Länderberichte
Die Bevölkerung im Osten und Süden des Landes ahnt bereits jetzt schon, wo und wann am 9. Mai, dem Gedenktag des Sieges über das nationalsozialistische Deutschland, es zu weiteren Auseinandersetzungen mit pro-russischen Separatisten kommen könnte. Zudem wurde von den pro-russischen Separatisten für den 11. Mai ein Referendum über die Unabhängigkeit der Donezker Oblast angekündigt. Falls man es zeitnah nicht schaffen sollte zurück an den Verhandlungstisch zu kehren, droht eine weitere Eskalation bürgerkriegsähnlicher Zustände, die verheerende Folgen für die Ukraine, Europa und die internationale Ordnung haben würde.
Kiew muss agieren statt reagieren
Sowohl das gescheiterte Genfer Abkommen vom 17. April als auch die letzten Tage weiterer Konflikte in der Süd- und Ostukraine haben gezeigt, dass eine neue außenpolitische Initiative Kiews und des Westens nötiger wird denn je. Der von der Regierung beschlossene Anti-Terroreinsatz scheint bisher nicht die gewünschten Ergebnisse, im Sinne der Rückgewinnung der Kontrolle durch die Zentralregierung, gebracht zu haben. Die Sicherheitslage hat sich dramatisch verschlechtert und die Kluft zwischen den Konfliktparteien und innerhalb der Bevölkerung wird von Tag zu Tag größer.
Sowohl Kiew als auch Moskau müssen aufhören, sich für die Nicht-Umsetzung des Genfer Abkommens und die weitere Eskalation gegenseitig zu beschuldigen. Dabei sieht sich die Übergangsregierung von Premierminister Jazenjuk nicht nur dem Druck aus Moskau ausgesetzt. Sie steht auch vor der großen Herausforderung, einerseits das staatliche Gewaltmonopol im Süden und Osten des Landes wieder herstellen zu müssen, es dabei aber nach Möglichkeit keine zivilen Opfern geben darf. Oftmals ist dies jedoch sehr schwierig, da sich unbewaffnete Zivilisten im Osten des Landes freiwillig als lebende Schutzschilde vor bewaffneten Separatisten stellen. Zudem ist die Kiewer Regierung auch immer mehr dem Druck der eigenen pro-westlichen Bevölkerung ausgesetzt, da diese ein entschiedeneres Vorgehen Kiews fordert.
Entgegen der medialen Darstellung der vergangenen Wochen, bei der mehrheitlich berichtet wurde, dass die Bewohner im Osten des Landes für einen Anschluss an Russland seien, zeichnen soziologische Erhebungen ein differenzierteres Bild. Sowohl repräsentative Umfragen der International Foundation for Electoral Systems (IFES) als auch des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie (KIIS) haben gezeigt, dass die dortige Bevölkerung die Wahrung der territorialen Integrität der Ukraine gegenüber einer Spaltung bevorzugt. Bei der letzteren, die in sechs Regionen der südöstlichen Ukraine zwischen dem 10. und 15. April durchgeführt wurde, haben lediglich 27,5 % der Befragten in der Donezker und 30,3 % in Lugansker Oblast den Wunsch zum Beitritt zur russischen Föderation klar zum Ausdruck gebracht. Insgesamt haben sich 69,7 % für die Wahrung der territorialen Integrität der Ukraine und nur 15,4 % der befragten Personen für eine Spaltung ausgesprochen. Zwar darf der Anteil der Befürworter eines Anschlusses an Russland im Osten nicht ignoriert werden. Allerdings ist auch ein Großteil der Bevölkerung im Osten des Landes aufgrund der Geschehnisse der letzten Monate und einer unzureichenden Kommunikationspolitik der pro-westlichen Kräfte bei gleichzeitiger Dominanz russischsprachiger Medien mit einer einseitigen pro-russischen Berichterstattung verängstigt und leistet deshalb keinen Widerstand gegen das Vorgehen der bewaffneten Separatisten. Diese Umstände könnten dazu beitragen, dass ein Referendum in Donezk und Lugansk im Sinne der Abspaltung dieser Region ausgeht. Auch wenn das Referendum nun verschoben werden sollte, wie es der russische Präsident gestern in Moskau vorgeschlagen hat, ist keine unmittelbare Entspannung in diesem Kontext zu erwarten. In den Regionen Kharkiv, Dnipropetrovsk und Odessa dagegen ist der Widerstand gegen die pro-russischen Separatisten stark, weshalb es auch hier zu Kämpfen zwischen pro-ukrainischen Aktivisten und pro-russischen Separatisten kommen könnte, falls die Eskalation nicht unmittelbar gestoppt wird.
Um dies zu erreichen, muss die Kiewer Regierung nun schnellstmöglich Verhandlungen mit den pro-russischen Separatisten und Russland suchen. Eine zweite Genfer Konferenz im gleichen Format muss so schnell wie möglich organisiert und abgehalten werden. Das Abschlussdokument sollte jedoch nicht wieder eine allgemein gehaltene politische Absichtserklärung, sondern ein völkerrechtlich verbindliches Übereinkommen sein. Im Gegensatz zum ersten Dokument, dass lediglich die allgemeine Räumung besetzter öffentlicher Gebäude sowie die Entwaffnung illegaler Gruppierungen gefordert hatte, müssen in der neuen Übereinkunft die kommenden Deeskalationsschritte und die daran beteiligten Akteure detailliert benannt werden. Allerdings hat die jüngste Vergangenheit gezeigt, dass Russland völkerrechtliche Prinzipien geopolitischen Interessen und der Realpolitik nachordnet und deshalb fragwürdig ist, ob zeitnah verbindliche Übereinkünfte mit der russischen Seite getroffen werden können. Auch lassen die Äußerungen der Außenminister Russlands und der Ukraine beim jüngsten Treffen der Außenminister des Europarats in Wien nur wenig Raum für Hoffnung auf eine baldige zweite Genfer Konferenz.
Mittelfristige Stabilisierung
Ferner müsste eine neue Vereinbarung Schritte zur mittelfristigen Stabilisierung der Ukraine definieren. Die Entwaffnung der pro-russischen Separatisten könnte mit Hilfe der OSZE durchgeführt werden und an den Abzug des ukrainischen Militärs von den Straßen im Osten des Landes gekoppelt sein. Auch ist dringend notwendig, dass eine neue Vereinbarung einen zeitlichen Rahmen vorgibt und sich die Konfliktparteien zu einer von der OSZE überwachten schrittweisen Umsetzung verpflichten. Um den pro-russischen Separatisten und Moskau einen Anreiz zu geben, die Vereinbarungen umzusetzen, müssten ihnen auch mittelfristige Lösungswege angeboten werden. In diesem Zusammenhang werden die Dezentralisierung und die Sprachenregelung im Rahmen einer neuen Verfassung, die bis Mitte Mai ausgearbeitet werden sollte, eine besondere Rolle zukommen. Jedoch ist zu erwarten, dass sich der Prozess der Ausarbeitung aufgrund der aktuellen politischen Krise verzögern wird. Ferner wird der Durchführung von Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in diesem Jahr sowie einem neuen Garantieübereinkommen eine große Bedeutung beigemessen.
Dezentralisierung als Verhandlungsmittel
Die Dezentralisierung, die von russischer Seite oftmals unter dem Stichwort der Föderalisierung vorgebracht wird, nimmt eine besondere Rolle ein. Nicht nur pro-russische Separatisten haben sich für die Verlagerung von Entscheidungskompetenzen vom Zentralstaat auf die regionale oder lokale Ebene ausgesprochen. Auch die Übergangsregierung hat sich bereit erklärt auf die Regionen zuzugehen und die Verantwortung für Planung, operationelle Umsetzung und die Finanzierung von Infrastruktur und staatlichen Dienstleistungen auf lokale und regionale Ebenen zu verlagern. Es muss sowohl eine politische und administrative als auch finanzielle Dezentralisierung stattfinden, um den Regionen ein glaubwürdiges Angebot unterbreiten zu können. Im Kontext der politischen Kompetenzverlagerung sollten die kommunalen Gebietseinheiten und Oblasten in ihrer Verantwortlichkeit gegenüber der Bevölkerung gestärkt werden. Denkbar wäre, dass Gouverneure nicht mehr von Kiew eingesetzt, sondern durch Regionalparlamente gewählt würden. Bei der administrativen Dezentralisierung sollte der Zentralstaat die Erfüllung öffentlicher Aufgaben an untergeordnete Ebenen delegieren und den lokalen und regionalen Behörden mehr Verantwortung zuweisen. Denkbar wäre, dass die Kiewer Zentralregierung die Ressorts Außen-, Sicherheits-, Verteidigungs-, Finanz- und Justizpolitik behalten und die Regionen die Umsetzung der Wirtschafts-, Verkehrs-, Bildungs- und Kulturpolitik übernehmen könnten. Die Vorstellungen Moskaus weichen hiervon jedoch ab. Eine auch außenpolitische Autonomie für die Regionen wird gefordert, um weitreichenden russischen Einfluss zu garantieren. Es ist zu erwarten, dass es im Bezug auf diesen wichtigen Punkt während der Verhandlungen zu intensiven Auseinandersetzungen kommen könnte. Im Rahmen dieser Devolution würden die regionalen Ebenen eine herausgehobene Stellung im politischen System erhalten und mit entsprechenden finanziellen Ressourcen ausgestattet werden. Dafür wird eine Reform des finanziellen Transfersystems der Zentralregierung an die Oblasten und unter den Oblasten selbst notwendig sein.
Bei der Ausgestaltung der Dezentralisierungsreformen sollte allerdings die Entstehung eines föderalen Gebildes wie im Falle Bosnien und Herzegowinas vermieden werden, bei dem sich die einzelnen Bevölkerungsgruppen gegenseitig blockieren können und das Land in seiner Entwicklung lähmen. In diesem Kontext hat sich der derzeitige Gouverneur des Dnipropetrovsker Gebiets, Igor Kolomojskyj, dafür ausgesprochen, einen Gouverneursrat im Südosten des Landes einzusetzen. Dieser könnte zukünftig eine Bedeutung im politischen System einnehmen und auf das ganze Land ausgedehnt werden, um den Dezentralisierungsprozess konstruktiv zu begleiten. Zudem könnte dadurch das Prinzip der Gewaltenteilung im politischen System der Ukraine gestärkt werden, was immer wieder von Verfassungsexperten in Kiew gefordert wird.
Das Sprachengesetz
Eine große Mehrheit der Befragten der IFES-Studie, insgesamt 82 %, sieht sich als russischsprachige Gruppe aufgrund ihrer Sprache nicht diskriminiert. Allerdings hat auch die Mehrheit der befragten Personen ausgesagt, dass Russisch entweder als offizielle Staatssprache verankert werden oder aber einen besonderen Status in den Regionen erhalten sollte. In diesem Zusammenhang war die Gruppe der Befürworter im Osten des Landes größer. Die Kiewer Übergangsregierung sollte auf diesen Umstand eingehen und eine bereits gängige Praxis verfassungsrechtlich regeln. Dadurch würde man zukünftig jeglichen Vorwürfen von Diskriminierung auf Grundlage der Sprache entgegenwirken.
Präsidentschafts- und Parlamentswahlen
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Übereinkunft über die Durchführung der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in diesem Jahr. Diese werden von großer Bedeutung sein, um einen demokratisch legitimierten politischen Neuanfang in einem neuen verfassungsrechtlichen System zu gestalten. Auch wenn der Termin für die Präsidentschaftswahlen am 25. Mai von Moskau als absurd bezeichnet wurde und davon auszugehen ist, dass die Sicherheitslage in den Oblasten Donezk und Lugansk die Durchführung von freien Wahlen nicht zulassen wird, möchte Kiew die Wahlen um jeden Preis durchführen. Deshalb hat das Parlament auch am 13. März Änderungen an den Artikeln 83 und 84 des Wahlgesetzes vorgenommen, die verhindern, dass die Legitimität der Präsidentschaftswahlen angezweifelt wird, auch wenn in mehreren Bezirken faktisch keine Stimmabgabe erfolgen konnte. Insgesamt werden 1.000 von der OSZE und mehrere hundert Wahlbeobachter von anderen internationalen Organisationen zum Einsatz kommen. Ein Großteil der internationalen Experten ist bereits in der Ukraine eingetroffen. Zugleich ist das Abhalten der Parlamentswahlen gerade deshalb wichtig, weil dadurch das oftmals von pro-russischen Separatisten vorgebrachte Argument, in dem derzeitigen Parlament würden nicht die Interessen des Ostens repräsentiert, entkräftet würde.
Neue Garantien
Schlussendlich sollten die Konfliktparteien für die mittel- und langfristige Perspektive das Budapester Memorandum erneuern und anpassen. Dieser Vorschlag wird allerdings nur dann zum Tragen kommen, wenn eine gezielte Entspannung des Konfliktes und die mittelfristige Stabilisierung der Ukraine realisiert werden. Dies hängt alleinig davon ab, ob die Konfliktparteien an einer Lösung des Konfliktes interessiert sein werden und ob sie dafür den notwendigen Willen aufbringen möchten. Es muss eine neue völkerrechtlich verbindliche Übereinkunft über Beistandspflichten geschaffen werden, um die sicherheitspolitische Unabhängigkeit der Ukraine zu garantieren. In diesem Kontext schlagen einige Experten ukrainischer Think Tanks vor, die Ukraine könnte sich bereit erklären, ihre militärische Neutralität verfassungsrechtlich zu verankern, um auf pro-russische Kräfte im Land zuzugehen und damit den Frieden zu wahren. Ferner argumentieren sie, dass durch diese Abmachung Russland den NATO-Beitritt der Ukraine verhindert und die Ukraine einen Krieg gegen Russland abgewendet hätte und folglich insgesamt die Interessen beider Seiten befriedigt wären. Allerdings wäre in einem solchen Fall eine intensive innenpolitische Diskussion zu erwarten, die von den national-ukrainischen Kräften populistisch geführt werden würde.
Im Rahmen neuer Garantievereinbarungen sollte die Gelegenheit genutzt werden, die Demarkation der Grenze zwischen der Ukraine und Russland unter internationaler Aufsicht durch die OSZE zu vereinbaren und umzusetzen. Dadurch könnte man zukünftige Streitigkeiten und weitere Möglichkeiten der Destabilisierung ausschließen.
Konsequenzen
Falls die Konfliktparteien ihren Willen zeigen sollten, den Verhandlungsprozess in den nächsten Tagen anzustoßen und die Eskalation zu stoppen, so ist eine friedliche diplomatische Lösung noch möglich. Im Falle eines erneuten Scheiterns der diplomatischen Bemühungen wäre eine offene kriegerische Auseinandersetzung womöglich nicht mehr abzuwenden. Die Folge wäre ein Bürgerkrieg, Flüchtlingsbewegungen nach Westeuropa und die nachhaltige Isolation Russlands, die das internationale System ins Wanken bringen würde. Dieses Szenario gilt es aus westlicher Sicht nun mit aller Kraft zu verhindern und eine schrittweise diplomatische Lösung zu ermöglichen.
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