlungsfähigkeit hinzugewinnen. Eine mit der Situation in Deutschland vergleichbare Parteienorganisation mit Orts-, Kreis- und Landesverbänden konnte in Tunesien größtenteils noch nicht etabliert werden, wenngleich die neue tunesische Verfassung von 2014 eine solche Dezentralisierung begünstigt. Tatsächlich muss die tunesische Gesetzgebung noch neue Regelungen schaffen, um die lokale Demokratie zu stärken und die Kompetenzen zwischen den verschiedenen Ebenen deutlicher zu definieren und aufzuteilen.
Damit die Parteien glaubwürdig auftreten und ihre Repräsentationsfunktion erfüllen können, dürfen sie die politische Partizipation von Frauen nicht vernachlässigen oder gar behindern. Darüber hinaus müssen sie tribalistischen Tendenzen entgegenwirken. Die Beschränkung auf die Vertretung der Interessen einzelner Familien oder Stämme würde der Parteienlandschaft und deren Ansehen insgesamt schaden.
Das Kolloquium endete mit einer Diskussion zwischen den Vertretern dreier politischer Parteien: Leila Chettaoui von der säkular orientierten Partei Nidaa Tounes, Ajmi Lourimi von der islamistischen Bewegung Ennahda und Fadhel Moussa, der als Vertreter der Partei Al Massar bis 2014 Mitglied der Verfassunggebenden Versammlung war.
In ihren Ausführungen betonte Chettaoui die Notwendigkeit lokaler Parteiarbeit. Denn nur durch die Nähe zur Bevölkerung seien die Eigenschaften und Besonderheiten jeder Region zu verstehen und nur so könne entsprechend auf die jeweiligen Erfordernisse eingegangen werden. Lourimi glaubt, dass seine eigene Partei bereits über eine lange Tradition der engen Zusammenarbeit mit der Bevölkerung verfügt. Durch die soziale Rolle, die Ennahda beispielsweise über viele Jahre hinweg bei der Armenhilfe, religiösen Festen und der Schulbildung wahrgenommen hätte, habe die Partei das Vertrauen der Menschen gewinnen können. Wie Chettaoui betonte auch Moussa in seinem Redebeitrag, dass die Parteien sich bemühen müssen, ihre lokalen und regionalen Tätigkeiten auszubauen. Allerdings glaubt er nicht, dass die Parteien der einzige relevante Akteur in der tunesischen Politiklandschaft sind, sondern dass die Zivilgesellschaft in den letzten Jahren ebenfalls bewiesen hat, wichtige politische Funktionen wahrnehmen zu können, und es dabei verstand, die Bürger für politische Ziele zu mobilisieren.