Länderberichte
Nach der Auszählung nahezu aller Stimmzettel hat die Partei Ata-Dschurt („Vaterland“), die zum Teil aus ehemaligen Mitstreitern des Ex-Präsidenten Kurmanbek Bakijew besteht, die meisten Stimmen erhalten, etwa 8,7 %. Auf einen sehr intensiven, von einigen Parteien auch aggressiv geführten Wahlkampf folgte ein relativ ruhiger Wahltag. Auch in den Gebieten um die Städte Osch und Dschalal Abad, in denen im Juni bei blutigen ethnischen Auseinandersetzungen hunderte Menschen getötet wurden, blieb es weitgehend friedlich.
Der Wahlkampf für die Parlamentswahl begann offiziell am 10. September und prägte sofort das Leben in allen Landesteilen. 29 Parteien warben auf unzähligen Plakaten, in Presse und Fernsehen um die Gunst der knapp 2,8 Millionen Wahlberechtigten. Die 29 zugelassenen Parteien führten auf ihren Wahllisten insgesamt 3351 Kandidaten, die als Abgeordnete ins kirgisische Parlament einziehen wollten. Das kirgisische Wahlrecht enthält zwei Hürden, die die Parteien überwinden müssen: Eine 5%- und eine 0,5%-Hürde. Landesweit müssen mindestens 5 % aller Stimmen gewonnen werden und zusätzlich in jedem Wahlbezirk mindestens 0,5 % aller Stimmen. Dies ist nur fünf Parteien gelungen: Ata-Dschurt (8,7 %), SDPK (8,1 %), Ar-Namys (7,5 %), Respublika (7,1 %) und Ata-Meken (5,8 %) . Die Partei Ata-Dschurt hat offenbar einen Großteil ihrer Stimmen in den südlichen Wahlbezirken Kirgistans erhalten, also in Ex-Präsident Bakijews Stammregion, in der er immer noch viele Anhänger hat, die ihn sich als Präsidenten zurückwünschen. In Bischkek hingegen bewältigte sie die 0,5 %-Hürde nur knapp mit 0,7 % der Stimmen. Die Wahlbeteiligung lag bei ca. 56 %.
Insgesamt wurden der Ablauf des Wahlkampfs und die Wahlvorbereitungen unterschiedlich bewertet. Während die OSZE von weitgehend transparenten und ordnungsgemäßen Abläufen berichtete, gab es einige Nichtregierungsorganisationen sowie mehrere kirgisische Oppositionsparteien, die den Parteien, die der Übergangsregierung nahe stehen (dazu gehören die SDPK, Ata-Meken, Ak Schumkar und BEK) Wahlfälschung vorwarfen. So sollen die regierungsnahen Parteien im Wahlkampf auf administrative Ressourcen zurückgegriffen haben, außerdem sollen bei der Überarbeitung der Wählerlisten fiktive Wähler hinzugefügt worden sein, deren Stimmzettel dann später zugunsten der regierungsnahen Parteien gefälscht werden könnten. Insgesamt habe die Regierung bestimmte Parteien im Wahlkampf illegal unterstützt. Ob diese Vorwürfe berechtigt sind, ist schwer einzuschätzen. Es gab nur wenige unabhängige Wahlbeobachter im Land, auch die OSZE konnte nur stichprobenartig prüfen. Bereits jetzt sind bei der Zentralen Wahlkommission mündliche und schriftliche Beschwerden eingegangen, besonders viele betreffen die Organisation der Wahl im Bezirk Osch. Inzwischen sind auch Hinweise auf den Kauf von Stimmen durch einige Parteien aufgetaucht, wie ein Mitglied der Wahlkommission der kirgisischen Nachrichtenagentur 24.kg mitteilte. Falls die Stimmenkäufe tatsächlich stattgefunden haben sollten, sei das jedoch in einem so geringen Umfang passiert, dass es keinen Einfluss auf den Ausgang der Wahl gehabt haben könne. Auch diese Vorwürfe basieren zum jetzigen Zeitpunkt nur auf Indizien, können jedoch auch nicht völlig von der Hand gewiesen werden. In vielen der zur Wahl angetretenen Parteien sind Mitglieder der ehemaligen Bakijew-Administration vertreten, welche erwiesenermaßen die verschiedensten Techniken der Wahlfälschung beherrschte. Immerhin hat sich die Befürchtung, durch die Wahlen könnten islamistische Kräfte Macht erlangen, als unberechtigt herausgestellt. Bisher ist es auch noch keiner islamistischen Organisation gelungen, die instabile Lage in Kirgistan für Anschläge zu nutzen.
Die Parteien im neuen Parlament
Das neue kirgisische Parlament wird also aus fünf Parteien bestehen, die sich die 120 Sitze teilen. Stärkste Kraft ist die bakijewnahe Oppositionspartei Ata-Dschurt, deren Kandidaten und Anhänger vor allem aus dem Süden des Landes stammen. Während des Wahlkampfes beschwor die Partei immer wieder eine „kirgisische Leitkultur“, der sich alle Minderheiten anzupassen hätten und spielte mit nationalistischen Ressentiments. Andere Parteien kritisierten dieses Vorgehen, da es eine Spaltung des Landes in Nord und Süd vorantreiben würde. Besonders im Süden Kirgistans treten Ausländerhass und Nationalismus immer stärker zu Tage, die teilweise extrem arme Bevölkerung flüchtet sich zunehmend in aggressiven Patriotismus, die ethnische Feindschaft mit der usbekischen Minderheit wird offen ausgelebt. Ata-Dschurt wird nicht nur die Nähe zur Familie Bakijews vorgeworfen, sondern auch Kontakte zum organisierten Verbrechen.
Die SDPK (Sozialdemokratische Partei Kirgistans), die zweitstärkste Kraft wurde, ist eine regierungsnahe Partei. Einige ihrer Mitglieder waren bzw. sind an der Übergangsregierung beteiligt, sie gehört zu den Parteien, denen man vorwirft, ebendiese Verbindungen zum kirgisischen Staatsapparat für den Wahlkampf missbraucht zu haben. Parteichef Atambajew kann auf eine lange Karriere in der kirgisischen Politik zurückblicken, er hatte unter Akajew, vor allem aber unter Bakijew hohe Ämter inne. Im April 2010 wurde er stellvertretender Regierungschef der provisorischen Übergangsregierung.
Eine interessante Partei ist Ar-Namys („Würde“), deren Spitzenkandidat der langjährige Oppositionspolitiker Felix Kulow ist. Kulow gehörte in den 90er Jahren zu den Weggefährten des Ex-Präsidenten Askar Akajew, ging jedoch in die Opposition, als dieser einen immer rücksichtsloseren und autoritäreren Herrschaftsstil pflegte. 2001 wurde er wegen angeblichen Amtsmissbrauchs zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, kam aber 2005, nach dem Sturz Akajews, wieder frei und verbündete sich mit dem neuen Präsidenten Bakijew. 2007 trat er als Premierminister zurück und begab sich erneut in die Opposition. Nach dem Sturz Bakijews im Frühjahr 2010 wurde er Mitglied der Übergangsregierung und kandidierte nun fürs Parlament. Kulow gilt als sowjetisch geprägter Realpolitiker, der eine Annäherung Kirgistans an Russland propagiert. Er sympathisiert mit der russischen Regierungspartei Einiges Russland und dürfte das kirgisische Parlament entscheidend prägen.
Die Partei Respublika gilt als zentralistisch, sie ist weder regierungsnah noch gehört sie zur Radikal-Opposition. Parteichef Babanow ist mit Ölgeschäften reich geworden, diese Wahl ist sein Politik-Debüt. Respublika vermied es während des Wahlkampfes, die Nationalismus-Karte zu spielen, um die Südkirgisen für sich zu gewinnen und lobte stattdessen die kulturelle und ethnische Vielfalt Kirgistans. Wie zum Beweis stellte Babanow einen afrikanisch-kirgisischen Kickbox-Champion als Kandidaten auf. Die Partei richtete ihre Kampagne offen an die kirgisischen Jungwähler.
Die sozialistische Partei Ata-Meken (ebenfalls „Vaterland“) ist, wie die SDPK, eine regierungsnahe Partei. Parteichef Tekebajew ist ein Weggefährte Felix Kulows und war sowohl während der Akajew- als auch während der Bakijew-Zeit ein führender Oppositionspolitiker. In der provisorischen Übergangsregierung war er Verfassungsreformsekretär. Ata-Meken galt als Favorit für die Parlamentswahl, da ihr Parteichef noch zu den glaubwürdigeren Politikern zählt.
Insgesamt war es wohl nicht weiter verwunderlich, dass bei 29 Parteien, von denen kaum eine etabliert war, die stärkste Partei weniger als 9 % der Stimmen erhielt. Auch in dieser Hinsicht kann die Wahl als gewagtes Experiment gelten. Niemand kann sagen, inwieweit sich die Abgeordneten im Parlament nun ihren Wahlversprechen oder ihrem Gewissen verpflichtet fühlen. Diese Zweifel werden noch dadurch verstärkt, dass kaum einer der 29 Parteien keine kriminellen Machenschaften bzw. dubiose Geldquellen nachgesagt werden.
Vermutlich stehen Kirgistan nun umfangreiche Koalitionsverhandlungen bevor, denn selbst die beiden stärksten Parteien hätten zusammen keine absolute Mehrheit. Nun wird sich zeigen, wofür die Parteien wirklich stehen. Ist ihre demokratische Gesinnung stark genug, auch die Rolle der Opposition im Parlament wahrzunehmen oder werden sie ihre Programme über Bord werfen, um an der Regierung beteiligt zu werden? Interessant ist, dass die Partei die meisten Stimmen erhielt, die eher nicht für demokratischen Wandel, sondern für eine „durchgreifende“ Politik steht. Offenbar hat die „Mehrheit“, knapp 9 % der kirgisischen Wähler, nach wie vor Interesse an einer straffen und starken Führung. Obwohl es den Menschen teilweise sehr schlecht geht, haben nicht die linken Parteien die Wahl für sich entscheiden können. Immerhin muss man jedoch festhalten, dass das Ergebnis dieser Wahlen, im Gegensatz zu den bisherigen, tatsächlich nicht vorhersehbar war.
Die Chancen einer kirgisischen Demokratie
In den neunziger Jahren galt Kirgistan lange Zeit als demokratisches Musterland in der Region und die „Schweiz Zentralasiens“. In der Realität verlor Kirgistan den Anspruch auf diesen Titel aber schnell. Auch der gewaltsame Wechsel von Präsident Akajew zu Präsident Bakijew 2005 brachte keine Besserung, der neue Diktator war sogar noch schlimmer als der alte. Im Laufe der Jahre wirtschafteten beide das Land gründlich herunter. Das BIP sank stetig, die Erträge aus Rohstoffexporten landeten vor allem bei den Familien der Machthaber und ihren Günstlingen. Das Leben der Menschen wurde von Korruption und Claninteressen bestimmt. Nach den Unruhen im April und vor allem im Juni 2010 steht Kirgistan vor einem Trümmerhaufen. Die Ausgangslage für die Einführung demokratischer Strukturen könnte kaum schlechter sein. Den Menschen geht es schlecht, es fehlt nicht nur an Arbeitsplätzen und Wirtschaftswachstum, es fehlt am Nötigsten. Viele Menschen leben von der Hand in den Mund, haben kein richtiges Dach über dem Kopf, keinen regelmäßigen Zugang zu sauberem Wasser, zu Elektrizität, zu Bildung. Seit dem Ausbruch der ethnischen Spannungen zwischen ethnischen Kirgisen und der großen Minderheit der ethnischen Usbeken im Juni sind die Fronten endgültig verhärtet. Gab es vorher zumindest den Anschein, dass die verschiedenen Bevölkerungsgruppen friedlich miteinander leben könnten, tritt der Hass jetzt offen zu Tage. Immer wieder kommt es zu kleineren Auseinandersetzungen, kirgisische Polizisten und Beamte diskriminieren und schikanieren ethnische Usbeken. Beide Gruppen fühlen sich als Opfer, die jeweils anderen sind für alles Schlechte verantwortlich. Die Chancen auf Versöhnung gehen momentan gen Null.
Als die Menschen im Juni das Referendum für die neue Verfassung annahmen, wollten sie vor allem eines: Ruhe und eine Verbesserung ihrer Lage. Sie erwarten von der neuen Regierung ebenso wie vom neuen Parlament, dass sich ihre Lebensverhältnisse verbessern und dass sie Arbeit finden. Auf möglicherweise langatmige Debatten, parlamentarische Kompromisse und darauf, dass sich in einer Demokratie eben auch die Bevölkerung beteiligen muss, sind wohl die wenigsten vorbereitet. Die Einführung einer Demokratie in einem Land, dessen politisches Bewusstsein immer noch von der Sowjetzeit und autoritär herrschenden Clans geprägt ist, ist sicherlich ein ehrenwerter, aber eben auch ein sehr gewagter Schritt. Vielleicht kann sich das neue Regierungssystem gegen Angriffe alter, autoritärer Granden und gegen die aus Armut resultierende Ungeduld der Bevölkerung behaupten. Doch die ersten Prüfungen sind hart. Im Parlament werden viele Abgeordnete sitzen, die sich für eine Rückkehr zum Präsidialsystem einsetzen werden. Außerdem steht ein langer Winter, der in Kirgistan mit Temperaturen von bis zu -20 Grad Celsius aufwarten kann, unmittelbar bevor. In Osch und Dschalal Abad ist immer noch ein Großteil der Häuser zerstört, der Wiederaufbau schleppt sich dahin. Viele Menschen haben noch kein eigenes Dach über dem Kopf. Auch die Versorgung mit Lebensmitteln und Energie ist noch problematisch. Ebenso müssen die neuen Machthaber versuchen, den Spannungen zwischen den Ethnien, dem sich verbreitenden Ausländerhass entgegenzuwirken, bevor die Kirgisen und Usbeken erneut aneinander geraten.
Falls keine spürbaren Veränderungen eintreten, könnte sich der Volkszorn wieder gewaltsam gegen Regierung und Parlament entladen. Auch die Spaltung zwischen Nord- und Südkirgistan muss aufgehalten werden. Das Land vertrüge keine weitere Unruhe, es braucht Stabilität, innere Sicherheit, Kontinuität. Sollte es erneut zu Ausschreitungen kommen, ist zum Beispiel fraglich, ob und von wem sich Sicherheitskräfte und Militär dann lenken ließen. Der erste Bewährungszeitraum für die neue Demokratie ist der Winter. Wenn Regierung und Parlament auch im nächsten Frühjahr noch bestehen, wäre ein großer erster Schritt getan.