Der Weg an die Spitze war für den parteiintern umstrittenen Shigeru Ishiba alles andere als einfach. Als politischer Veteran, früherer LDP-Generalsekretär, Verteidigungs- und Landwirtschaftsminister ist der 67-Jährige in Japan seit gut drei Jahrzehnten landesweit bekannt. Dennoch hatte er wiederholt Schwierigkeiten, die Unterstützung seiner Parteikollegen für sich zu gewinnen. Vier erfolglose Anläufe zum Parteivorsitz musste Ishiba auf sich nehmen, bevor ihm im fünften und letzten Versuch nun endlich der Durchbruch gelang.
Die historische Abstimmung mit insgesamt neun Kandidatinnen und Kandidaten – mehr als jemals zuvor – wurde durch den Rücktritt von Premierminister Fumio Kishida erzwungen. Angesichts überaus niedriger Zustimmungswerte für sein Kabinett hatte Kishida am 14. August bekannt gegeben, nicht mehr für den LDP-Vorsitz zu kandidieren. Mit seiner Ankündigung wollte er den Weg ebnen für eine Neuausrichtung seiner Partei. Aufgrund mehrerer aufeinanderfolgender Skandale steckt die LDP in einer der größten Krisen seit ihrer Gründung.
Darauf bezog sich auch Ishiba bei Bekanntgabe seiner Kandidatur: „Ich werde alles, was ich habe, in meinen letzten Versuch [um das Amt des LDP-Vorsitzenden] investieren. Es wird der Höhepunkt meiner 38-jährigen politischen Karriere sein. Ich werde eine Liberaldemokratische Partei etablieren, die sich an die Regeln hält.“
Ein Sieg durch „göttlichen Willen“
Als Ishibas stärkste Konkurrenten für den Parteivorsitz kristallisierten sich im Laufe des Wahlkampfes schnell Shinjiro Koizumi, Sohn des früheren Premierministers Junichiro Koizumi, und Sanae Takaichi, Ministerin für wirtschaftliche Sicherheit, heraus. Anfangs noch als Außenseiterin gehandelt, legte Letztere bis zum Wahltag eine beeindruckende Aufholjagd hin. Tatsächlich sah sie nach dem ersten Wahlgang, den sie mit 181 Stimmen gegenüber 154 Stimmen vor Ishiba gewann, für viele bereits wie die sichere Siegerin aus. Doch in der Stichwahl unter den zwei Bestplatzierten wandte sich die Mehrheit der Delegierten Ishiba zu, und er gewann knapp mit 19 Stimmen.
Ein Grund für Ishibas überraschenden Sieg in der zweiten Wahlrunde mag der Wunsch vieler moderaterer Delegierter gewesen sein, die „stramm konservative“ Takaichi in letzter Minute zu verhindern. Die Ministerin wird als enge Vertraute des ehemaligen Premierministers Shinzo Abe überdies mit einer der Gruppierungen assoziiert, die im Zentrum der LDP-Skandale um den Einfluss der Unification Church und die Spendengeldaffäre steht.
Ishiba auf der anderen Seite galt lange Zeit als einer der Hauptrivalen Abes. Nach mehreren Parteiwechseln und offen geäußerter Kritik an Faktionen, Parteikollegen und internen Missständen warfen ihm schwergewichtige Gegner in den eigenen Reihen gar vor, die LDP “verraten“ zu haben. Seine Unterstützer hingegen sehen in Ishiba einen unabhängigen “Idealisten“, der Selbstreflexion und einen Neuanfang innerhalb der Partei vorantreiben kann. Sein „Außenseiter“-Image, das ihn in seinen bisherigen Versuchen eher behindert hat, kam ihm dieses Mal nach ersten Medienreaktionen zugute und ließ ihn als glaubwürdige Alternative zum Status quo erscheinen. „Ishibas Aufstieg an die Spitze der Nation öffnet den Weg in eine neue Ära der LDP-Politik, aber das bedeutet nicht, dass er es leicht haben wird, diesen Weg zu beschreiten.“
Auch Ishiba scheint sich dieser besonderen Situation bewusst gewesen zu sein. In seinem vor der Wahl veröffentlichen Buch schreibt der protestantische Christ: „Wenn jemand wie ich Premierminister werden sollte, dann wahrscheinlich zu einem Zeitpunkt, an dem Japan oder die LDP in einer großen Sackgasse steckt. Diese Entscheidung wird vom Himmel getroffen werden. Ohne göttlichen Willen würde so etwas niemals geschehen.“
Politische Positionen
Ishiba gilt als gemäßigte Stimme innerhalb der LDP. In verteidigungs- und sicherheitspolitischen Fragen vertritt er konservative Positionen, während er in gesellschaftspolitischen Themen eine vergleichsweise liberale Haltung einnimmt.
Verfassungsänderung und Artikel 9
Ishiba befürwortet eine Änderung des Artikels 9 der japanischen Nachkriegsverfassung, der Japan die Beteiligung an Kriegen verbietet. Er plädiert insbesondere für die Streichung des zweiten Absatzes, der die Aufrechterhaltung von Land-, See- und Luftstreitkräften untersagt. Dies stehe „im Widerspruch zur Existenz der Selbstverteidigungskräfte (SDF)“. Ishiba argumentiert, dass eine Organisation mit tatsächlicher militärischer Macht international als „Militär“ wahrgenommen wird, und fordert die Verankerung einer „nationalen Verteidigungskraft“ in der Verfassung.
In der Vergangenheit vertrat Ishiba bei diesem Thema jedoch auch zurückhaltendere Positionen als viele seiner Parteikollegen. Wiederholt äußerte er Bedenken gegenüber einer überstürzten Reform. Bei einer Pressekonferenz im Jahr 2018 sprach er sich für einen behutsamen Ansatz bei der Überarbeitung der Verfassung aus und betonte die Notwendigkeit einer umfassenden öffentlichen Debatte vor etwaigen Änderungen.
Umfragen aus Mai 2024 zeigen, dass 75 Prozent der japanischen Bevölkerung eine Notwendigkeit zur Änderung der Verfassung sehen, wobei 65 Prozent keinen Grund zur Eile erkennen. In der Frage, ob Artikel 9 geändert werden soll, ist die Bevölkerung gespalten: 51 Prozent sind dafür, 46 Prozent dagegen.
Forderung nach einer „asiatischen NATO“
Im Zuge seiner Wahlkampagne erregte Ishiba Aufmerksamkeit mit seiner Forderung, Asien benötige ein kollektives Verteidigungsbündnis nach dem Vorbild der NATO, um Bedrohungen, insbesondere aus China, abzuschrecken. Das Fehlen eines solchen Systems stelle ein Risiko für zukünftige Konflikte dar. „Es ist erschreckend, dass die USA die Ukraine nicht verteidigen, weil sie kein NATO-Mitglied ist“, erklärte Ishiba auf einer Pressekonferenz. „Ich werde mein Bestes tun, um ein solches System zu schaffen.“
In einer Fernsehdebatte einige Tage später präzisierte er, dass seine Idee darin besteht, verschiedene Sicherheitsrahmen in der Region zu „vereinen“, darunter die bilateralen Sicherheitsbündnisse der USA mit Japan und Südkorea, das ANZUS-Abkommen zwischen Australien, Neuseeland und den USA sowie die „Five Power Defence Arrangements (FPDA)“ zwischen den Commonwealth-Nationen Australien, Malaysia, Neuseeland, Singapur und dem Vereinigten Königreich. „Der schnellste Weg wäre, Japan zu ANZUS hinzuzufügen, was wir dann JANZUS nennen“, sagte Ishiba. „Das ist logisch möglich.“
Die Praktikabilität dieser Idee stieß jedoch bei einigen Sicherheitsexperten innerhalb wie auch außerhalb der Partei auf erhebliche Skepsis und wurde von einem Sprecher der Biden-Administration prompt zurückgewiesen.
Gleichberechtigte Stellung im japanisch-amerikanischen Bündnis
Ishiba strebt an, die japanisch-amerikanische Allianz auf das gleiche Niveau wie das US-britische Bündnis zu heben. Er befürwortet eine Revision des Sicherheitsvertrags zwischen Japan und den USA, um eine ausgewogenere Beziehung zu gewährleisten. Er schlägt vor, dass die USA eine gemeinsame Kontrolle über amerikanische Stützpunkte in Japan zulassen, während Japan seine eigene militärische Infrastruktur auf amerikanischem Territorium aufbauen darf, zum Beispiel durch stationierte Selbstverteidigungskräfte in Guam. Dies würde effektiv dazu führen, dass das in Japan stationierte US-Militärpersonal die Art von Exterritorialität verliert, die es im Rahmen des Bündnisses bisher genossen hat.
Ländliche Revitalisierung und wirtschaftliche Entwicklung
Als Abgeordneter eines ländlichen Wahlkreises in der Präfektur Tottori betont Ishiba regelmäßig die Notwendigkeit, die sozioökonomische Ungleichheit zwischen Japans städtischen Zentren und ländlichen Regionen zu verringern. Letztere leiden besonders stark unter Bevölkerungsrückgang, Überalterung und wirtschaftlicher Stagnation.
Noch am Wahlabend beauftragte Ishiba seine Partei, für das Fiskaljahr 2024 einen Nachtragshaushalt zur Finanzierung eines Konjunkturpakets vorzulegen. Dieses Paket zielt darauf ab, die negativen Auswirkungen gestiegener Preise auf die ländlichen Gebiete abzufedern. In einer Pressekonferenz nach der Wahl erklärte er: „Wir werden entschlossen daran arbeiten, sowohl die Hauptstadt als auch die Regionen weiterzuentwickeln und zu schützen.“
Insgesamt plant Ishiba, den wirtschaftspolitischen Kurs der Kishida-Regierung fortzuführen, um Japan aus Jahren der Deflation zu führen. Er betont, dass die Wirtschaft nur dann florieren kann, wenn der Konsum steigt. Daher setzt er sich dafür ein, den Mindestlohn bis Ende dieses Jahrzehnts auf 1.500 Yen pro Stunde (etwa 10 Euro) zu erhöhen. In der Energiepolitik beabsichtigt er, Kishidas Kernkraftstrategie fortzusetzen und gleichzeitig den Anteil erneuerbarer Energien zu erhöhen.
„Bei Bedarf werden wir fiskalische Anreize setzen. An der lockeren Geldpolitik Japans wird sich nichts ändern“, sagte Ishiba nach der Wahl. Auf die Frage nach der Möglichkeit weiterer Zinserhöhungen durch die Zentralbank antwortete er: „Das ist eine Entscheidung, die die Bank von Japan treffen muss, die verpflichtet ist, Preisstabilität zu erreichen.“ Die Gesamtschulden der japanischen Regierung belaufen sich auf über 250 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Ryutaro Kono, Chefökonom für Japan bei BNP Paribas, urteilt: „Ishiba ist zweifellos bis zu einem gewissen Grad um die fiskalische Gesundheit besorgt, aber er ist kein starker Befürworter der Haushaltskonsolidierung.“
Gesellschaftlicher Wandel
In gesellschaftspolitischen Fragen gilt Ishiba als vergleichsweise progressiv. Er zeigt sich aufgeschlossen gegenüber einer Reform der kaiserlichen Thronfolge, die es auch Frauen ermöglichen würde, das Amt zu bekleiden. Zudem unterstützt er eine Änderung des Namensrechts, die es Ehepartnern erlauben würde, unterschiedliche Nachnamen zu behalten. In der Vergangenheit hat er sich außerdem offen für die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe und ein Quotensystem zur Erhöhung des Frauenanteils in der Politik gezeigt.
Um diese Reformen voranzutreiben, müsste Ishiba jedoch erhebliche Widerstände innerhalb seiner Partei überwinden. Daher bleibt fraglich, ob er in naher Zukunft Veränderungen in diesen Bereichen bewirken wird.
Beziehungen zu anderen Staaten
In einer Stellungnahme gegenüber dem Hudson Institute skizzierte Ishiba seine Vision einer proaktiven und selbstbewussten Außenpolitik für Japan, die stark auf kollektive Verteidigung und regionale Sicherheit fokussiert ist. Japan soll fest in regionale und globale Sicherheitsstrukturen eingebunden sein und dabei seine Unabhängigkeit in Verteidigungsfragen wahren. Ishiba sieht Japan als Schlüsselakteur für die Aufrechterhaltung der liberalen Ordnung im Indo-Pazifik.
Ishibas Haltung gegenüber China ist von Vorsicht geprägt. In einer Zeit wachsender regionaler Spannungen unterstreicht er die Notwendigkeit, Japans Verteidigungsfähigkeiten zu stärken und die internationale Zusammenarbeit, insbesondere durch das Bündnis mit den USA, weiter auszubauen. Er gilt als enger Partner Taiwans, hat die dortige Regierung mehrfach besucht und zieht Parallelen zwischen dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und der Sicherheitslage in Asien. „In Japan gibt es ein Sprichwort: 'Was heute die Ukraine ist, könnte morgen Ostasien sein.' Wir müssen verhindern, dass dieses Sprichwort Wirklichkeit wird“, erklärte er zuletzt im Rahmen einer Delegationsreise nach Taipeh.
Gleichzeitig hebt Ishiba die Bedeutung des Dialogs mit Peking hervor, um Missverständnisse und unnötige Eskalationen zu vermeiden. „Es ist entscheidend, Chinas abenteuerliche Neigungen mit militärischer Stärke im Zaum zu halten, während man wirksame Abschreckung überlegt und gleichzeitig eine diplomatische Strategie verfolgt, um eine für beide Seiten vorteilhafte Beziehung zu gestalten“, schreibt er in seinem Buch. „Diese beiden Elemente sollten Hand in Hand gehen.“
Das Verhältnis zu Südkorea, das sich nach einer diplomatischen Krise unter Abe in den letzten Jahren deutlich verbessert hat, dürfte sich auch unter Ishiba weiter stabilisieren. Während seiner Zeit als Verteidigungsminister hat er auf Besuche des Yasukuni-Schreins, wo auch japanischen Kriegsverbrechern gedacht wird, verzichtet. Zudem hat sich Ishiba in der Vergangenheit kritisch zu extrem nationalistischen Positionen innerhalb seiner Partei geäußert, die Japans Rolle im Zweiten Weltkrieg betreffen. Diese Haltung dürfte auch in den USA Anklang finden. Washington versucht seit Jahren, zwischen Tokio und Seoul zu vermitteln, um die trilaterale sicherheitspolitische Zusammenarbeit im Indo-Pazifik zu stärken.
Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass Ishiba die Politik seines Vorgängers Kishida fortführen wird. Seine teilweise unbequemen und unabhängigen Positionen – etwa zur Schaffung einer „asiatischen NATO“ oder zur Forderung nach mehr Gleichberechtigung im US-japanischen Bündnis – dürften im In- und Ausland aber auf Widerstand stoßen.
Ausblick
Shigeru Ishiba übernimmt die Führung Japans in einer Zeit, die von tiefgreifenden Veränderungen und Herausforderungen geprägt ist. Die japanische Gesellschaft altert rapide, wirtschaftliche Ungleichheiten wachsen, und die geopolitischen Spannungen in der Region nehmen zu. Seine politischen Positionen und seine Vision für Japan deuten darauf hin, dass er bereit ist, mutige Schritte zu unternehmen, um das Land zu stabilisieren und zukunftsfähig zu machen. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob es ihm gelingt, die teils tiefen Gräben innerhalb der LDP zu überwinden und die notwendige parteiinterne Unterstützung für seine Reformpläne zu gewinnen.
Ishiba wird in einer Parlamentssitzung am 1. Oktober offiziell zum neuen Premierminister gewählt und ernannt werden. Obwohl die nächste Wahl zum japanischen Unterhaus erst Ende Oktober 2025 stattfinden muss, ist nach der Abstimmung über den LDP-Parteivorsitz mit vorgezogenen Neuwahlen zu rechnen. Als voraussichtlicher Termin gilt dafür nach nur zwei Wochen Wahlkampf bereits der 27. Oktober. Das Ergebnis der Abstimmung wird ein erster Test dafür sein, ob es der LDP unter ihrem neuen Vorsitzenden Shigeru Ishiba tatsächlich gelingt, das verloren gegangene Vertrauen der Bevölkerung zurückzugewinnen.