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Syrische Flüchtlinge in Jordanien

Push- und Pull-Faktoren im Hinblick auf den Zustrom syrischer Flüchtlinge nach Deutschland

Fünf Jahre nach Kriegsbeginn ist eine politische oder diplomatische Lösung des Konflikts in Syrien weiterhin nicht in Sicht. Mehr als 4.086.760 Menschen haben das Land bis jetzt verlassen. Der sich immer mehr zu einem regionalen Flächenbrand entwickelnde Konflikt treibt weitere aus dem Land. Die wichtigsten Erstaufnahmestaaten sind Jordanien, der Libanon, die Türkei sowie der Irak und auch Ägypten.

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Schon heute ist weltweit einer von fünf Flüchtlingen Syrer und diese Zahl wird weiter steigen, solange es keine von allen Konfliktparteien akzeptierte, nachhaltige Friedenslösung gibt. Jordanien, das seit dem Beginn des Konflikts in Syrien eine großzügige Haltung im Hinblick auf die Aufnahme syrischer Flüchtlinge gezeigt hat, hat mittlerweile restriktive administrative Maßnahmen beschlossen, um den stark schwankenden Zustrom an Flüchtlingen zu beschränken.

Seit dem Frühjahr 2014 kommen immer weniger Flüchtlinge ins Land, was auch darauf zurückzuführen ist, dass die Grenze praktisch geschlossen ist. Die Hilfsprogramme der Vereinten Nationen sind chronisch unterfinanziert - Geld fehlt an allen Ecken und Enden. Weitere angekündigte Kürzungen der humanitären Hilfe stellen die Versorgung der syrischen Flüchtlinge ernsthaft in Frage. Gleichzeitig führen das Fehlen einer langfristigen Perspektive und die schwindende Hoffnung auf ein baldiges Ende des Konflikts in Syrien zu wachsender Verzweiflung unter den Flüchtlingen. Eine immer größere Zahl von Syrern sieht sich daher zu drastischen Entscheidungen gezwungen. Ohne Zukunft in Jordanien, sehen sie sich gezwungen zwischen einer Rückkehr in ihre vom Krieg zerstörten Heimat und der Hoffnung auf ein neues Leben im fernen Europa zu entscheiden.

Besonders die extrem Armen und Schutzbedürftigen beginnen trotz der enormen Sicherheitsrisiken nach Syrien zurückzukehren. Diejenigen, die die wirtschaftlichen Möglichkeiten haben oder sich Geld von Verwandten oder Freunden leihen können, machen sich auf den Weg nach Europa. Zunehmende Armut und Chancenlosigkeit, zusammen mit den stark gekürzten Hilfsleistungen treiben sie aus dem Land.

Wer die Ressourcen hat oder Geld von Verwandten oder Freunden leihen kann, macht sich auf den Weg nach Europa. Die massiven Kürzungen der humanitären Hilfe in Jordanien können hier als letzter Push-Faktor im Hinblick auf den Reiseantritt wirken.

Europa und besonders Deutschland, werden in der Region als „sicherer Hafen“ und Chance auf ein besseres Leben wahrgenommen. Die aktuellen Berichte und Bilder aus Deutschland, die sich dank der sozialen Medien auch hier rasend schnell verbreiten, steigern die Deutschlandeuphorie unter den Flüchtlingen. Die neue deutsche „Willkommenskultur“ hat große Hoffnungen geweckt und wirkt als weiterer Pull-Faktor für diejenigen Syrer, die ohnehin aus Jordanien wegwollen. Ein weiterer Pull-Faktor ist ohne Zweifel die - schon jetzt - große syrische Gemeinde in Deutschland. Aber auch Gerüchte, die Flüchtlingen ein Willkommensgeld von 1000 Euro in Aussicht stellen, wie sie unter anderem von der libanesischen Zeitung As-Safir verbreitet wurden, befeuern den Wunsch, die Flucht in die Bundesrepublik zu schaffen.

Ende September 2015 zählte der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) 629.034 registrierte Flüchtlinge in Jordanien, von denen 82,5% außerhalb der Flüchtlingslager und 17,5 % in Lagern lebten. Größenordnungen wie diese stellen selbst wirtschaftlich starke Länder wie Deutschland vor große Herausforderungen. Wirtschaftlich schwächere Länder wie Jordanien können einen Zustrom von Flüchtlingen wie diesen aus eigenen Mitteln nicht bewältigen.

Jordanien ist aus diesem Grund stark abhängig von Hilfsgeldern der internationalen Gemeinschaft. Diese fließen jedoch nur schleppend, und die finanzielle Situation ist nicht gesichert. Die Lebensbedingungen der Flüchtlinge verschlechtern sich dramatisch - extreme Armut ist weit verbreitet. Auf einem Treffe der „Jordan Response Platform for the Syria Crisis” warnte der jordanische Premierminister Abdullah Ensour daher, dass “der chronische Mangel an Hilfsgeldern die Umsetzung wichtiger Projekte zur Unterstützung der syrischen Flüchtlinge und der einheimischen Bevölkerung verhindert”.

Die Flüchtlingslager sind überfüllt, und provisorische Zeltlager “informal tented settlements“ (ITS) werden überall im Land errichtet. Dort mangelt es meist an Allem: Wasser, Nahrung, die Gesundheitsfürsorge und der Zugang zu Bildung sind meist nicht, oder nur unzureichend sichergestellt. Eine Umfrage unter 40.000 syrischen Flüchtlingsfamilien hat zudem jüngst ergeben, dass zwei Drittel der in urbanen Siedlungsgebieten Jordaniens lebenden Flüchtlinge sich unter der absoluten Armutsgrenze befinden.

Unzureichende Finanzierung als Push-Faktor

Den Organisationen der Vereinten Nation fehlen in Jordanien dringend benötigte Gelder. Besonders dem UNHCR und dem Welternährungsprogramm (WFP) gehen die finanziellen Mittel aus. Das vom UNHCR benötigte Budget für 2015 zur Versorgung syrischer Flüchtlinge in Jordanien beläuft sich auf $1.191.392.175, ist jedoch erst zu 41% gesichert (Stand September 2015). Auch dem UNHCR Cash Assistance Programme fehlen Mittel - mittlerweile sind immerhin 73 % der benötigten $24 Millionen eingetroffen.

Aufgrund mangelnder Finanzierung musste das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen seine Lebensmittelhilfe in Jordanien stark einschränken. Statt 2.1 Millionen Lebensmittelgutscheinen wie zu Beginn des Jahres verteilt die Organisation mittlerweile nur noch rund 1.4 Millionen Gutscheine in den regionalen Erstaufnahmeländern und hat den Wert dieser Gutscheine stark gekürzt. Während die Gutscheine zu Beginn noch einen Wert von 35 Jordanischen Dinar (JOD) ca. 43,60 €) hatten und eine adäquate Nahrungsmittelversorgung sicherstellten, werden pro Flüchtling und Monat mittlerweile nur noch 20 JOD (~24,90 €) zur Verfügung gestellt, womit gerade noch die empfohlene Mindestkalorienzahl sichergestellt werden kann. Aufgrund mangelnder Mittel sah sich das WFP im April 2015 gezwungen, die Nahrungsmittelgutscheine für die von der UN als „schutzbedürftig“ kategorisierten Flüchtlinge um die Hälfte, auf monatlich 10 JOD (~12,45 €) zu kürzen und zwischen Mai und Juni auch die Nahrungsmittelgutscheine für „außerordentlich schutzbedürftige“ auf 15 JOD (~18,67 €) zu kürzen. Im September 2015 musste weiteren 229.000 „Schutzbedürftigen“ Flüchtlingen die Nahrungsmittelhilfe gestrichen werden, während 211.000 außerordentlich schutzbedürftig eingestuften Syrern der Wert ihrer Lebensmittelgutscheine auf die Hälfte reduziert wurde.

Um ihr lebensnotwendiges Nahrungsmittelhilfsprogramm zumindest bis November fortsetzen zu können, benötigt das Welternährungsprogramm dringend 236 Millionen US$.

Keine Perspektiven für Flüchtlinge in Jordanien

Die ausbleibenden Spendengelder haben unmittelbar spürbare Folgen für die syrischen Flüchtlinge im Land: Mittelos und bitterarm, müssen sie drastische Entscheidungen treffen, um ihr Überleben und das ihrer Familien zu sichern. Viele sind schon seit Jahren auf der Flucht und haben mittlerweile alle Ersparnisse aufgebraucht und auch alle mitgebrachten Wertgegenstände verkauft. Zu Beginn des Konfliktes noch existierende Versorgungsstrukturen haben sich aufgelöst - viele sind dem Wohlwollen internationaler Spender komplett ausgeliefert. Die sinkende Spendenbereitschaft und die damit schwindende humanitäre Hilfe zwingt sie auf radikale Maßnahmen zurückzugreifen. Um zu überleben reduzieren sie ihre tägliche Kalorienzufuhr drastisch, nehmen ihre Kinder aus den Schulen – damit diese zum Familieneinkommen beitragen können – und verheiraten ihre minderjährigen Töchter, um mit dem Brautgeld, den Rest ihrer Familie durchbringen zu können. Frauen verkaufen ihre Körper, um ihre Kinder ernähren zu können, und nehmen, soweit möglich, hohe Kredite auf.

Die sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Auswirkungen des Aufenthalts syrischer Flüchtlinge in Jordanien

Der Zustrom der syrischen Flüchtlinge ist von der lokalen Bevölkerung insgesamt erstaunlich neutral begleitet worden.

Dafür durfte nicht zuletzt auch der Umstand verantwortlich gewesen sein, dass ein großer Anteil der Flüchtlinge aus den grenznahen Gebieten im Süden Syriens stammt und zu einem beachtlichen Teil verwandtschaftliche Beziehungen zur Bevölkerung im Norden Jordaniens hat.

Natürlich hat die hohe Zahl syrischer Flüchtlinge im Land auch negative Auswirkungen auf Jordanien. Die Infrastruktur ist stark überlastet und der öffentliche Dienstleistungssektor hat seine Kapazitätsgrenze längst erreicht. Schulen, die schon vorher an ihren Belastungsgrenzen operierten, sind heillos überfüllt und arbeiten im Zwei-Schichtbetrieb. In der Vormittagsschicht werden jordanische Schüler unterrichtet, nachmittags syrische Schüler. Dies führt zu verkürzten Schulstunden und verminderter Unterrichtsqualität. Auch Krankenhäuser und medizinische Einrichtungen operieren an ihrer Belastungsgrenze und klagen unter nicht zu bewältigten Patientenzahlen. Wartezeiten steigen, die Qualität medizinischer Leistungen nimmt ab und die Zeit zwischen Kontroll- und Nachuntersuchungen nimmt zu. Ein weiteres Problem stellen die besonders in den urbanen Gebieten Jordaniens ins Unermessliche gestiegenen Immobilienpreise dar, die Jordaniern den Zugang zu Wohnraum extrem erschweren und zu starken Unstimmigkeiten führen.

In einzelnen Siedlungsorten hat die Zahl der Syrer mittlerweile die Zahl der Jordanier erreicht oder gar überschritten – dies wird beispielsweise von der Stadt Mafraq im Norden des Landes berichtet, die von ursprünglich rund 80.000 Einwohnern auf mittlerweile rund 160.000 Einwohner angewachsen sein soll.

Es gibt allerdings örtlich auch positive Berichte über das Zusammenleben der jordanischen Bevölkerung mit syrischen Flüchtlingen. Aus der Provinz Ma'an im Süden Jordaniens wird über Zusammenarbeit und nachbarschaftliche Begegnungen von Syrern und Jordaniern berichtet. So das Ergebnis einer analytischen Feldstudie mit dem Titel „Die sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Auswirkungen des Aufenthalts syrischer Flüchtlinge im Governorat Ma'an“, die im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung von der Al Hussein Universität in Ma’an durchgeführt wurde.

Jordanien hat die Genfer Flüchtlingskonvention nicht unterzeichnet. Flüchtlinge bekommen weder einen Aufenthaltstitel noch eine Arbeitserlaubnis. Tatsächlich arbeiten 160.000 bis 200.000 Syrer illegal und ziehen damit den Unmut der Jordanier auf sich. Häufig wird behauptet, syrische Arbeitskräfte, die notgedrungen niedrigere Löhne akzeptieren, würden jordanischen Arbeitnehmern Arbeitsplätze streitig machen. Das ist allerdings grundsätzlich nicht zu vermuten, da davon auszugehen ist, dass der Großteil der syrischen Flüchtlinge –sofern sie Arbeit finden – in der Landwirtschaft und im Dienstleistungssektor tätig werden, wo sie in der Regel ägyptischen und asiatischen Fremdarbeitern den Arbeitsplatz streitig machen. Auch haben Syrer Kapital im Wert von rund einer Milliarde US$ Jordanien mitgebracht und der jordanischen Wirtschaft zugeführt.

Eine Änderung der Grundposition Jordaniens, wonach die syrischen Flüchtlinge keinen verfestigten Aufenthaltsstaus und keine Arbeitserlaubnis bekommen, ist nicht zu erwarten. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass das ursprüngliche Staatsvolk – die Jordanier – schon durch den Zustrom von Palästinensern in den letzten 67 Jahren in die Position einer Minderheit im eigenen Land geraten ist. Den jordanisch-stämmigen Staatsbürgern (rund 35%) stehen heute rund 65% palästinensisch-stämmige Staatsbürger gegenüber, wobei letztgenannte vor dem Gesetz dieselben Rechte genießen wie erstgenannte. Vor diesem Hintergrund ist nachzuvollziehen, dass die Verfestigung des Status der syrischen Flüchtlinge, die dann unter Umständen in Zukunft auch zu Forderungen nach politischer Teilhabe führen könnte, in Jordanien nicht in Betracht gezogen wird. Im Regelfall werden die Flüchtlinge als „wafidin“, als Gäste, benannt - und von Gästen erwartet man, dass sie irgendwann wieder gehen.

Im Hinblick auf den Arbeitsmarkt, könnte jedoch die Idee, Jordanien einen Teil seiner Schulden bei der Weltbank und beim Internationalen Währungsfond zu erlassen, wenn das Land im Gegenzug Flüchtlingen den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert, hilfreich sein. Man könnte an den Erlass von 1,5% der Schulden für jeweils 10.000 Flüchtlinge denken, denen der Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht wird. Ein solches Konzept wäre sicher auch im Hinblick auf andere Aufnahmeländer in der Region überlegenswert.

Push-Faktor: Schwindende humanitäre Hilfe

Ohne jede Möglichkeit, einer legalen Arbeit nachzugehen und sich damit ihren Lebensunterhalt zu finanzieren, sind die Flüchtlinge in Jordanien auf die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft angewiesen. Die immer weniger werdenden Hilfsleistungen bringen sie dabei in die schwierige Lage entscheiden zu müssen, ob sie - trotz bitterer Armut und Perspektivlosigkeit - in Jordanien bleiben wollen oder ihr Glück woanders versuchen wollen. Entweder in Europa, oder in Syrien.

Trotz der schwierigen Lage und starker Sicherheitsrisiken kehren immer mehr Menschen in ihre syrischen Heimat zurück. In den letzten Monaten registrierte der UNHCR eine Zunahme der Rückkehrer, mit einer täglichen Rückkehrrate von 160 Personen im Oktober 2015. Davon wurden 74% von UN-Organisationen als “stark” oder “außerordentlich schutzbedürftig” eingestuft und sind daher diejenigen, die am stärksten unter den Kürzungen der Hilfe zu leiden haben. Ein starker Anstieg der Rückkehrerzahlen konnte schon im Juli und August 2015 beobachtet werden – zur selben Zeit hatte das WFP starke Kürzungen der Nahrungsmittelhilfe vorgenommen. Waren es im Juli noch 1.934 Flüchtlinge, die freiwillig nach Syrien zurückkehrten, verdoppelte sich die Zahl im August auf 3.853. Es scheint, als hätte sich die Situation in Jordanien so zugespitzt, dass eine wachsende Zahl von Syrern es vorzieht sich den erheblichen Sicherheitsrisiken in ihrer Heimat auszusetzten, statt weiter in bitterer Armut in Jordanien zu leben.

Offizielle Zahlen aus Zaatari, dem größten Flüchtlingslager Jordaniens, belegen, dass von den ungefähr 430.000 seit Beginn der Krise im Camp registrierten Syrern etwa 120.000 in ihre Heimat zurückgegangen sind, hauptsächlich in die südsyrische Provinz Dara'a. Als Hauptgründe für die Rückkehr ins Kriegsgebiet werden das Fehlen von Arbeits- und Bildungsmöglichkeiten, der Wunsch nach Familienzusammenführung und eine angeblich verbesserte Sicherheitslage angeführt.

Adnan Ghanoum war mit seinen 19 Familienmitgliedern nach Amman geflüchtet. Nachdem er vom WFP per SMS über den Stopp sämtlicher Nahrungsmittelhilfen informiert wurde, brach für ihn eine Welt zusammen. Außerstande, seine Familie weiter zu ernähren, entschied er sich für eine Rückkehr nach Syrien: “Lieber kehre ich nach Syrien zurück als hier zu sterben”.

Die überwiegende Mehrheit der Syrer, die Jordanien verlassen, kehrt in ihre Heimatstädte und -dörfer in den südsyrischen Provinzen zurück. Jedoch steigt auch die Zahl derer, die sich - meist über die Türkei - auf den Weg nach Europa machen. Perspektivlosigkeit in Jordanien und schwindende Hoffnung auf eine baldige Verbesserung der La ge in ihrem Heimatland sind wichtige Push-Faktoren bei der Entscheidung, sich auf die schwierige und teure Reise zu machen. Die Gefahren sind bekannt: Mehr als 2.500 Migranten sind nach UNHCR Informationen allein in diesem Jahr schon im Mittelmeer ertrunken . Doch die Zukunft in Jordanien scheint so düster, dass immer mehr Flüchtlinge dieses Risiko eingehen. So gibt es einige Anhaltspunkte dafür, dass eine wachsende Zahl von Familien ihren Besitz in Syrien verkauft (hauptsächlich in den Regionen um Dara’a und Damaskus), um ihre Migration nach Europa zu finanzieren. Am Ende ihrer Kräfte, hält viele die Hoffnung auf einen Neustart im fernen Europa am Leben. So auch im Fall eines syrischen Flüchtlings in Amman: Er war mit seiner neunköpfigen Familie in der Hoffnung nach Jordanien gekommen, bald wieder in sein Heimatland zurückkehren zu können. Nachdem alle Ressourcen aufgebraucht waren und die Familie komplett von fremder Hilfe abhängig geworden war, kam nun die Nachricht, dass sämtliche Lebensmittelhilfe eingestellt wird. Außerstande, Essen oder Medizin für sich und sein Kinder zu beschaffen, macht er sich nun über die Türkei auf den Weg nach Europa. Der Risiken dieser Reise vollkommen bewusst, argumentiert er: “Es ist besser schnell zu sterben als langsam, während Du deinen Kindern beim Verhungern zusiehst”.

Konsequenzen für Europa

Weniger als 10% der syrischen Flüchtlinge hat sich bis jetzt auf den Weg nach Europa gemacht. Doch die Zahl syrischer Asylanträge wird weiter steigen, wenn sich nicht bald ausreichende Finanzierung für Hilfsprojekte in Erstaufnahmeländern findet. Die sogenannte „donor fatigue“, Spendermüdigkeit, und die daraus folgende unzureichende Versorgung der Flüchtlinge in den Nachbarstaaten Syriens, wird sich ansonsten als weiterer, starker Push-Faktor auf den Flüchtlingsstrom nach Europa auswirken.

Jüngste Beobachtungen des UNHCR lassen schon jetzt darauf schließen, dass Flüchtlinge sich der schlechter werdenden Situation in Jordanien und dem Libanon bewusst sind und immer öfter direkt den Weg nach Europa einschlagen. Um dies zu verhindern hat die UN mehrfach zu erhöhter Spendenbereitschaft aufgerufen – bis lang jedoch ohne Erfolg. Der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, António Guterres, warnt daher "Wenn Erstaufnahmestaaten weiterhin mit ihrer Verantwortung alleine gelassen werden, besteht die ernsthafte Gefahr einer regionalen Destabilisierung”.

Über den Winter wird der Zustrom syrischer Flüchtlinge nach Europa vermutlich wetterbedingt abebben, doch wenn sich die Lage bis dahin nicht verbessert, werden im nächsten Frühjahr wieder Zehntausende an den Küsten Europas ankommen. Um zumindest den Push-Faktor „Hunger“ auszuschalten, ist es daher unumgänglich, dass eine ausreichende Finanzierung der UN-Hilfsprogramme sichergestellt wird. Langfristige Perspektiven für Flüchtlinge müssen erarbeitet werden und Arbeits- und Bildungsmöglichkeiten geschaffen werden.

Hoffnung Deutschland

Verarmt und verzweifelt stellt Deutschland für viele Syrer die Hoffnung auf ein besseres Leben in Würde und Wohlstand dar. Mehrere Punkte leisten ihren Beitrag zu dieser „Deutschlandeuphorie“: Zum einem verbreiten sich Bilder und Berichte über die neue deutsche „Willkommenskultur“ natürlich auch hier rasend schnell in den sozialen Netzwerken. Zum anderen haben die Flüchtlingsprognosen des Bundesinnenministeriums von bis zu 800.000 Asylanträgen bis Ende des Jahres (zwischenzeitlich schon auf bis zu 1.5 Millionen nach oben korrigiert) – wie es auch die libanesische Zeitung As-Safir verbreitete – Hoffnung geschürt, den Weg nach Deutschland zu schaffen.

Auch Gerüchte über ein angebliches Begrüßungsgeld in Höhe von 1.000 Euro pro Flüchtling und die Entsendung deutscher Schiffe nach Aqaba – für den direkten Transport syrischer Flüchtlinge in die Bundesrepublik - wurden von der Beiruter Zeitung As-Safir in die Welt gesetzt und verbreiten sich dank der sozialen Medien rasend schnell, auch in Jordanien. Des Weiteren wurde berichtet, dass Flüge von Amman nach Istanbul in letzter Zeit völlig ausgebucht seien, weil syrische Flüchtlinge auf dem Luftweg Jordanien verlassen würden, mit dem Ziel von Istanbul aus den Weg nach Europa anzutreten. Auch wenn dies in Einzelfällen nicht auszuschließen ist, gibt es keine überzeugenden Beweise für diese Behauptungen, besonders da die Flüge von Amman nach Istanbul im Regelfall immer gut, häufig sogar völlig ausgebucht sind. Allerdings setzt Turkish Airlines seit einiger Zeit auf einem der beiden täglichen Flüge von Amman nach Istanbul statt einem Airbus A 321 einen Airbus 330-200 ein, der rund 60 Sitze mehr bietet.

Einen Beitrag zur Deutschlandbegeisterung leistet auch die Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF), das Dublin-Verfahren für Syrien-Fluchtlinge auszusetzen. Eine neue Leitlinie sieht vor, dass Syrer, die in Deutschland Asyl beantragt haben, künftig nicht mehr in jene EU-Länder überstellt werden, in denen sie zuerst registriert wurden, sondern in Deutschland auf den Abschluss ihres Asylverfahrens warten dürfen. Das BAMF hat am 21.8.2015 eine Verfahrensregelung zur Aussetzung des europäischen Asylzuständigkeitsverfahrens entsprechend der Dublin III-Verordnung Dublin-Verfahrens für syrische Staatsangehörige veröffentlicht. In der Folge werden syrische Asylbewerber in das nationale Verfahren übernommen. Syrische Staatsangehörige erfüllen nach der Entscheidungspraxis des BAMF in der Regel die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, weshalb das BAMF auf diese Personengruppe ein beschleunigtes Asylverfahren anwendet, um eine zeitnahe Anerkennung als Flüchtling zu ermöglichen. Dabei wird grundsätzlich die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Asylverfahrensgesetz, das sich auf die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) bezieht, festgestellt. Als weiterer Pull-Faktor für eine Zukunft in Deutschland kann die schon jetzt große syrische Gemeinde in Deutschland aufgeführt werden. Einige Neuankömmlinge haben schon ein Familienmitglied, Freunde oder zumindest entfernte Verwandte im Land.

Die Welle der Begeisterung und Hilfsbereitschaft gegenüber den Bürgerkriegsflüchtlingen, die sich in den letzten Wochen an deutschen Bahnhöfen und Innenstädten abspielte, hat die neue deutsche Willkommenskultur geprägt. Doch mit nicht abebbenden Zahlen an Neuankömmlingen fängt die Stimmung an sich zu wandeln. Die Deutschen beginnen sich über die Aufnahmekapazitäten ihres Landes Sorgen zu machen. So hat die ARD „Deutschlandtrend“-Umfrage vom 2. Oktober ergeben, dass 51% der Befragten Angst vor den hohen Flüchtlingszahlen hat. Im Vergleich dazu, waren es drei Wochen vorher nur 38 %, die Bedenken anmeldeten.

Nachdem zehntausende syrische Flüchtlinge über die österreichisch-deutsche Grenze in Deutschland angekommen sind, hat Deutschland vorübergehende Grenzkontrollen eingeführt. Langfristig bleibt jedoch die Bekämpfung der Fluchtursachen in der Region Naher Osten die wichtigste Voraussetzung, auch für Deutschland. Langfristig zählt hierzu natürlich Frieden in Syrien, mittelfristig muss jedoch so viel Geld für Erstaufnahmestaaten zur Verfügung gestellt werden, dass Flüchtlingen ein menschenwürdiges Dasein ermöglicht wird. Dina El-Kassaby vom Welternährungsprogramm erklärt: “Wenn genügend Hilfe vorhanden wäre und Flüchtlingen ein menschenwürdiges Leben ermöglicht würde, würden sie diese Entscheidung (nach Europa zu fliehen) nicht treffen”.

Benötigte Geldmittel

Die am stärksten von den Flüchtlingsströmen betroffenen Nachbarstaaten Syriens sind auf stärkere finanzielle Unterstützung angewiesen, um ihrer Aufgabe gerecht werden zu können. Die von der Europäischen Union bewilligte eine Milliarde Euro an Sondermitteln für UNHCR und WFP zur Flüchtlingsversorgung in Erstaufnahmeländern ist ein Anfang, langfristig gesehen jedoch nicht ausreichend. Der UNHCR benötigt allein in Jordanien eine Milliarde USD um seine Hilfsprojekte im Land langfristig finanzieren zu können. Eine weiterführende Analyse der entstehenden Kosten (und Einkünfte) durch den Aufenthalt der syrischen Flüchtlinge im Land findet sich in der englischsprachigen KAS-Studie “The Socio-Economic Implications of Syrian Refugees on Jordan. A Cost-Benefit Framework” . Um seine Nahrungsmittelunterstützung für syrische Fluchtlinge in Jordanien aufrechterhalten zu können, benötigt das WFP zurzeit etwa 15 Millionen USD im Monat (180 Millionen USD im Jahr). Wenn man diese Zahlen auf den Libanon, die Türkei, Ägypten und den Irak überträgt, würde der Libanon über 300 Millionen USD, die Türkei etwa 600 Millionen USD, Ägypten 38 Millionen USD und der Irak weitere 71 Millionen USD jährlich benötigen . Die eine Milliarde Euro der EU würden nach dieser Rechnung also gerade ausreichen um das WFP in Jordanien, dem Libanon, der Türkei und Ägypten für ein Jahr zu finanzieren (insgesamt etwa 1.12 Milliarden USD). Die Finanzierung der Programme des WFP im Irak bliebe bei dieser Rechnung genauso ungeklärt wie die Finanzierung der Programme des UNHCR und sämtlicher anderer in den Ländern agierender Hilfsorganisationen. Auch sollte beachtet werden, dass diese Rechnung im Hinblick auf die Nahrungsmittelhilfe durch das WFP nur die absolute Mindestkalorienzahl garantiert, jedoch keine langfristig adäquate Lebensmittelversorgung.

Die USA agieren im Moment als größter Geldgeber der Region und bemühen, sich die gravierendsten Löcher zu stopfen. So stammen etwa 43% des UNHCR Budgets in Jordanien und der Region aus amerikanischen Spendengeldern. Die Europäische Union hat im Gegensatz dazu nur 4% zum Budget des UNHCR in Jordanien bzw. rund 10% zum Budget des UNHCR in der Region beigetragen. Deutschland allein gab 22.152.306 USD (3%). Die USA sind auch größter Geber des WFP.

Empfehlungen an die deutsche Politik

Um das Entstehen weiterer – durch unzureichende Finanzierung entstehende - Push-Faktoren zu vermeiden, muss Flüchtlingen in Jordanien ein menschenwürdiges Leben ermöglicht werden. Dazu zählt die ausreichende Versorgung mit Nahrungsmitteln, die Bereitstellung einer adäquaten Gesundheitsversorgung und die Schaffung von Perspektiven im Bereich Arbeit und Bildung. Der Leiter des vom UNHCR betreuten Flüchtlingslagers Zaatari, Hovig Etyemezian, empfiehlt daher folgendes:

1) Die Grundbedürfnisse der Flüchtlinge in Erstasylstaaten müssten ausreichend abgedeckt werden (Nahrungsmittel, Wasser, Elektrizität, Unterkunft, Gesundheitsversorgung, etc.).

2) Grund- und Weiterbildungsmöglichkeiten müssten geschaffen werden. Das beinhaltet die Schaffung von Grundschul-, Sekundarschul-, Universitäts- und Berufsbildungsplätzen. Um dies zu erreichen, muss das Bildungsministerium beim Bau neuer Schulen, der Finanzierung von Lehrergehältern und der Schaffung von neuen Stipendienprogrammen und Onlineweiterbildungsmöglichkeiten unterstützt werden. Des Weiteren kӧnnten Partnerschaftsprogramme zwischen jordanischen und deutschen (oder anderen) Bildungsinstitutionen hilfreich sein.

3) Um ihre Existenzgrundlage zu sichern müssten Flüchtlinge Zugang zum jordanischen Arbeitsmarkt erhalten. Jobmöglichkeiten für Syrer und Jordanier sollten hierbei durch Direktinvestitionen des Privatsektors in die jordanische Wirtschaft geschaffen werden.

4) Den am meisten auf Hilfe angewiesenen Flüchtlingen („am stärksten Schutzbedürftigen“) könnte die sichere Umsiedelung (resettlement) nach Europa ermöglicht werden, so dass sie dort entsprechend versorgt werden können.

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