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Essay

Der lange Weg zur Holocaust-Erinnerung

von Prof. Dr. Frank Bajohr

Ein Blick zurück

Seitdem die Generalversammlung der Vereinten Nationen 2005 den 27. Januar zum „Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust“ erklärte, wird dieser in vielen Ländern öffentlich begangen. Die Zeitgenossen des Holocaust taten sich mit der Erinnerung jedoch lange Zeit schwer und es bedurfte einer Jahrzehnte andauernden Entwicklung, ehe dieses beispiellose Verbrechen in das Zentrum einer globalen Erinnerungskultur rückte.

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Im Jahr 2005 erklärte die Generalversammlung der Vereinten Nationen den 27. Januar zum „Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust“. Dieser wird seitdem in vielen Ländern öffentlich begangen, auch in Deutschland, wo sich der Deutsche Bundestag und die Länderparlamente aus diesem Anlass regelmäßig zu einer Gedenkstunde versammeln. Schon 1996 hatte der damalige Bundespräsident Roman Herzog den 27. Januar zum „Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus“ erklärt.

Der 27. Januar besitzt im engeren Sinne keine überragende historische Bedeutung, nicht einmal für die Geschichte des Holocaust. Am 27. Januar 1945 hatten Einheiten der Roten Armee das zu diesem Zeitpunkt bereits weitgehend geräumte Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz erreicht, dort jedoch nur noch rund 7000 Häftlinge vorgefunden. Sie waren von der SS zurückgelassen worden, weil sie zu schwach und krank waren, um auf die brutalen „Evakuierungstransporte“ mitgenommen zu werden, mit denen das Gros der Häftlinge zuvor Richtung Westen getrieben worden war. Unter den letzteren befand sich der spätere Träger des Friedensnobelpreises, Elie Wiesel, der am 11. April 1945 schließlich ausgezehrt und entkräftet von amerikanischen Truppen im Konzentrationslager Buchenwald befreit wurde. Als er sich nach der Befreiung zum ersten Mal wieder im Spiegel betrachtete, erschrak er: „Aus dem Spiegel blickte mich ein Leichnam an. Sein Blick verlässt mich nicht mehr.“

Zu den in Auschwitz Zurückgelassenen zählte der Chemiker und spätere Schriftsteller Primo Levi, der mit Scharlach im Krankenbau lag und die Infektion in seinem geschwächten Gesamtzustand nur mit Glück überlebte. Elie Wiesel und Primo Levi haben nach 1945 in eindrucksvollen autobiographischen Zeugnissen vom Leid der Opfer, ihrer gezielten Entmenschlichung durch die Täter und vom Terror des Lageralltags Zeugnis abgelegt. Levi hatte bereits 1947 seinen autobiographischen Bericht Ist das ein Mensch? veröffentlicht. Zugleich forderte er ein ständiges Erinnern an das – wie er es nannte – „größte Verbrechen in der Geschichte der Menschheit“ ein. „Die Toten zu vergessen“, mahnte auch Elie Wiesel in seinem 1958 erschienenen Roman La Nuit, „würde bedeuten, sie ein zweites Mal umzubringen“.

 

Verzögerte Entwicklung der Holocaust-Erinnerung

Mit der Erinnerung taten sich jedoch die Zeitgenossen des Holocaust lange Zeit schwer. Es bedurfte vielmehr einer Jahrzehnte andauernden Entwicklung, ehe dieses präzedenzlose Verbrechen in das Zentrum einer globalen Erinnerungskultur rückte. Selbst die Holocaust-Überlebenden richteten nach 1945 eher den Blick nach vorn. So hatte der junge Staat Israel zwar schon 1951 den Gedenktag „Jom haScho’a“ eingeführt, doch stieß dieser anfänglich auf nur wenig Resonanz und nahm den Charakter eines nationalen Feiertags erst an, als die Knesset 1959 ein entsprechendes Gesetz verabschiedet hatte.

In den USA beschränkte sich die Erinnerung an den Holocaust nach 1945 lange Zeit auf die jüdischen Gemeinden, während in der breiten Öffentlichkeit ein patriotisches Erinnerungs-Narrativ dominierte, das den erfolgreichen Zusammenhalt der amerikanischen Nation im Zweiten Weltkrieg beschwor. Opfer des NS-Regimes spielten hingegen nur eine untergeordnete Rolle. Dies änderte sich in den 1970er Jahren, als der Holocaust zum Unterrichtsthema an amerikanischen Schulen avancierte und erste wissenschaftliche Konferenzen – wie im kalifornischen San José 1978 – dokumentierten, dass der Massenmord an den europäischen Juden auch zu einem wissenschaftlichen Forschungsfeld geworden war. Diesen Paradigmenwechsel verkörperte vor allem die 1978 vom damaligen Präsidenten Jimmy Carter eingerichtete „President’s Commission on the Holocaust“, geleitet von Elie Wiesel, die Empfehlungen für eine zukünftige angemessene Erinnerung an den Holocaust erarbeitete und unter anderem  die Gründung eines nationalen Museums anregte. Im selben Jahr 1978 strahlte das amerikanische Fernsehen die mehrteilige Serie Holocaust aus, die eine enorme Breitenwirkung entfaltete. In der amerikanischen Öffentlichkeit entwickelte sich der Holocaust schrittweise zu einem universalen moralischen Referenzpunkt, der das absolut Böse markierte und als Negation aller moralisch-ethischen Standards der Vereinigten Staaten angesehen wurde. Der Bericht der „President’s Commission“ bezeichnete den Holocaust als „Wasserscheide in den Annalen der Menschheit“, einerseits einzigartig als historisches Ereignis, andererseits universal in seinen Lektionen, als ultimative Warnung für zukünftige Generationen.

 

Unterschiedliche Formen der Erinnerung in West- und Osteuropa

Der Durchbruch einer spezifischen Holocaust-Erinnerung in den USA strahlte auch nach Deutschland und Europa aus, wenngleich mit charakteristischer zeitlicher Verzögerung. Zwar war die Fernsehserie Holocaust 1979 auch im bundesdeutschen Fernsehen gezeigt worden und stieß in der Öffentlichkeit auf große Resonanz. Seitdem hatte der Massenmord an den europäischen Juden einen Namen, der die Perspektive der Opfer nicht länger ausschloss. Er setzte sich im allgemeinen Sprachgebrauch weitgehend durch, während der Terminus „Endlösung“, ein Täter-Begriff, allmählich aus der Öffentlichkeit verschwand.

Dennoch kann von einem allgemeinen Durchbruch der Holocaust-Erinnerung in Deutschland und Europa erst seit den frühen 1990er Jahren gesprochen werden, befördert durch das Ende des Kalten Krieges und den schleichenden Generationenwandel, der eine zunehmend kritische biographische Distanz zur NS-Zeit ermöglichte.

In Osteuropa war eine spezifische Holocaust-Erinnerung bis 1989 durch das sowjetische Narrativ vom Sieg im Großen Vaterländischen Krieg weitgehend blockiert worden. Opfer kamen in dieser Perspektive kaum vor bzw. wurden in eine sozialistische Opfergemeinschaft eingereiht, in der die ermordeten Juden auf Denk- und Mahnmalen zumeist als „friedliche Sowjetbürger“ firmierten. Wer sich zum Sozialismus bekannte, trat automatisch auf die Seite der Sieger der Geschichte und konnte damit allen Fragen von Schuld und Verantwortung entgehen, die dem „Kapitalismus“ zugeschoben wurden. Auch deshalb kam ein Holocaust-Gedenken in der DDR nie über rudimentäre Ansätze hinaus. Vielmehr erstickte eine selbstgerechte, ritualisierte Erinnerung, die den finalen Sieg des Sozialismus beschwor, jede lebendige und (selbst-) kritische Auseinandersetzung mit der NS-Zeit.

Anders verhielt es sich in den pluralistischen Gesellschaften Westeuropas und der Bundesrepublik, die Fragen der historischen Verantwortung nicht dauerhaft ausweichen oder – wie in den USA – den Holocaust aus der größeren historischen Distanz zum Gegenstand universaler Botschaften machen konnten. Schließlich hatte der Holocaust in Europa stattgefunden und war ungleich enger mit der europäischen als mit der amerikanischen Geschichte verwoben. Der Deportation und Ermordung der europäischen Juden war vielfach deren gesellschaftliche Isolation und Ausplünderung vorausgegangen, die in der Rückschau unweigerlich kritische Fragen an das Verhalten der nichtjüdischen Bevölkerungsmehrheit aufwarf: Wer hatte mitgemacht, wer hatte von der Judenverfolgung profitiert, wer hatte einfach weggesehen und geschwiegen? Solche Fragen waren unbequem für viele nationale Geschichtsbilder, die sich in Europa nach 1945 herauskristallisiert hatten und in denen der Widerstand gegen die deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg oft einen herausragenden Stellenwert einnahm.  Dies war beispielsweise in Frankreich der Fall, wo der Mythos der Résistance die Kollaboration des Vichy- Regimes oder die Beteiligung der französischen Gendarmerie bei der Verhaftung und Deportation von Juden vergessen machte. Andere Länder pflegten einen Opfer-Mythos, wie zum Beispiel Österreich, das sich bis in die 1980er Jahre als „erstes Opfer des Nationalsozialismus“ begriff, die zahlreichen österreichischen Täter des Holocaust – von Adolf Eichmann bis Ernst Kaltenbrunner – aber lange ignorierte. Aus diesen Gründen setzte sich die Holocaust-Erinnerung in Europa - gemessen an den USA - mit zeitlicher Verzögerung durch.

 

„Wir haben nichts gewusst!“

Besonders prekär verlief dieser Weg naturgemäß in Deutschland, war doch der Holocaust zentral vom „Dritten Reich“ ausgegangen. „Die Judenvernichtung war ein deutsches Werk, ausgedacht in deutschen Amtsstuben, in einer deutschen Kultur“, umschrieb der wohl bekannteste Holocaustforscher Raul Hilberg die zentrale deutsche Verantwortung, ohne dabei die Anteile der durchaus zahlreichen nichtdeutschen Beteiligten zu verleugnen. Die Zahl der deutschen und österreichischen Täter, die mittel- und unmittelbar am Morden beteiligt gewesen waren, beziffert die historische Forschung heute auf 200.000 bis 250.000. Viele Täter entstammten nicht sozialen Randgruppen, sondern kamen aus der Mitte der Gesellschaft, nicht wenige aus „gutem Hause“, wenn man beispielsweise die hohe Zahl promovierter Juristen im Reichssicherheitshauptamt oder den Einsatzgruppen der SS und des SD näher in den Blick nimmt.

Angesichts der engen Verschränkung von NS-Herrschaft und deutscher Gesellschaft verwundert es nicht, dass ausweislich der internen Lageberichte des NS-Regimes die Judenverfolgung in den letzten Kriegsjahren in der deutschen Bevölkerung vielfach Bestrafungserwartungen und Vergeltungsängste ausgelöst hatte. Beim Einmarsch der Alliierten 1945 leugnete fast jeder, vom Holocaust überhaupt gewusst zu haben, und wenn nicht, dann rechnete er oft eigene Kriegstote und Opfer von Bombenkrieg und Vertreibung gegen die Opfer des Holocaust auf. Als im April 1945 amerikanische Soldaten rund tausend Einwohner der Stadt Weimar zwangen, das nahe gelegene Konzentrationslager Buchenwald zu besichtigen, konfrontierten sie diese auch mit jenen Leichenbergen, auf die sie bei der Befreiung des Lagers wenige Tage zuvor gestoßen waren. Entsetzt wandten sich die meisten Weimarer ab und bekundeten immer wieder ihr Nichtwissen um die Vorgänge im Lager. Die amerikanische Kriegsberichterstatterin Margaret Bourke-White beobachtete die Szenerie und berichtete später, dass sie die Worte „Wir haben nichts gewusst!“ so häufig vernommen habe, „dass sie uns wie eine deutsche National-Hymne vorkamen“.

 

Strafprozesse als Quelle der Erinnerungskultur

Wer von Verbrechen nichts gewusst hatte, konnte für diese auch nicht verantwortlich gemacht werden – dies war die wesentliche Funktion solcher Schutzbehauptungen am Ende des Krieges. In den Folgejahren forderten deshalb viele einen schnellen „Schlussstrich“ unter die NS-Vergangenheit und eine „Generalamnestie“ für Kriegsverbrecher und Massenmörder, die sich in alliiertem Gewahrsam befanden. Erinnern und Gedenken an den Holocaust beschränkte sich fast ausschließlich auf den Kreis von Überlebenden und die wenigen jüdischen Gemeinden. Frühe und zaghafte Ansätze einer Erinnerungskultur zeigten sich allenfalls am 9. November, dem „Tag der Schuld“, an dem sich auch nichtjüdische Deutsche zu Gedenkfeiern an den Novemberpogrom 1938 einfanden.

Wenn in Westdeutschland dennoch die Erinnerung an die NS-Verbrechen nie völlig aus der Öffentlichkeit verschwand, dann war dies vor allem der anhaltenden Strafverfolgung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen zu verdanken. Auch wenn sich die weitaus meisten Täter des Holocaust nie gerichtlich verantworten mussten, lenkten einzelne Strafprozesse immer wieder den Blick der Öffentlichkeit auf die begangenen Verbrechen. Zu den einschlägigen Prozessen zählten der sogenannte Einsatzgruppen-Prozess vor dem Landgericht Ulm 1958, der als erster bundesdeutscher Strafprozess die Massenverbrechen an Juden in Osteuropa in das grelle Licht der Öffentlichkeit rückte, vor allem jedoch der Frankfurter Auschwitz-Prozess von 1963–1965, der die Geschehnisse im größten deutschen Vernichtungslager dem Vergessen entriss. Die bis heute anhaltende Strafverfolgung von NS-Verbrechen hatte der Deutsche Bundestag ermöglicht, der in seinen teilweise eindrucksvollen „Verjährungsdebatten“ 1960, 1965, 1969 und 1979 schließlich entschied, die Strafverfolgung von Mord und Völkermord nicht enden zu lassen.

 

„Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“

In der zweiten Verjährungsdebatte 1965 hatte der CDU-Abgeordnete Ernst Benda, der spätere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, in einer eindrucksvollen Rede den Spruchfries der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem zitiert: „Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“ Damit bezeichnete er die Erinnerung an die NS-Verbrechen als dauerhafte, erinnerungskulturelle Aufgabe der Deutschen. Dies war eine bemerkenswerte Forderung in einer Zeit, in der immer noch der Begriff der „Vergangenheitsbewältigung“ dominierte – und damit die Vorstellung, die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit mit einer letzten Kraftanstrengung abschließen und beenden zu können. In der Verjährungsdebatte 1979 verwies der ehemalige Hamburger CDU-Landesvorsitzende Erik Blumenfeld, der einzige Auschwitz-Überlebende des Deutschen Bundestages, zum ersten Mal in seiner Zeit als Abgeordneter auf seine Verfolgungserfahrungen in der NS-Zeit: „Meine Damen und Herren, ich sage das als einer der wenigen, die heute noch diesem Hause angehören und die NS-Zeit als Verfolgte überlebt haben, [...] als einer, der das Inferno Auschwitz durch Glück und Zufall überlebt hat. Deswegen kann ich auch nicht anders, als hier eine sehr klare Position zu beziehen.“ Blumenfelds öffentliche Selbstpositionierung als Auschwitz-Überlebender fiel in eine Zeit, in der sich nach langem Schweigen die NS-Opfer verstärkt öffentlich zu Wort meldeten und damit dem Begriff des „Zeitzeugen“ einen neuen Inhalt gaben: Bis in die 1970er Jahre wurden darunter die Zeitgenossen des „Dritten Reiches“ verstanden, danach waren es vor allem ehemalige NS-Verfolgte, die als Zeitzeugen begriffen wurden und öffentlich immer häufiger über ihre Verfolgungserfahrungen berichteten: in Fernseh-Dokumentationen, Vorträgen, Diskussionsrunden, vor allem auch in Schulen.

Ernst Benda und Erik Blumenfeld galten in der NS-Zeit gemäß der herrschenden nationalsozialistischen Rassedoktrin als „jüdische Mischlinge“. Sie gehören zu den heute eher vergessenen christdemokratischen Pionieren der Erinnerungskultur, die sich in ihrer heutigen Gestalt in Deutschland und (West-)Europa vor allem in den 1990er Jahren ausprägte, vorangetrieben durch die jüngeren Nachkriegsgenerationen, denen biographische Befangenheiten fremd waren. Zugleich wurde die Holocaust-Erinnerung in Europa – ähnlich wie in den USA – durch die zunehmende Komplexität moderner Gesellschaften und einen Wertewandel gefördert, der verstärkt nach einem moralischen Fixpunkt verlangte, der das im negativen Sinne Menschenmögliche markierte. Bis Anfang der 1990er Jahre stieß jedoch die Erinnerung an den Holocaust immer noch auf Skepsis, auch in der CDU, in der beispielsweise Bundeskanzler Helmut Kohl noch in den 1980er Jahren befürchtete, dass der Bau des US Holocaust Memorial Museums in Washington das deutsche Ansehen in den USA nachhaltig beschädigen und zur Gleichsetzung von „deutsch“ und „Holocaust“ führen könne.

Solche Befürchtungen haben sich als unbegründet erwiesen, im Gegenteil hat nichts so sehr zum deutschen Ansehen in der Welt beigetragen wie die zahlreichen Bemühungen um eine kritische Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, wie sie vor allem das letzte Vierteljahrhundert bestimmt haben. Sie werden auch deshalb international besonders wahrgenommen, weil sie in vergleichender Perspektive überhaupt nicht selbstverständlich sind. Dies zeigt der Umgang mit dem Genozid an den Armeniern oder den japanischen Kriegsverbrechen in China, die weder in der Türkei noch in Japan eine vergleichbare Erinnerungskultur hervorgebracht haben.

 

Erinnerung hat Zukunft

Dennoch besteht aus heutiger Sicht kein Anlass, sich selbstzufrieden zurückzulehnen. Jüngste Meinungsumfragen haben offenbart, dass in der Bevölkerung diffuse Ahnungen über den Holocaust weitaus stärker verbreitet sind als ein profundes Wissen. An der Hälfte der deutschen Universitäten finden mangels wissenschaftlicher Expertise nie Lehrveranstaltungen über den Holocaust statt, die sich zumeist auf die größeren deutschen Universitäten konzentrieren. Dies ist vor allem für Lehramts-Studierende misslich, die ausweislich der Lehrpläne aller 16 Bundesländer über den Holocaust unterrichten sollen, wegen des fehlenden Angebots aber oft keine Möglichkeiten haben, eine entsprechende Lehrveranstaltung oder ein Fortbildungsseminar zu besuchen. Werden solche angeboten, sind diese oft überlaufen.

Forschende und Lehrende über den Holocaust werden immer wieder mit der Frage konfrontiert, ob dieser nicht „ausgeforscht“ und das Thema nicht genügend abgehandelt sei, was oft auf verborgene Wünsche nach einem „Schlussstrich“ verweist. Entgegen vieler Annahmen, die NS-Zeit habe den heute Lebenden kaum noch etwas zu sagen, formulieren vor allem Schüler und Studierende aus der Perspektive der Gegenwart ständig neue Fragen an die Vergangenheit, die durch aktuelle Themen bestimmt sind. Hält man sich beispielsweise vor Augen, dass die radikale Dämonisierung von Juden im Holocaust nicht auf einem realen Konflikt, sondern auf ideologischen Projektionen und Verschwörungstheorien basierte, dann werden Entwicklungen der Gegenwart wie ein Menetekel wahrgenommen, wie zum Beispiel scharfe Freund-Feind-Polarisierungen in der politischen Kultur, grassierende Vorstellungen einer internationalen Konspiration,  die Vernebelung von Wahrheit und Realität durch sogenannte „alternative Fakten“ oder der verstärkt um sich greifende Antisemitismus. Auch die weltweite Flüchtlingskrise, die immer wieder zu Vergleichen mit der jüdischen Flüchtlingskrise am Vorabend des Holocaust herausfordert und der migrantischen Bevölkerung in Deutschland einen besonderen Zugang zum Thema ermöglicht,  ruft vor allem unter jungen Leuten neue Fragen an die NS-Zeit hervor, die vor zwanzig Jahren in dieser Form nicht gestellt worden wären. Von daher besitzt der Satz „Erinnerung hat Zukunft“ unverändert seine Gültigkeit.

 

Frank Bajohr ist wissenschaftlicher Leiter des Zentrums für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte in München und Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

 

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