Die Rumäninnen und Rumänen haben zwei strapaziöse Wochen auf der politischen Achterbahn hinter sich. Völlig unerwartet holte zunächst der ultranationalistische Călin Georgescu in der ersten Runde der Präsidentenwahlen (24.11.2024) das beste Ergebnis. Beide Parteivorsitzende der Regierungskoalition traten düpiert zurück, nachdem sie beim Wähler durchgefallen waren. Als immer deutlicher wurde, dass sich die von Platz zwei in die Stichwahl startende liberal-konservative Kandidatin Elena Lasconi nicht gegen Călin Georgescu würde durchsetzen können, machten sich Angst und Sorge in einem Teil der Bevölkerung breit. Wenn ein Präsident Călin Georgescu das Land aus EU und NATO, dafür aber in einen wirtschaftlich „Souveränismus“ geführt hätte, wäre dies nicht nur außen- und sicherheitspolitisch brandgefährlich, sondern auch ruinös für die rumänische Wirtschaft geworden. Ein anderer Teil der Bevölkerung setzte jedoch weiterhin frenetisch seine Hoffnung, dass endlich jemand das klientelistisch-korrupte Amalgam im Zentrum der Staatsmacht zerbricht, weiter auf Călin Georgescu. Dieser Gegensatz polarisierte die rumänische Gesellschaft und im Bukarester Alltag ließen sich zahlreiche lautstarke und teils handgreifliche Auseinandersetzungen über die Kandidaten beobachten.
Wenige Tage nach dem ersten Wahlgang forderte am 27.11.2024 das Verfassungsgericht die Oberste Wahlbehörde auf, die Stimmen erneut auszählen zu lassen und der Oberste Verteidigungsrat teilte in einer Stellungnahme mit, es hätte eine aggressive Einflussnahme Dritter auf den Wahlprozess gegeben. Mit dieser Information standen Bürgerinnen und Bürger fassungslos allein. Der rumänische Staatspräsident wandte sich erst Tage später an sein Land. Nach einer Parlamentswahl am 1. Dezember 2024, die schwierige Mehrheitsverhältnisse mit sich brachte, bestätigte die Oberste Wahlbehörde am Montag (02.12.2024) die erste Runde der Präsidentenwahlen. Am Mittwochabend (04.12.2024) veröffentlichte der Oberste Verteidigungsrat auf Bitte von Journalisten und Zivilgesellschaft ein Paket an Dokumenten, das seine in der Vorwoche veröffentlichte Stellungnahme belegt: Nur ein staatlicher Akteur kann den massiven manipulativen Eingriff in den Wahlkampf zugunsten des Kandidaten Călin Georgescu vorbereitet und umgesetzt haben. Die Spuren führen nach Russland. Eine Vielzahl an Anrufungen gingen daraufhin beim Verfassungsgericht ein. Auf Basis der am Mittwochabend veröffentlichten Unterlagen, annullierte das Verfassungsgericht schließlich am Freitag (06.12.2024) den gesamten Wahlprozess. Und das, während die Stichwahl um das Präsidentenamt im Ausland bereits lief.
Keine faire und freie Wahl mehr
Das rumänische Verfassungsgericht stellte am 6. Dezember 2024 fest, dass der Wahlprozess zur Wahl des rumänischen Staatspräsidenten während seiner gesamten Durchführung und in allen Phasen von zahlreichen Unregelmäßigkeiten und Verstößen gegen das Wahlrecht geprägt war.
Der freie und faire Charakter der Wahl sei zugunsten eines und zu Ungunsten aller anderen Kandidaten beeinträchtigt gewesen, weil die Chancengleichheit durch die intransparente Nutzung digitaler Technologien und künstlicher Intelligenz in erheblichem Umfang verletzt worden sei. Wegen der fehlenden Kennzeichnung einer großen Anzahl digitaler Inhalte und Beiträge als Wahlwerbung, sei auch gegen das rumänische Wahlrecht verstoßen worden. Darüber hinaus seien die gesetzlichen Bestimmungen zur Wahlkampffinanzierung missachtet worden, so das Verfassungsgericht. Entsprechend: Weil wesentlichen Prinzipien demokratischer Wahlen missachtet worden sind, muss nun die gesamte Wahl wiederholt werden. Alles zurück auf Start.
Ausmaß der Unregelmäßigkeiten
Die vom Obersten Verteidigungsrat veröffentlichten Dokumente belegen in der Tat Gravierendes: In der Woche vor den Wahlen wurden mehr als 85.000 Cyber-Angriffe auf wahlrelevante Accounts verzeichnet, die fortgeschrittene Verschlüsselungstechnik verwendeten. Die Art der Durchführung und das Ausmaß weisen klar auf einen staatlichen Akteur hin. Zugangsdaten zu Domains, die mit dem Wahlprozess in Verbindung stehen, waren auf russischen Plattformen für Cyberkriminalität publiziert worden.
Social Media, vor allem TikTok, wurde auf aggressive, koordinierte und nicht gemäß rumänischem Recht gekennzeichnete Weise zugunsten des Kandidaten Călin Georgescu eingesetzt. Hierfür war ein Netzwerk von 25.000 Accounts geschaffen worden, die in den zwei Wochen vor der Wahl aktiviert wurden. Einige Accounts wurden zwar schon 2016 angelegt, jedoch bis zur Aktivierung schlafend gehalten. TikTok gestand dieses Netzwerk ein. Ebenso ein Netzwerk von Accounts, die mit dem russischen Nachrichtenportal Sputnik in Beziehung stehen. Die Aktivitäten wurden von außerhalb TikToks koordiniert – über Telegram und Discord. Auch hier weisen nach Art und Durchführung auf einen staatlichen Akteur hin.
Der ganze Prozess war im Stil der Einflussoperation „Equilibrium and Verticality“ organisiert. Die Vorgehensweise spiegelt die russische „Brother next to brother“ Kampagne in der Ukraine vor der russischen Invasion 2022. Auch in Rumänien wurden Mikro-Influencer genutzt, die sich dem Zweck und der Wirkung ihres Einsatzes nicht bewusst waren. Sie wurden direkt oder verdeckt über Zwischenakteure bezahlt.
Während Călin Georgescu bei der rumänischen Wahlbehörde angab, Null Euro für seine Kampagne ausgegeben zu haben, machten die veröffentlichten Dokumente deutlich, dass das tatsächliche Budget bei mehr als einer Million EUR gelegen haben musste. Auch hier zeichnet sich ein Verstoß gegen das rumänische Wahlgesetz ab. In den letzten Tagen fand die rumänische Polizei darüber hinaus bei zahlreichen Durchsuchungen im Umfeld von Călin Georgescu große Summen an Bargeld und Waffen, was ebenfalls auf eine längere Vorbereitung und ein breites Netz auch krimineller Akteure schließen lässt.
Das rumänische Verfassungsgericht hat mit seinem Spruch die Integrität freier und fairer Wahlen geschützt, auch wenn der Weg dorthin nach Einschätzung zahlreicher rumänischer Juristen nicht so dem eigentlich vorgesehenen entsprochen hat. Was in Rumänien passiert ist, kann sich auch in anderen EU-Ländern wiederholen. Eine europaweite Diskussion um neue Standards zur Absicherung fairer und freier Wahlen im digitalen Informationsraum muss jetzt einsetzen. Warum also protestiert nun aber nicht nur Călin Georgescu sondern auch seine Gegenkandidatin Elena Lasconi lautstark gegen die Entscheidung des Verfassungsgerichts? Am 6.12.2024 sagte Elena Lasconi sogar: „Heute ist der Moment, in dem der rumänische Staat die Demokratie mit Füßen getreten hat.“
Kampf an zwei Fronten
Rumänien kämpft an zwei Fronten um die Demokratie. Einmal gegen Russlands hybriden Angriff. Und dann an der altbekannten Front gegen das System aus Klientelismus und Korruption, das von Kräften getragen wird, die nach wie vor die Macht der früheren kommunistischen Elite verlängern.
Das rumänische Verfassungsgericht hat in der jüngsten Vergangenheit eine Reihe von Entscheidungen getroffen, die zu Recht Fragezeichen bezüglich seiner politischen Unabhängigkeit aufwerfen. Im Oktober 2024 wurde beispielsweise die EU-Abgeordnete Diana Șoșoacă vom Verfassungsgericht aus dem Rennen um das höchste Staatsamt in Rumänien ausgeschlossen. Fünf von den insgesamt neun Richtern begründeten diese Entscheidung mit verfassungswidrigen Äußerungen und einer politischen Haltung, die für eine Staatspräsidentin nicht mit der Verfassung vereinbar seien. Die Argumentation löste breite und scharfe Kritik aus. Richter, Rechtswissenschaftler wie auch die Zivilgesellschaft sprachen von einem Problem der Gewaltenteilung und Machtmissbrauch, weil das Verfassungsgericht eine Kandidatin ohne das Recht auf Anhörung oder Verteidigung aus dem Rennen ausgeschlossen habe. Viele vermuteten hinter dem Spruch des Verfassungsgerichts eine politische Entscheidung der vier von der sozialdemokratischen PSD ernannten Richter im Verfassungsgericht, um dem Kandidaten Marcel Ciolacu (PSD) zu einer Stichwahl gegen den national-populistischen George Simion (AUR) zu verhelfen. Der Paarung, in der Marcel Ciolacu die größten Aussichten auf einen Wahlsieg zugesprochen wurden.
Auf Basis dieser und etlicher weiterer umstrittener Entscheidungen, hat die rumänische Bevölkerung nur geringes Vertrauen in seine obersten gerichtlichen Instanz und fragt sich, ob der bzgl. der externen Einflussnahme Dritter sicherlich richtigen Entscheidung, auch noch andere innenpolitische Überlegungen zugrunde liegen könnten. Zumal stellt sich die Frage, warum Diana Șoșoacă ausgeschlossen wurde, nicht aber Călin Georgescu. Dieselbe Argumentation wie bei Diana Șoșoacă hätte auch auf den bekannten Protagonisten neo-legionärer Auffassungen zugetroffen. Haben verschiedene rumänische Geheimdienste parallel die Gefahr nicht erkannt? Dies würde die Bürger nicht unbedingt ruhig schlafen lassen. Oder haben sie die Gefahr erkannt, aber aus ebenfalls politischen Erwägungen laufen lassen? All solche Überlegungen zirkulieren durch die aktuellen Debatten in Rumänien.
Demokratien brauchen Transparenz in staatlichem Handeln, um Vertrauen zu schaffen. Statt Transparenz gibt es in Rumänien aber zu viele Fälle von klientelistisch besetzten Führungsposten. Jeder in Rumänien kann Beispiele berichten, wie die Zugehörigkeit zur richtigen Partei ausschlaggebender war als Fachkompetenz und Integrität. Es gibt zu viel Ineffizienz im staatlichen Handeln und immer wieder Beispiele von Korruption.
Die Parteien, die sich richtigerweise über die Ansichten des ultranationalistischen Neo-Legionärs Călin Georgescu empört haben, weisen in ihren Reihen oftmals selbst Vertreter mit ähnlichen Auffassungen auf. Auch wurde seitens Staatsanwaltschaft, Polizei und Nachrichtendiensten keine harte Linie gegen die Verklärung von Faschismus und Kommunismus gefahren, weil insbesondere die Nachfolgekräfte der alten kommunistischen Diktatur dies verhinderten. Diese Kräfte dominieren nach wie vor den Kern der staatlichen Macht in Rumänien, allen voran die nur dem Namen nach sozialdemokratische PSD. Um breite gesellschaftliche Diskurse oder um den Aufbau eines Systems zur Förderung eines breiten zivilgesellschaftlichen Angebots zur politischen Bildung drückt man sich seit Jahren.
Wie geht es weiter in Rumänien
Călin Georgescu wird nicht rumänischer Präsident. Angesichts der Vielzahl an eingeleiteten Ermittlungen und der Ergebnisse allein journalistischer Recherche, erscheint es unwahrscheinlich, dass er zur nächsten Präsidentenwahl zugelassen wird. Eine tickende politische Bombe wurde im Countdown vom Verfassungsgericht entschärft. Jetzt sollten Bürger, die Nachbarländer Republik Moldau und Ukraine, EU- und NATO-Partner und auch die Finanzmärkte eigentlich aufatmen können. Leider aber nicht. Denn die entscheidende politische Arbeit in Rumänien muss jetzt erst beginnen. Sonst steht das Land in Kürze wieder vor dem gleichen Problem, auch wenn es dann das Gesicht eines anderen Kandidaten tragen mag.
Es hilft auch nicht, die grundlegenden System-Probleme Rumäniens zugunsten des neuen hybriden Angriffs zu ignorieren. Rumänien braucht ein grundlegend anderes Verhältnis zwischen seinen Institutionen, Politikern und Bürgern, wenn es eine starke und wehrhafte Demokratie werden will.