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Veranstaltungsberichte

Europa im Wandel – Literatur, Werte und Europäische Identität

von Andre Kagelmann
Internationale Konferenz der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) für Wissenschaftler, Politiker, Schriftsteller, Journalisten und Studenten vom 6.-9. Juni 2017 in Lemberg, Ukraine.

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Wie steht es um das europäische Projekt in der krisen- und kriegsgeschüttelten Ukraine? Etwas mehr als dreieinhalb Jahre nach dem Beginn des Kiewer Euromaidan („der Revolution der Würde“), der darauffolgenden, auf die Destabilisierung der Ukraine zielenden völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland und inmitten einer bis heute andauernden kriegerischen Auseinandersetzung mit – trotz des Minsker Protokolls – mittlerweile mehr als 10.000 Todesopfern, erörterte die KAS in einer hochrangig besetzen Konferenz im geschichtsträchtigen ukrainischen Lemberg diese für Europa entscheidende Frage.

In einer Zeit, in der populistische Bewegungen/Parteien in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union die gemeinsamen Werte offen infrage stellen und die Bürgerinnen und Bürger – durchaus geschichtsvergessen – die Bedeutung des Einigungsprozesses aufgrund ihres Unbehagens an vermeintlicher bürokratischer Überregulierung aus den Augen verlieren, erinnert uns der Euromaidan daran, worum es in der Europäischen Union eigentlich geht: das existentielle Bestreben um Frieden und Freiheit. In diesem Sinn skizierte der Präsident des Deutschen Bundestages und stellvertretende Vorsitzende der KAS, Norbert Lammert, am ersten Konferenz- und 72. Jahrestag des D-Days vor der Folie der Verheerungen des Zweiten Weltkriegs aktuelle Entwicklungen des Prozesses der europäischen Integration, den er zunächst sowohl als historisch beispiellos als auch politisch beispielhaft charakterisierte. Dabei legte er besonderes Augenmerk auf drei Asymmetrien in der Geschichte der Europäischen Union, und zwar erstens die von Ökonomie (gelingender Gründung der EWG) und Politik (Scheitern der EVG); dieser Vorrang der ökonomischen vor der politischen Integration sei durch die Einführung der gemeinsamen Währung noch verstärkt worden, die zu einer strukturellen Anomalie führte, die nur durch eine Angleichung von Wirtschaft und Politik aufzuheben wäre.

Zweitens beleuchtete er das aus der Asymmetrie zwischen Exekutive und Legislative entstandene Demokratiedefizit der EU, das allerdings durch den ‚Parlaments‘-Vertrag von Lissabon mittlerweile ein Stück weit beseitigt sei. Als dritte Asymmetrie des europäischen Integrationsprozesses machte er den Widerspruch zwischen Erweiterung und Vertiefung aus, der gegenwärtig in Richtung Konsolidierung aufgelöst werde. Diese Überlegungen kontextualisierte Lammert mit dem Souveränitätsverlust der Nationalstaaten im Zeitalter der Globalisierung, wobei aus der Globalisierung ein Komplexitätsschub erwachse, der wiederum den Populismus auf den Plan rufe, der die Menschen durch – von im Sinne George Bernhard Shaw – einfache, aber falsche Antworten für sich einnehme; ein Musterbeispiel dafür sei, zum Schaden ganz Europas, der sogenannte Brexit. Deshalb sei es auch an der Zeit, für die europäische Idee und gegen ihre Widersacher aufzustehen oder – in Anlehnung an ein Wort Paul Celans – ‚die Zeit gehen zu lehren‘.

Krieg und Frieden

Die erste Sektion des zweiten Konferenztages, symbolisch überschrieben mit dem Romantitel Tolstois‚ wurde eröffnet mit einem programmatischen Vortrag von Andreas Rödder (Mainz), der – auf der Basis einer pessimistisch-deskriptiven Grundhaltung – nach dem Fortbestand der Ordnung von 1990 fragte und das kulturelle Koordinatensystem des Westens ein Stück weit auszuloten suchte. Diese Ordnung habe sozusagen nur für eine kurze Zeit „das Ende der Geschichte“ (Fukujama) markiert. Es habe nach einem ‚imperialen Moratorium‘ zu Putins Bestrebungen einer Satisfaktion für diese von Russland als ‚weltpolitische Degradierung’ empfundene Entwicklung geführt, die sich schon 2008 in Georgien militärisch Bahn gebrochen habe. Rödder konstatierte zudem tiefgreifende kulturell-politische Unterschiede in den Mitgliedsstaaten aufgrund unterschiedlicher historischer Erfahrungen und Rechtskulturen, die im zu sehr moralisch aufgeladen europäischen Integrationsprozess der ever closer union nicht genug berücksichtigt worden seien und so zu einer Gefährdung der EU führen würden. Am Beispiel einer Reihe historisch-politischer Dilemmata zwischen Real- und Ideenpolitik verstand er dabei Geschichte nicht als verlässliche Lehrmeisterin, sondern als ein kapriziöses Orakel. Die Geschichte ende also nicht, die Zukunft der „Weltunordnung“ (Carlo Masala) bleibe prinzipiell offen und müsse politisch und kulturell gestaltet werden; womit die Konferenz im Kleinen beitragen wollte.

Im Anschluss daran skizzierte Peter Ruggenthaler (Graz) Erwartungen und Hoffnungen im Kreml zwischen deutscher Wiedervereinigung und Auflösung des Warschauer Pakts. Dabei akzentuierte er u.a. die Frage der Mitgliedschaft des wiedervereinigten Deutschlands in der NATO im Kontext der Reformpolitik Gorbatschows und die Grundsatzentscheidung des Generalsekretärs im Verein mit dem Politbüro von 1989, ‚Stabilitätsverträge‘ der UdSSR mit den Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes (insbesondere der Tschechoslowakei und der DDR) stillschweigend ruhen zu lassen. Daraus resultierte aus sowjetischer Perspektive genau jene Ordnung, der Russland – wie Rödder in seinem Vortrag zuvor dargelegt hatte – unter Putin den Kampf angesagt hat.

Religion, Mythos und Politik zwischen Ost und West

Im Eröffnungsvortrag der zweiten Tagungssektion konturierte Verena Lenzen (Luzern) biblischen Humanismus als Fundament für einen gemeinsamen jüdisch-christlichen ‚Verständigungsweg‘ angesichts des Wertewandels unserer Zeit. Dabei unterzog sie zunächst – ausgehend von den literarischen Streifzügen Joseph Roths (1924) – das galizische Judentum einer paradigmatischen Betrachtung, um dann die Idee eines jüdisch-christlichen, auf Universalität ausgerichteten interkulturellen Dialogs im Sinne Martin Bubers zu erläutern, der allerdings nicht ohne – u.a. durch Literatur vermittelte – Kenntnis der Vergangenheit zustande kommen könne.

Ulrike Tanzer (Innsbruck) erläuterte im Anschluss den Habsburg-Mythos in Geschichte und Geschichten, den sie mit Claudio Magris als konstitutives Element der österreichischen Literatur – u.a. am Beispiel von Heimito von Doderer, Franz Grillparzer und Hugo von Hofmannsthal – beschrieb. Tanzer betonte neben einer nostalgisch-elegischen Vergangenheitsorientierung aber auch die Fähigkeit von so unterschiedlichen Autorinnen und Autoren wie Marie von Ebner-Eschenbach, Karl Kraus, Robert Musil, Adalbert Stifter oder Stefan Zweig, Antworten auf drängende Fragen ihrer jeweiligen Gegenwart aufzuzeigen.

Stéphane Pesnel (Paris) lotete in seinem Vortrag über religiöse Orientierungslosigkeit die metaphysische Dynamik der Gegenwartsliteratur unter der Perspektive von Wertewandel und kulturellem Erbe aus. Exemplarisch widmete er sich drei Werken im Spannungsfeld von Ästhetik und Religion: Ralf Rothmanns im erinnerungskulturellen Gestus gehaltener Erzählung Gethsemane (in Rehe am Meer), Éric- Emmanuel Schmitts ‚persönlichem Bekehrungsroman‘ Die Feuernacht sowie Erri De Lucas Roman Die ausgestellte Natur, der als ästhetisches Spiel mit dem Sakralen und als Form einer Annäherung an die metaphysische Dimension des Seins verstanden werden könne. In diesem Sinn interpretierte er auch Joseph Roths letzte Pariser Novelle Die Legende vom heiligen Trinker, deren ‚metaphysischer Reiz‘ im Prozess der verzögerten Annäherung an ‚religiöse Musikalität‘ im Sinne von Habermas liege.

Europa am Scheideweg – Bewegungen und Blockaden

Die letzte Sektion der Tagung eröffnete der Vortrag von Bogdan Mirtschev (Sofia) über Migration und Flucht, der insbesondere das Ringen um Identität und Verantwortlichkeit angesichts der ‚Einwanderungsströme‘ in die europäische Union fokussierte. Ausgehend von einer völkerrechtlichen Abwägung der Begriffe Flüchtlings-und Migrantenkrise konturierte er – im Sinne Europas als einem Kontinent der Erinnerung – die gegenwärtigen Entwicklungen durch eine Skizze historischer europäischer Wanderungsbewegungen, die weit größer waren als die gegenwärtigen, allerdings auch kulturell homogener bzw. anschlussfähiger. Insofern stelle sich auch die Frage nach dem Zusammenhalt einer Gesellschaft durch die nationale bzw. kulturelle Identität.

Daran anschließend nahm der Präsident des österreichischen Nationalrats a.D. Andreas Khol (Wien) in seinem engagierten Vortrag Patriotismus und Nationalismus im Kerneuropa und im Europa der 27 in den Blick. Er ließ sich von der These leiten, dass europäischer Zentralismus, der die persönliche Identifikation mit dem eigenen Land in einen Verfassungspatriotismus überführen wolle, letztlich den neuen populistischen Nationalismus befördere. Dabei sei der Patriotismus anders als der Nationalismus mit dem Prozess der europäischen Einigung in Einklang zu bringen, sofern das Subsidaritätsprinzip gewahrt bliebe, das allerdings sowohl vom Europäischen Parlament, vom Europäischen Gerichtshof als auch von der Europäischen Kommission nicht immer mit der notwendigen Sensibilität berücksichtigt werde. Insofern sei die Bekämpfung des Nationalismus auch in diesem institutionellen Sinn eine europäische Aufgabe.

Der nachfolgende Vortrag von Sabine Egger (Limerick) setzte sich aus kulturwissenschaftlicher Perspektive mit literarischen Grenzbewegungen in „Autogeographien“ (also Autobiographien, die sich auf Geographie stützen) auseinander und entdeckte in diesen Texten kulturelle Überlagerungen. Als exemplarische Werke für ihre Ausführungen wählte Egger neben Katja Petrowskajas ‚poetischer Biographie‘ Vielleicht Esther Hugo Hamiltons ebenfalls autofiktionale, spezifische Sprachgrenzen überschreitende Biographie Gescheckte Menschen sowie Jurij Andruchowytschs Gattungsgrenzen aufbrechendes, reale und imaginäre Grenzen in Bewegung bringendes und infrage stellendes Kleines Lexikon intimer Städte.

Mit ihren Anmerkungen zu Andruchowytsch schlug Egger zugleich die Brücke zur Abendveranstaltung im Haus der Wissenschaften, in der der international vielfach ausgezeichnete ukrainische Schriftsteller erzählend das Politische konturierte. Den Kern seiner Überlegungen bildete Andruchowytsch zum ersten Mal zum Vortrag gebrachter, noch unveröffentlichter Text Mittelosteuropa: Kurze Geschichte der Mutationen, in dem er die Veränderungen seines persönlichen Konzepts von Europa innerhalb geographischer, historischer, politischer und kultureller Koordinaten nachzeichnete.

In seinem Festvortrag entfaltete Hans-Gert Pöttering, Präsident des Europäischen Parlaments a.D. und Vorsitzender der KAS, die Bedeutung der Idee des kulturellen und politischen Brückenbauens in Europa. Aufbauend auf einer Reflexion der Vielfältigkeit der Gastgeberstadt Lemberg plädierte er für eine, im Sinn von Adolf Muschg mehrsinnige europäisch-integrative Identität, die sich mit den Identitäten – nach dem Muster einer Einheit in Vielfalt – der Nationen und Regionen verbinde. In diesem Kontext der innereuropäischen Verständigung akzentuierte Pöttering insbesondere die grenzüberschreitende Rolle der Literatur.

In einem weiteren Argumentationsstrang betonte er, dass die vom Kiewer Euromaidan ausgehende „Revolution der Würde“ die gesamte Ukraine betreffe und unterstrich wie Norbert Lammert die Völkerrechtswidrigkeit der Annexion der Krim. In seiner Rede verschwieg Pöttering zwar die Schwierigkeiten bei der Förderung der europäischen Entwicklung der Ukraine nicht, unterstrich aber die Größe der bisher bereits geleisteten Arbeit, die beispielhaft in dem am 11.6.2017 in Kraft tretenden Abkommen zur Visafreiheit für ukrainische Bürger bei der Einreise in die Europäische Union zum Ausdruck komme. Seine so optimistische wie kämpferische Rede schloss Pöttering mit einem engagierten Plädoyer für die Verteidigung der europäischen Werte, die unverrückbar mit der Würde des Menschen verknüpft seien.

Zu Beginn des letzten Konferenztags blickte die stellvertretende Vorsitzende der KAS Beate Neuss (Chemnitz) in einer präzisen historischen Skizze auf das 60-jährige Jubiläum der Römischen Verträge zurück, welche die politischen Strukturen in der Europäischen Union revolutioniert haben. Den Vertragsschluss erläutere Neuss u.a. im Kontext von Kaltem Krieg und der Nachkriegseinbindung Deutschlands. Dabei skizzierte sie eine Entwicklung zwischen den Polen wirtschaftlicher und politischer Integration, die schon früh durch unterschiedliche Auffassungen der Mitgliedsländer von staatlicher Souveränität geprägt worden sei. Auch vor dem Hintergrund aktueller weltpolitischer Herausforderungen äußerte sie sich zuversichtlich bezüglich einer schrittweisen pragmatischen Weiterentwicklung der Europäischen Union, wobei sich allerdings auch zukünftig die schwierige Frage nach der demokratischen Beteiligung der Bevölkerungen stelle.

Gerahmt wurde die Konferenz durch den Generationendialog, bei dem auch der Ehrenvorsitzende der KAS und Ministerpräsident a.D. Bernhard Vogel mitwirkte, durch Lesungen von Noémi Kiss (Schäbiges Schmuckkästchen. Reisen in den Osten Europas) und Marjana Gaponenko (Wer ist Martha?) sowie durch Grußworte hochrangiger ukrainischer Politiker wie Jewhen Nyschtschuk, dem Kulturminister der Ukraine, Andrij Sadowyj, dem Bürgermeister der Stadt Lemberg und Olexandr Hanuschtschyn, dem Vorsitzenden des Regionalparlaments von Lemberg.

Europa im Wandel – Literatur, Werte und Europäische Identität

Wer durch die Straßen Lembergs geht, die in ihrer Geometrie einer Bibliothek ähneln, wer die armenischen, russisch-orthodoxen und katholischen Kirchen sieht, die Synagogen, die Repräsentationsgebäude von der prächtigen Oper bis zum klassizistischen Haus der Wissenschaften, wer die Musik hört, die von den Jugendlichen auf den Straßen gespielt wird: der hat keinen Zweifel, Lemberg will nach Europa, Lemberg gehört zu Europa. Doch es gibt auch die ukrainischen Soldaten, die sich auf den Marktplätzen von ihren Freundinnen und Frauen verabschieden und ins Kriegsgebiet ziehen.

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