Länderberichte
In der Nacht vom 11. auf den 12. Juni brachen in der Stadt Osch wieder schwere Unruhen aus, bei denen bislang über 100 Menschen getötet und weit über 1000 verletzt wurden. Ursache für den Gewaltausbruch sind ethnische Konflikte zwischen Kirgisen und der usbekischen Minderheit. 15 Prozent der Bevölkerung Kirgistans sind ethnische Usbeken, in der Region Osch, dicht an der Grenze zu Usbekistan, machen sie nahezu 50 Prozent aus.
Die Situation eskalierte extrem schnell, ganze Straßenzüge sind inzwischen ausgebrannt, Geschäfte werden geplündert, Usbeken gezielt verfolgt. Kirgisische Jugendbanden sind die Hauptakteure, sie sorgen für die meiste Zerstörung. Tausende Usbeken sind inzwischen über die Grenze nach Usbekistan geflohen. Die usbekischen Behörden lassen jedoch noch nicht alle Flüchtlinge passieren. Insgesamt sind zehntausende Usbeken auf der Flucht.
Die kirgisische Polizei scheint nicht in der Lage zu sein, die Ausschreitungen zu beenden, auch die Teilmobilisierung der kirgisischen Armee brachte keine Entspannung. Die verhängte Ausgangssperre wird nicht befolgt, die provisorische Regierung hat die Situation nicht unter Kontrolle. Zwar scheint sich die Lage in Osch ein wenig beruhigt zu haben, dafür verschlimmert sie sich in Dschalal Abad. Augenzeugen berichten von regelrechten Hinrichtungen ethnischer Usbeken, Ärzte, die Verletzte bergen und versorgen wollen, werden angegriffen und ebenfalls verletzt. Die Interimsregierung verdächtigt den geschassten Ex-Präsidenten Bakijew und seine Anhänger, die Unruhen angezettelt zu haben.
Die Nachbarstaaten Kirgistans sind zutiefst über die dortige Lage besorgt. Das usbekische Außenministerium äußerte sich betroffen, verurteilte die Gewalt gegen die usbekische Minderheit, versicherte aber sein Vertrauen in die kirgisische Interimsregierung. Die Usbeken versuchen, damit die Lage zu beruhigen, wirkliches Vertrauen in die provisorische Regierung des Nachbarlandes haben sie nicht. Usbekistan verstärkte seine militärische Präsenz an der kirgisischen Grenze deutlich.
Die Region Osch befindet sich im Fergana-Tal, einer fruchtbaren Hochebene, auf der die Staatsgebiete von Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan zusammentreffen. Die Grenzführung dort ist kompliziert, es gibt Enklaven und ethnische Minderheiten. Diese Konstellation geht auf die Stalin-Ära zurück, in der Mittelasien, das zuvor von Stammesstrukturen geprägt war, relativ willkürlich und ohne die vorhandenen Gebietsaufteilungen zu berücksichtigen, in fünf „Sozialistische Sowjetrepubliken“ aufgeteilt wurde. Während der Sowjetzeit konnten ethnische Spannungen nach dem Prinzip „Zuckerbrot und Peitsche“ ausgeglichen werden. Aber bereits 1990 kam es in Osch zu Pogromen gegen die usbekische Minderheit. Beim so genannten Osch-Massaker, das durch Streitigkeiten bei der Landverteilung ausgelöst wurde, kamen damals über 300 Menschen ums Leben, mehr als 1000 wurden verletzt. Die Ausschreitungen wurden erst durch sowjetische Truppen beendet, die der damalige sowjetische Präsident Gorbatschow entsandte.
Als die Sowjetunion Anfang der 90er endgültig zerbrach und die fünf zentralasiatischen Staaten Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan unabhängig wurden, fehlte es ihnen an einer eigenen Identität. Das führte dazu, dass in allen Ländern ein mehr oder weniger starker Patriotismus entstand, der von den jeweiligen Regierungen gepflegt wurde. Die Nationalsprachen wurden gegenüber dem Russischen, das alle Länder – sozusagen als Lingua franca – verband, stark gefördert. Viele Angehörige von Minderheiten wanderten daraufhin in den 90er Jahren in ihre Herkunftsländer zurück. Besonders in den Grenzregionen blieben jedoch Minderheiten, so auch im kirgisischen Teil des Fergana-Tals. Das Fergana-Tal gilt als Unruheherd. Hier lebt eine weitgehend sehr arme Landbevölkerung, die auf Agrarwirtschaft angewiesen ist. Traditionell ist der Islam hier besonders stark, aus dem Fergana-Tal kommt auch die islamistische Gruppierung „Islamische Bewegung Usbekistans“, die in ihrer Radikalität Al-Kaida und den Taliban in nichts nachsteht und momentan aus dem afghanischen und pakistanischen Exil agiert.
Die erneuten Unruhen könnten das für den 27. Juni 2010 geplante Verfassungsreferendum gefährden. Die neue Verfassung soll Kirgistan in eine repräsentative Demokratie verwandeln, die Macht, die sich aus dem Präsidentenamt ergibt, würde deutlich beschnitten werden – ein Novum in der postsowjetischen Geschichte der zentralasiatischen Republiken. Parlamentswahlen sind für Oktober 2010 geplant. Die jetzige Übergangspräsidentin, Rosa Otunbajewa, würde nach dem Verfassungsreferendum noch 18 Monate amtieren und dann in den politischen Ruhestand wechseln. Sie scheint derzeit die einzige moralische Autorität zu sein, die das Land noch hat. Wie besorgniserregend die Lage derzeit aber ist, zeigt Rosa Otunbajewas Bitte an Russland, Blauhelm-Soldaten nach Kirgistan zu entsenden. Präsident Medwedjew lehnt das bislang noch ab, denn Russland kann dabei nur verlieren. Medwedjews Sprecherin, Natalja Timakowa, bezeichnete die schweren Unruhen im Fergana-Tal als „innere Angelegenheit“ Kirgistans. Sollte die kirgisische Übergangsregierung aber die Lage nicht in den Griff bekommen, droht der gesamten Region ein Flächenbrand. Dann dürfte der Druck auf Dimitri Medwedjew zunehmen. Nikolai Patruschew, russischer Vertreter im Rat für kollektive Sicherheit der GUS (ODKB), der zur Zeit pausenlos tagt, spricht von einer „äußerst schwierigen Situation“.