Länderberichte
Die KPV sieht von direkten Disziplinarmaßnahmen gegen den Premierminister ab, welcher somit, wenn auch stark geschwächt, im Amt bleibt.
Fatale wirtschaftliche Entwicklung
Vietnam galt bisher als einer der größten wirtschaftlichen Hoffnungsträger Südostasiens. Auf dem sechsten Parteitag der KPV im Jahr 1986 läutete die politische Führung den sogenannten wirtschaftlichen Erneuerungs- bzw. Doi Moi-Prozess ein. Dieser Reformprozess war und ist ausschlaggebend für die wirtschaftliche Liberalisierung des Landes, den daraus resultierenden weitreichenden Errungenschaften in unterschiedlichen Bereichen der Sozialpolitik. Doi Moi ebnete den Weg für Vietnams Entwicklung von einer Planwirtschaft zu einer sozialistisch-orientierten Marktwirtschaft.
Allerdings befindet sich die vietnamesische Volkswirtschaft seit Ende 2010 in einer anhaltenden Schieflage. Sorge bereitet vor allem die beständig hohe Inflationsrate. Zu weiteren makroökonomischen Ungleichgewichten zählen die geschwächte Währung, das steigende Haushaltsdefizit, das chronische Handelsbilanzdefizit und strukturelle Defizite im Finanz- und Bankenwesen - insbesondere im Bereich der Staatsbetriebe. Trotz der sozioökonomischen Erfolge seit 1986, sind die wirtschaftlichen Herausforderungen, denen Vietnam gegenwärtig gegenübersteht, zahlreich.
Die angespannte wirtschaftliche Lage wird zur politischen Realität
Die vietnamesische Regierung muss seit Beginn dieses Jahres zunehmend Rechenschaft über ihre wirtschaftlichen Sanierungsmaßnahmen vor der KPV ablegen. Premierminister Dung steht Berichten zufolge besonders für das Missmanagement der Staatsbetriebe im Fokus der innerparteilichen Kritik.
In der sozioökonomischen Entwicklungsstrategie 2011-2020 wird dem staatlichen Wirtschaftssektor eine entscheidende Rolle bei der Gewährleistung der makroökonomischen Stabilität zugeschrieben. Premierminister Dung gilt als starker Befürworter der staatlichen Unternehmen. Im Laufe der Doi Moi Reformen wurde die Anzahl der staatseigenen Betriebe durch Teilprivatisierungen reduziert. Der private Wirtschaftssektor wurde erstmals mit der Verfassung von 1992 anerkannt. Jedoch genießen Staatsbetriebe trotz mangelnder Wettbewerbsfähigkeit, trotz ineffizienter und korrupter Verwaltungsstrukturen noch immer erhebliche staatliche finanzielle Unterstützung sowie privilegierte Kreditzugänge.
Das vietnamesische Bankensystem ist einem rasant steigenden Volumen an „faulen Krediten“ (Non Performing Loans, NPL) ausgesetzt. Ende August 2012 lag das NPL Volumen im Verhältnis zum Gesamtvolumen der ausstehenden Kredite aller Kreditinstitute bei 8,6 Prozent. Im November 2011 lag das NPL Volumen bei lediglich 3,3 Prozent .
Der August 2012 geriet auch aus anderen Gründen zum Monat der Offenbarungen. Nguyen Duc Kien, Mitgründer der teilprivatisierten Geschäftsbank Asia Commercial Bank (ACB) und Aktieninhaber mehrerer kleinerer Geschäftsbanken, wurde wegen des Verdachts illegaler Geschäftspraktiken am 20. August 2012 verhaftet. Drei Tage später (23.08.2012) wurde der Geschäftsführer der ACB unter gleichen Vorwürfen in Gewahrsam genommen. Nach offiziellen Angaben des Ministeriums für öffentliche Sicherheit wird seit dem 18. September 2012 gegen Kien zusätzlich wegen Verdachts auf Betrug und vorsätzlicher Pflichtverletzung ermittelt.
Vietnam am politischen Scheideweg
Für die KPV stellt die fortdauernde wirtschaftliche Krise ein wachsendes Legitimationsproblem dar. Erste Risse im traditionellen Machtgefüge machen sich bemerkbar.
Im Kräfteverhältnis zwischen Generalsekretär der KPV, Staatspräsident und Premierminister verschieben sich die politischen Kompetenzen deutlich.
So hat die KPV die Korruptionsbekämpfung als Folge der Skandale um die Banken- und Staatsbetriebe an sich gezogen – Kompetenzen, die ehemals im Portfolio des Premierministers angesiedelt waren. Während des fünften Plenums des Zentralkomitees der KPV (XI. Legislaturperiode) im Mai 2012 wurde die Gründung einer direkt dem Politbüro der KPV unterstehenden Kommission zur Korruptionsbekämpfung beschlossen.
Nach zunehmenden Einschränkungen im Vorfeld des elften Parteitags stehen die Medien nun wieder erneut unter der verschärften Beobachtung der Partei. Alle Medien unterliegen ohnehin einer strikten staatlichen Kontrolle, private Medien gibt es nicht in Vietnam. Zwar ist die Meinungsfreiheit verfassungsrechtlich verankert, zugleich ist sie Straftatbestand, wenn Äußerungen die politische Agenda betreffen. Davon direkt betroffen sind aktuell drei anonyme regierungs- und parteikritische Blogs (Quanlambao, Danlambao und Bien Dong). Die Blogs konzentrieren sich auf Premierminister Dung, auf die wirtschaftlichen Probleme und auf die aktuelle vietnamesische Außenpolitik. In einer am 12. September 2012 veröffentlichten Pressemitteilung bezeichnete Premierminister Dung jene drei Blogs als Angriff auf die politische Führung und forderte konsequente strafrechtliche Verfolgung der Blogbetreiber. Trotz dieser Erklärung, von der man nicht genau weiß, ob sie einen Alleingang Dungs darstellte, sind die Blogs nach wie vor öffentlich zugänglich und erfreuen sich hoher Besucherzahlen. Die täglich wachsende und über technische Umwege relativ freie Internutzung stellt für das politische System Vietnams gerade mit Blick auf die jüngsten Entwicklungen im Na-hen und Mittleren Osten eine enorme Herausforderung dar.
Dementsprechend konsequent griffen Partei und Regierung dagegen im jüngsten Fall durch: Das Volksgericht in Ho Chi Minh Stadt verurteilte die Blogger Nguyen Van Hai, Ta Phong Tan und Phan Thanh Hai wegen vermeintlich regierungsfeindlicher Propaganda Ende September 2012 zu jeweils vier bis zwölf Jahren Haft.
Allein diese Urteile unterstreichen die starke staatliche Zensur, der die Medien in Vietnam ausgesetzt sind. Auch in diesem Jahr gehört Vietnam zu jenen Staaten in Asien, die ihre Medien am restriktivsten regulieren, so die Angaben von Amnesty International, Freedom House Index and Reporters Without Borders.
Der politische Showdown: Das sechste Plenum des Zentralkomitees der KPV (XI. Legislaturperiode)
Das sechste Plenum zeichnete sich durch seine ungewöhnlich lange Tagungsdauer aus (fünfzehn Tage). In der Regel sind für die jeweiligen Plenarsitzungen des Zentralkomitees der KPV nur vier Tage angesetzt.
Das Hauptanliegen des Plenums war ein Bericht des Politbüros der KPV zu Kritik und Selbstkritik der Partei und ihrer Mitglieder, darunter an und vom Premierminister Dung. Zwar behandelte das Plenum auch die Fortschritte der Reform der Staatsbetriebe und sichtete die sozioökonomische Entwicklung Vietnams, aber Ziel des Plenums war die Analyse des Krisenmanagements von Premierminister Dung. Um Schaden von der Partei abzuhalten, wird hauptsächlich der Premier für Misswirtschaft und fehlende Strategien verantwortlich gemacht. Er stand dem Plenum Rede und Antwort zu familiären Verbindungen in die Wirtschaft, korruptionsbegünstigenden Entscheidungen und persönlichen Verstrickungen.
Eine erste politische Bilanz
In der Abschlusszeremonie des Plenums am 15. Oktober unterstrich der Generalsekretär der KPV, Nguyen Phu Trong, die Notwendigkeit (1) einer effizienteren Umstrukturierung der Staatsbetriebe, (2) einer überzeugenderen Reform des Bank- und Finanzwesens, (3) von mehr Rechtssicherheit in Landnutzungsfragen, (4) einer weitreichenden Re-form des Bildungssystems und hob (5) die Errungenschaften des Plenums bezüglich wichtiger Personalentscheidungen innerhalb der Partei und der Regierung hervor .
Ein weiteres Ergebnis des Plenums ist die Wiedereinführung des Wirtschaftsausschusses des Zentralkomitees der KPV. Dies stellt eine zusätzliche Kompetenzverlagerung von direkter Regierungsebene in Richtung Partei dar. Die Teilprivatisierung von Staatsbetrieben gemäß dem Unternehmensgesetz von 2005 zu Aktiengesellschaften genieße innerhalb des wirtschaftlichen Reformprozesses, so Nguyen Phu Trong, einen hohen Stellenwert.
Staatsbetriebe und teilprivatisierte wirtschaftliche Einheiten sollen demnach strengeren, regelmäßigeren und transparenteren Revisionen unterliegen. Unabdingbar für die makroökonomische Stabilität sei zudem die Verringerung korrupter Strukturen und der anhaltenden Misswirtschaft im Bankenwesen sowie im bisherigen Landnutzungssystem. Im Rahmen der Bildungsreform würde der Staat insbesondere führende und angehende Wis-senschaftler fördern.
Deutlicher Verlierer des Plenums ist Premierminister Dung. In der offiziellen Rede zur Abschlusszeremonie wurde indirekt auf die dem Premierminister vorgeworfenen Fehlentscheidungen eingegangen. „Eine gewisse Anzahl an führenden Beamten hätten (...) durch ihr Handeln dem Ansehen der Partei, des Staats und ihrer eigenen Person geschadet (...). Grundsätzlich hätte das gesamte Politbüro der KPV die Nominierung eines Mitglieds des Politbüros für ein Disziplinarverfahren befürwortet, allerdings hätte man sich nach etlichen Überlegungen gegen die Durchführung eines solchen Verfahrens gegen das Politbüro und eines seiner Mitglieder entschieden“ (Generalsekretär der KPV, Nguyen Phu Trong, 15. Oktober 2012, Sechstes Plenum des Zentralkomitees der KPV, XI. Legislaturperiode der KPV, Hanoi). Mit dieser Äußerung spielt der Generalsekretär direkt auf das Schicksal von Premierminister Dung an: ein Novum für die KPV, die sich traditionsgemäß davor scheut, interne Debatten öffentlich auszutragen.
Das sechste Plenum wird keine große wirtschaftliche und politische Neuausrichtung des Landes mit sich bringen. Die über die letzten Jahre hinweg zunehmend eigenständiger agierende Regierung wird sich wieder verstärkt der Kontrolle der KPV beugen müssen. Es ist anzunehmen, dass politische Entscheidungsträger nun häufiger öffentlich von der KPV für Fehlentscheidungen zur Rechenschaft gezogen werden. Jedoch bleibt abzuwarten, inwiefern die jüngsten Entwicklungen Schritte in Richtung transparenter und eventuell auch demokratischer Entscheidungsstrukturen der KPV darstellen oder letztendlich doch eher einer Legitimationsstärkung der KPV zur Lasten der allgemeinen politischen Gewaltenteilung in Vietnam dienen.