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Länderberichte

Die Wahlen in Sierra Leone vor dem Hintergrund geopolitischer Instabilität

von Dr. Stefanie Brinkel, Théodore Golli

Julius Maada Bio wurde am 24. Juni 2023 als Staatsoberhaupt von Sierra Leone wiedergewählt, um das Land mit knapp 9 Millionen Einwohnern durch stürmische Zeiten zu führen

Zum Hintergrund: Das ressourcenreiche, englischsprachige Land am Golf von Guinea wird in den kommenden zwei Jahren eines von zehn nichtständigen Mitgliedern im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen sein. Sierra Leone hat gemeinsame Grenzen mit Guinea und Liberia und entspricht der Fläche nach in etwa Bayern. Die Republik verfügt über bedeutende Bauxit-, Diamanten-, Eisenerz-, Titan- und Rutilvorkommen. Letztere machen einen Großteil der deutschen Importe aus Sierra Leone aus. Nach seiner Unabhängigkeit von Großbritannien im Jahr 1961 nahmen bald autoritäre Tendenzen zu, die in eine Einparteienherrschaft führte. Korruption, schlechte Regierungsführung, immer brutalere Repressionen und Vetternwirtschaft mündeten im Jahr 1991 in einen langjährigen Bürgerkrieg. Dieser Krieg hatte fast zwei Millionen Vertriebene zur Folge und forderte zwischen 100.000 und 200.000 Tote. Seit 2002, nachdem der Krieg offiziell für beendet erklärt wurde, ist das Land um einen Wiederaufbau bemüht. Es gehört jedoch bis heute zu den ärmsten Ländern der Welt. Damit ist nicht verwunderlich, dass Sierra Leone von den Schocks der Covid-19-Pandemie und des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine besonders schwer getroffen wurde. Die Folgen des Bürgerkrieges klingen weiter nach und auch der Ausbruch von Ebola 2014-2016 behinderte die wirtschaftliche Entwicklung nachhaltig. Die Bevölkerung leidet unter hoher Inflation (derzeit 43%) und wachsender Armut. Vor einem Jahr kam es als Folge zu gewaltsamen Unruhen, die Dutzende Menschen das Leben kosteten. Entsprechend gespannt war die Lage vor den Wahlen im Juni 2023.

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Die Wahlen im Blick

In den letzten 20 Jahren fanden vier Präsidentschaftswahlen statt. Jede für sich ist weitgehend friedlich verlaufen. Das ist für ein Land, das stark von Armut betroffen ist und mehr als zehn Jahre Bürgerkrieg hinter sich hat, sehr bemerkenswert. Das politische Leben in Sierra Leone wird seit mehr als 60 Jahren von den beiden großen Parteien „Sierra Leone People's Party“ (SLPP) und „All People's Congress“ (APC) dominiert, die sich an der Macht abwechseln. Zwar haben in den letzten 15 Jahren neue politische Gruppierungen an den Wahlen teilgenommen, ihr Einfluss bleibt jedoch gering.

Vor diesem Hintergrund wurden am 24. Juni 2023 zum fünften Mal seit dem Ende des Bürgerkrieges Wahlen abgehalten: Neben dem Präsidentenamt standen 493 Sitze für Kommunalvertreter und 135 Sitze für Parlamentarier zur Wahl. Für die Präsidentschaftswahl traten dreizehn Kandidaten aun, doch das Rennen wurde zwischen Amtsinhaber Julius Maada Bio (SLPP), der seine Wiederwahl für eine zweite und letzte fünfjährige Amtszeit gemäß der sierra-leonischen Verfassung anstrebte, und dem ehemaligen Außenminister Dr. Samura Kamara (APC) ausgetragen. Kamara, der bei der Präsidentschaftswahl im Jahr 2018 mit 48% der abgegebenen Stimmen im zweiten Wahlgang gescheitert war, trat jetzt mit einem Programm an, das die Wiederbelebung der Wirtschaft im Fokus hatte, aber auch gute Regierungsführung und Rechtsstaatlichkeit, Umweltschutz, Dezentralisierung und Investitionen in die marode Infrastruktur. Präsident Bio trat für die Fortsetzung seines Kurses ein und richtete seine Wahlversprechen vorrangig auf die Bereiche Gesundheit, Wirtschaft, Bildung, Korruptionsbekämpfung und Außenpolitik aus.

 

Neues Verhältniswahlrecht bei den Parlamentswahlen und Frauenquote

Der Oberste Gerichtshof hatte Ende Januar 2023 die Entscheidung der Wahlkommission gebilligt, bei den Parlamentswahlen das Verhältniswahlrecht einzuführen. Parteien müssen dabei mindestens 11,9% der Stimmen erhalten, um ins Parlament einzuziehen. Die Einführung des Verhältniswahlrechts wurde von der politischen Klasse, insbesondere der Opposition, im Wahlkampf kontrovers diskutiert, obwohl die Verfassung des Landes die Möglichkeit einer Änderung des Wahlmodus in Krisenzeiten vorsieht. Die Opposition zweifelt offen an der Rechtmäßigkeit. Ein Abgeordneter der Oppositionspartei APC reichte eine Klage gegen das Verhältniswahlrecht ein. Die Wahlkommission argumentierte hingegen, dass das bislang angewendete Mehrheitswahlrecht ohne eine Neueinteilung der Wahlkreise den Willen des Volkes nicht mehr angemessen widerspiegeln würde. Dieses Argument wird von der Regierungspartei unterstützt, die sich nach Ansicht einiger Analysten davon Vorteile versprach.

Eine weitere, wesentliche Reform dieser Wahl war die Einführung einer Frauenquote. Mindestens 30% der Parlamentsabgeordneten müssen Frauen sein. Diese Änderung basiert auf einem im Januar 2023 verabschiedete Gesetz zur Gleichstellung der Geschlechter und zur Stärkung der Rolle der Frau. Im Jahr 2022 lag der Anteil von weiblichen Abgeordneten im Parlament bei nur 13%.

 

Julius Maada Bio bleibt Präsident und die SLPP gewinnt die parlamentarische Mehrheit

Präsident Bio gewann deutlich vor seinem Herausforderer mit 56% zu 41% der Stimmen. Er nahm damit knapp die Hürde einer Mehrheit von mindestens 55%, um direkt im ersten Wahlgang zum Präsidenten gewählt zu werden. Die Wahlbeteiligung lag bei 83%.

Auch bei den Parlaments- und Kommunalwahlen räumte Bios SLPP ab: Sie gewann 60% der 135 Sitze im Parlament und ist damit mit 81 Sitzen vertreten. Der APC gewann 54 Sitze, d.h. 40%, und verlor seine parlamentarische Mehrheit. Die SLPP konnte in dem an Diamanten reichen Distrikt Kono und im oppositionellen Kernland im Norden und Westen, insbesondere in der Hauptstadt Freetown, zulegen. Der APC behielt jedoch mit 51% der Stimmen die Kontrolle über das wichtige Bürgermeisteramt von Freetown.

Wie hoch der Anteil von Frauen im Parlament sein wird, ist auf Basis der bislang veröffentlichten Daten noch nicht klar. Mit der ungewöhnlich hohen 11,9%-Hürde für den Einzug ins Parlament sitzen nunmehr ausschließlich Abgeordnete der beiden dominierenden Parteien, SLPP und APC im Abgeordnetenhaus, kleinere Parteien und unabhängige Kandidaten sind komplett außen vor. Die folgende Tabelle fasst die Wahlergebnisse der diesjährigen Parlamentswahl zusammen.

 

Tabelle: Ergebnisse der Parlamentswahlen 2023 in Sierra Leone

Region Distrikt Wahlergebnisse (%) Sitzverteilung
    APC NDA NGC PMDC SLPP

Unabhängige 

Kandidaten*

Andere

Parteien**

APC SLPP
Ost Kailahun 3,82       96,18     0 10
  Kenema 4,04       94,92 1,05   0 12
  Kono 25,88     8,00 59,96 5,86 0,29 3 7
Nord Bombali 91,64       6,75 1,61   8 0
  Falaba 42,90 2,57 3,07   50,75   0,72 2 2
  Koinadugu 62,53 0,93 1,72   30,27 4,01 0,53 3 1
  Tonkolili 80,41       13,06 6,53   9 1
Nord-West Kambia 56,36 2,27 7,18   34,19     4 2
  Karene 71,97       26,01 0,02 2,00 4 1
  Port Loko 59,42   1,42   35,88 3,26   6 4
Süd Bo 9,79     1,32 87,21 1,41 0,26 0 12
  Bonthe 4,83       95,17     0 5
  Moyamba 17,17   1,85 1,61 78,21 1,17   1 5
  Pujehun 4,40     2,17 93,43     0 7
West Urban 55,12   0,45   42,92 1,42 0,09 9 7
  Rural 52,34   0,52   45,25 1,55 0,34 5 5

 

NDA = National Democratic Alliance; NGC = National Grand Coalition; PMDC = People`s Movement for Democratic Change

* Die Darstellung erfolgt kumuliert. Insgesamt sind 32 unabhängige Kandidaten angetreten (Kenema: 2, Kono: 7, Bombali:   2, Koinadugu: 1, Tonkolili: 3, Karene: 1, Port Loko: 3, Bo: 4, Moyamba: 1, West Urban: 6, West Rural: 2).

** Dazu zählen: National Unity and Reconciliation Party, Republic National Independant Party, Revolutionary United Front Party, Peace and Liberation Party, People`s Democratic Party.

 

Unregelmäßigkeiten und Unzufriedenheit

Laut Beobachtern kam es in einigen Wahllokalen zu Zwischenfällen und Zusammenstößen zwischen SLPP- und APC-Anhängern, die sich gegenseitig des Wahlbetrugs bezichtigten. Auch wurde kritisiert, dass viele Bürger nicht über die Zusammenführung der Parlaments- und Kommunalwahlen sowie das neue Verhältniswahlrecht im Januar 2023 informiert gewesen seien. Bereits vor den Wahlen zweifelte der Herausforderer Kamara die Neutralität der Wahlkommission an und forderte sie auf, zurückzutreten. Als Begründung führte er an, dass das Wählerverzeichnis unzuverlässig und die Wählerkarten teilweise unvollständig beziehungsweise nicht lesbar seien. Zudem wurde nach den Wahlen von Gewalt berichtet. Am 25. und 26. Juni 2023 sollen Sicherheitskräfte APC-Anhänger mit Tränengas angegriffen haben und es sei gar mit scharfer Munition auf die Parteizentrale des APC geschossen worden. Während Kamara schilderte, direkt angegriffen worden zu sein, weil er eine Pressekonferenz über den Verlauf der Wahlen abhalten wollte, entgegnete die Regierung, sie habe vermeiden wollen, dass verzerrte, nicht offizielle Ergebnisse vorzeitig verkündet würden.

Nachdem Präsident Julius Maada Bio am 27. Juni 2023 von der Wahlkommission zum Sieger erklärt und umgehend neu vereidigt worden war, fordert die größte Oppositionspartei in Sierra Leone nun eine Wahlwiederholung innerhalb von sechs Monaten. Der APC beschuldigt die Wahlkommission der Wahlfälschung und erkennt die Ergebnisse der Präsidentschafts-, Parlaments- und Kommunalwahlen nicht an. In einer Erklärung forderte die Partei erneut den Rücktritt der Wahlkommission. Der APC weigert sich zudem, sich an irgendeiner Form des Regierens zu beteiligen, einschließlich auf Parlaments- und Kommunalebene. Ein Boykott bedeutet für den APC nicht nur seinen Einfluss im Parlament zu verlieren, sondern auch in vielen Kommunen, insbesondere in den Regionen Nord, Nord-West und West. Dies schließt die Städte Makeni, Port Loko und Freetown ein, in denen der APC die Bürgermeisterwahl gewonnen hat.

Während regionale Beobachter wie die Afrikanische Union und die ECOWAS die Wahlen als friedlich und frei beschrieben, haben andere Beobachter, darunter Deutschland, betont, dass es dem Auszählungsprozess an Transparenz mangele. Die Wahlbeobachtermission der Europäischen Union verwies darüber hinaus auf statistische Unstimmigkeiten und forderte die Wahlkommission in Sierra Leone auf, die Ergebnisse der einzelnen Wahllokale zu veröffentlichen.

 

Im zweiten Anlauf effektiver?

Auf den Straßen in Sierra Leone ist wieder Ruhe eingekehrt. Ob die alte, neue Regierung jetzt im zweiten Anlauf einen dringend notwendigen wirtschaftlichen Aufschwung gewährleisten und die Lebensbedingungen der Sierra-Leoner verbessern kann, ist jedoch offen. Dies ist aber für die Stabilität der krisengeplagten Republik essentiell. Zwar ist eine Verschärfung der Lage durch Spill-Over-Effekte aus der in unmittelbarer Nachbarschaft befindliche Sahelregion aktuell nicht zu erwarten. Wie sich der Ressourcenreichtum des Landes jedoch langfristig auf die dschihadistische Bedrohung in der Region und welche Auswirkungen der Rohstoffwettbewerb der rivalisierenden Großmächte auf Sierra Leone haben wird, ist derzeit kaum vorhersagbar.

Ebenso bleibt abzuwarten wie sich die internationale Gemeinschaft nach dieser von einigen Beobachtern durchaus als umstritten wahrgenommenen Wahl gegenüber Präsident Bio positioniert. Die Europäische Union ist drittgrößter internationaler Geber im Land – hinter der Weltbank und dem Internationalen Währungsfond.

Daneben ist China mit diversen Infrastrukturprojekten präsent, dazu zählen beispielsweise Staudämme und Straßen. Das Verhältnis zur Volksrepublik ist nach noch nicht realisierten Großprojekten im Rahmen von Pekings „Belt and Road“-Initiative ambivalent. Der Handel zwischen beiden Ländern hat aber in den vergangenen fünf Jahren deutlich zugenommen. Hauptexportprodukte aus Sierra Leone sind insbesondere Eisenerz und Holz. China exportiert vor allem Getreide in die westafrikanische Republik.

 

Im Ukrainekrieg auf Seiten des Westens

Weltweit sind nur wenige Länder so sehr von Nahrungsmittelimporten abhängig wie Sierra Leone. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine verdeutlicht diese Dependenz. Das konsequente Abstimmungsverhalten Sierra Leones mit Blick auf die Resolutionen der UN-Generalversammlung zur Verurteilung des Angriffs auf die Ukraine am 02. März 2022, am 07. April 2022 und am 12. Oktober 2022 ist deshalb ein mutiges Zeichen. Sierra Leone hat neben eigenen langjährigen und schmerzhaften Kriegserfahrungen auch ein intrinsisch hohes Interesse am Ende des Krieges, der die Lebensmittelpreise in die Höhe schnellen ließ. Präsident Bio fordert deshalb ein Ende des Krieges, in der Hoffnung, dass Frieden in Europa auch zu einem Mehr an Stabilität in Sierra Leone beiträgt.

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