Der Wahlkampf in Brasilien läuft knapp eine Woche vor dem ersten Wahlgang am 2. Oktober auf Hochtouren. Auf den Straßen verteilen Parteianhänger Flyer und Sticker mit den Gesichtern und Nummern der Kandidaten, schwenken Fahnen mit den Logos ihrer Parteien und bejubeln in Massen ihre Favoriten bei deren landesweiten Auftritten. Im Fernsehen und Radio werben die Anwärter zusätzlich mit Versprechen wie höherem Einkommen, mehr Arbeitsplätzen, Zugang zu Gesundheit und Bildung, Gleichberechtigung von Frauen und Afrobrasilianern, mehr innerer Sicherheit und Steuerreformen seit dem 15. August aktiv um die Stimmen der 156 Millionen wahlberechtigten Brasilianer. Internationale Politik spielt eine untergeordnete Rolle in den Debatten. Die Euphorie wird dabei immer wieder von vereinzelten Gewalttaten und hitzigen Auseinandersetzungen mit Beleidigungen überschattet. Auch laufende Ermittlungen gegen Parteien und Kandidaten wegen Verstößen gegen die Wahlgesetzgebung sowie Angriffe auf demokratische Institutionen wie das Oberste Wahlgericht TSE Tribunal Superior Eleitoral sind Teil des Panoramas.
Im Rennen um das Präsidentschaftsamt führt Lula in den Umfragen mit 45 bis 47 %. Trotz der unmittelbar vor dem Wahlkampf verabschiedeten Subventionen für Rentner, Menschen mit Behinderung, Bedürftige, LKW- und Taxifahrer, durch Steuersenkungen benachteiligte Bundesstaaten sowie durch die Ausnutzung staatlicher Anlässe wie dem 200. Unabhängigkeitstag Brasiliens am 7. September für Kampagnenzwecke konnte Bolsonaro den Abstand zum Spitzenkandidaten nur etwas verringern. Ihm werden momentan 33 % der Stimmen zugesprochen.1 Sein polemischer Diskurs in der brasilianischen Botschaft in London, wo er sich am 18. September anlässlich der Beerdigung von Queen Elizabeth II befand, und seine politisierte Eröffnungsrede bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 20. September in New York wirkten sich Analysten zufolge nicht spürbar auf die Wahlprognosen aus, schädigten jedoch Brasiliens Ruf auf dem internationalen Parkett. Abgesehen davon wanderten aufgrund der Performance der alternativen Kandidaten bei Interviews und in Fernsehdebatten zur Primetime im August auch einige Stimmen von Lula zum Sozialdemokraten Ciro Gomes (7 %, Partido Democrático Trabalhista - PDT) und der Kandidatin Simone Tebet (5 %, Movimento Democrático Brasileiro - MDB) ab. Dennoch ist der Abstand zu den Spitzenkandidaten zu groß, als dass sie oder ein anderer Kandidat realistische Aussichten auf den Einzug ins Präsidentenamt hätten. Der Abstand zwischen Lula und Bolsonaro könnte am Wahltag sogar noch knapper ausfallen, was dazu führen würde, dass keiner der beiden die erforderliche absolute Mehrheit für den direkten Einzug erhält. Ausschlaggebend hierfür könnten die Stimmen derjenigen sein, die aus Angst vor der Wahl eines Kandidaten seinen Opponenten wählen (voto amedrontado) oder sich für ihre insgeheime Wahlabsicht schämen (voto envergonhado) und diese daher nicht in den Umfragen preisgeben.2 Bereits 2018 hatten die Umfragen das tatsächliche Wahlergebnis Bolsonaros im ersten Urnengang um mehr als zehn Prozentpunkte verfehlt. Sollte auch dieses Jahr keiner der Kandidaten eine absolute Mehrheit erhalten, kommt es am 30. Oktober zu einer Stichwahl.
Aktuelle Situation des Landes
Zum Ende der Amtszeit der Regierung Bolsonaro leidet Brasilien sehr an den Folgen der Pandemie. 33,1 Millionen Brasilianer sind von Ernährungsunsicherheit betroffen,3 vier von fünf Brasilianern sind verschuldet 4 und knapp 10 % der Bevölkerung sind arbeitslos.5 Die Leidtragenden dieser Entwicklung sind vor allem die Haushalte mit geringem Einkommen. Die Bevölkerung kämpft mit der hohen Inflation, stark gestiegener Preise für Grundnahrungsmittel und Energie. Obwohl die Wirtschaftspolitik das zentrale Thema des Wahlkampfs ist, gewinnt auch die Umweltpolitik an Bedeutung, die insbesondere vom Ausland mit Interesse beobachtet wird.
Die Hauptkontrahenten
Die Biographien und Regierungszeiten der Spitzenkandidaten Lula und Bolsonaro könnten nicht unterschiedlicher sein. Lula stammt aus dem Nordosten von Brasilien und wuchs in armen Verhältnissen auf. Als Kind arbeitete er unter anderem als Straßenverkäufer, um etwas zum Unterhalt der Familie beizusteuern und hatte folglich keinen Zugang zu qualitativ hochwertiger Bildung. Als Fabrikarbeiter schloss es sich der Gewerkschaft der Metallindustrie an und wurde zu einem erfolgreichen Interessenvertreter. Lula begründete die Arbeiterpartei PT mit und bewarb sich wiederholt um das Amt des Präsidenten. 2003 gewann er das Rennen schließlich gegen den Spitzenkandidaten der PSDB (Partido da Social Democracia Brasileira) und wurde 2007 wiedergewählt. Während seiner achtjährigen Amtszeit gelang es ihm, Dank des Booms der internationalen Rohstoffpreise und der Einnahmen durch die wachsenden Handelsbeziehungen zu China sowie gezielter Investitionen und Programme die Armut und soziale Ungleichheit zu verringern, die Inflation zu halbieren und Arbeitslosenrate auf 6 % durch das Schaffen formeller Arbeitsplätze zu senken.6 Weiterhin festigte er Brasiliens Rolle als relevanter Akteur auf dem internationalen Parkett. Bei den diplomatischen Beziehungen herrschten vor allem pragmatische Kriterien wie das Wohl der Wirtschaft vor. Darüber hinaus kämpfte Lula für die regionale Integration Lateinamerikas und die Stärkung des Linkspopulismus in der Region. Überschattet wurden seine Amtszeit durch Korruptionsvorwürfe gegenüber seiner Partei im Zusammenhang mit Überpreisen öffentlichen Ausschreibungen sowie Geldveruntreuung. Auch er selbst musste sich vor Gericht wegen Vorteilsnahme verantworten. Seine 2018 auferlegte Haftstrafe wurde jedoch aufgrund von Prozessfehlern aufgehoben, weswegen er nun wieder für das Präsidentschaftsamt kandidieren darf.
Im Gegensatz zu Lula, stammt Bolsonaro aus gutbürgerlichen Verhältnissen und schlug eine Laufbahn im Militär ein. Bevor er in die Politik als Abgeordneter eintrat, erlangte er den Dienstgrad des Hauptmanns. Der Rechtspopulist wurde 2018 im Kontext der Politikverdrossenheit infolge der Korruptionsermittlungen gegen die Lula-Regierung und das politische Establishment als Außenseiter zum Präsidenten gewählt. Zu seiner Wählerbasis gehören insbesondere wohlhabende Unternehmer, Evangelikale und Militärs. Seine Amtszeit war geprägt vom abnehmenden Engagement für den Multilateralismus, die Annährung an autokratische Staaten wie z. B. Russland, die mangelnde Bekämpfung von Umweltverbrechen (Brasilien erreichte die höchste Entwaldungsrate seit 2006, wobei die zuständigen Kontrollbehörden nicht einmal die Hälfte ihres Budgets verausgabten) und vor allem des desaströsen Managements der Covid-19-Pandemie, der mehr als 680.000 Brasilianer zum Opfer fielen. Zudem griffen Bolsonaro und seine Anhänger wiederholt demokratische Institutionen wie den Obersten Gerichtshof und das Wahlgericht an. Zu seinen Errungenschaften zählen das Durchsetzen der längst überfälligen Rentenreform.
Während der Blick bei diesen Wahlen in erster Linie auf die gegensätzlichen Präsidentschaftskandidaten gerichtet ist, findet daneben ein anderer wichtiger Wahlkampf um die Sitze im Nationalkongress, die Besetzung der Landesregierungen und die bundesstaatlichen Parlamente statt.
Kongresswahlen
Im Superwahljahr 2022 stehen 513 Abgeordneten des Nationalkongresses sowie 1.035 Abgeordneten auf Ebene der Bundesstaaten zur Wahl. In einem Land mit Präsidialsystem mobilisieren Parlamentswahlen in der Regel eine geringere Zahl von Wählern und laut einer im Juli veröffentlichten Quaest-Umfrage wissen 66 % der Wähler in Brasilien nicht mehr, wen sie bei den letzten Wahlen gewählt haben.7 Für die politischen Parteien jedoch spielt der Markt der Stimmen bei den Kongresswahlen eine strategische Rolle. Mit einer Rekordzahl von Kandidaten in diesem Jahr (10.500 Kandidaten für das Amt des nationalen Abgeordneten und weitere 240 für das Amt des Senators) und vielen öffentlichen Finanzmitteln versuchen die Parteien, die Anzahl ihrer Sitze zu vergrößern. Der Wahltag am 2. Oktober wird somit auch für das brasilianische Parlament für die nächsten vier Jahre entscheidend sein.
Die Wahl der Abgeordneten erfolgt in Brasilien nach dem Verhältniswahlrecht, das heißt, dass den Bundesstaaten gemäß ihrer Bevölkerungsgröße zwischen 8 und 70 Sitze im Abgeordnetenhaus zustehen. 448 der 513 nationalen Abgeordneten beabsichtigen ihr Mandat zu verlängern. 49 der aktuellen Amtsinhaber bewerben sich dieses Jahr für ein anderes politisches Amt wie Senator oder Gouverneur. Was die Zusammensetzung der Abgeordnetenkammer anbelangt, so deuten Analysen darauf hin, dass die Mitte-Rechts- und Rechtsparteien - PL, PP, União Brasil und PSD - die Mehrheit der Sitze erlangen könnten. Auf diese Weise hätte ein möglicher Wahlsieger Lula (PT) es schwer, Mehrheiten für seine Regierung zu finden, wenn die Ergebnisse so eintreten, wie im Moment in den Vorhersagen angegeben. Demnach müsste Lula die Unterstützung von mindestens zehn Parteien erhalten, um regierungsfähig zu werden.
Im Senat stehen dieses Jahr 27 Sitze zu Wahl, allerdings streben nur 13 Senatoren eine Wiederwahl an. Mit der Neubesetzung der freiwerdenden Stellen wird ein neuer Senat gebildet, der aus drei Vertretern für jeden Bundesstaat besteht, d. h. insgesamt 81. Einige der Mandatsträger bewerben sich derzeit um Posten außerhalb des Senats und müssten im Falle einer Wahl ihr Amt abgeben. Dazu zählen auch Simone Tebet (MDB) und Soraya Thronicke (União Brasil), die am Rennen um das Präsidentschaftsamt sind, sowie Mara Gabrilli (PSDB), die für das Amt der Vizepräsidentin zusammen mit Simone Tebet kandidiert. Analysten gehen davon aus, dass es keine spürbaren Veränderungen in der Zusammensetzung des Senats für die kommende Legislaturperiode geben wird.8 Derzeit ist die MDB mit 13 Senatoren die stärkste Partei der Kammer, gefolgt von der PSD (11), União Brasil, PP und Podemos mit jeweils 8 Senatoren, PT und PL mit jeweils 7. Die PSDB stellt derzeit 6 Senatoren. Insgesamt sind 16 Parteien vertreten.9 Unter Präsident Bolsonaro war eine Annäherung der konservativen Parteien wie MDB, União Brasil und PP zu beobachten.10 Unabhängig vom Ausgang der Wahlen werden sowohl Lula, als auch Bolsonaro weiterhin auf Verhandlungen mit den Parteien des politischen Zentrums, dem so genannten Centrão, angewiesen sein, um ihre Gesetzesvorhaben durchzusetzen. Neben der Gesetzgebung haben Senatoren in Brasilien auch die Aufgabe, die Spitzen der Exekutive und Judikative anzuhören und zu kontrollieren, weswegen ein gutes Verhältnis zu dieser Parlamentarier im Interesse beider Kandidaten ist.11
Gouverneurswahlen
Mit Blick auf die Gouverneurswahlen in drei wichtigen Bundesstaaten wird die Komplexität des Wahlgeschehens deutlich und auch, dass auf dieser Ebene noch viel passieren kann.
So könnte die Gouverneurswahl im Bundesstaat São Paulo historisch werden. Im Falle eines Sieges von Fernando Haddad (PT), der derzeit in den Umfragen führt, könnte der Bundesstaat mit den meisten Wählern in Brasilien zum ersten Mal in der Geschichte einen linken Gouverneur bekommen, was die PSDB-Partei des derzeitigen Gouverneurs Rodrigo Garcia stark schwächen und Lulas Präsidentschaftskampagne stärken könnte. Wie auch der dritte Mitstreiter in diesem Bundesstaat, Tarcísio de Freitas (Republicanos), früher Infrastrukturminister im Kabinett Bolsonaro, liegt Garcia in den Umfragen aktuell hinter dem Kandidaten der PT, Fernando Haddad, der an Präsidentschaftswahl im Jahr 2018 als Kandidat teilgenommen hat, aber gegen Bolsonaro verlor.
In Rio de Janeiro findet das Rennen ganz im Lichte des Präsidentschaftswahlkampfes statt: es wird voraussichtlich zu einer Stichwahl zwischen Claudio Castro (PL) und Marcelo Freixo (Partido Socialista Brasileiro, PSB) kommen. Freixo, ein ehemaliger Bundesabgeordneter, wird von Präsident Lula durch ein Bündnis unterstützt, das zwischen der PT und der PSB, der Partei von Lulas Vizepräsidentschaftskandidaten Geraldo Alckmin (PSB), unterzeichnet wurde. Castro steht Bolsonaro sehr nahe und seine Regierung ist durch viele Korruptionsvorfälle überschattet, insbesondere auch dadurch, dass aktuell der Kandidat als sein Stellvertreter, Washington Reis (MDB) sich Untersuchungen der Bundespolizei wegen Korruption stellen muss. Bevor Castro das Gouverneursamt antrat, war er Vize des ehemaligen Gouverneurs von Rio de Janeiro, Wilson Witzel, der aufgrund von Korruptionsfällen verurteilt wurde und im Gefängnis sitzt. Trotzdem hat Castro, der sehr stark von evangelikalen Kreisen unterstützt wird, in den Umfragen einen Vorteil gegenüber Freixo, der mit dem ehemaligen Bürgermeister von Rio de Janeiro und Vertreter der PSDB, Cesar Maia, als seinem Stellvertreter antritt. Beide Politiker haben sich für eine Unterstützung Lulas ausgesprochen.
In Rio Grande do Sul, einem der wichtigsten Bundesstaaten im Süden des Landes kämpfen drei Kandidaten um die Wählergunst: der ehemalige Gouverneur von Rio Grande do Sul, Eduardo Leite (PSDB) mit 38 % in den Umfragen, der ehemalige Bundesabgeordnete und Minister im Kabinett Bolsonaro, Onyx Lorenzoni (PL) mit 26 % und Edgar Pretto (PT) mit 10 %. Es wird erwartet, dass der PT-Kandidat keine Siegchancen hat, sondern das Rennen zwischen Eduardo Leite, einem Hoffnungsträger der PSDB und Onyx Lorenzoni ausgetragen wird. Insbesondere für die PSDB wäre ein Sieg Leites von großer Bedeutung für die Zukunft.
Ausblick
Brasilien blickt elektrisiert auf den Wahltag am 2. Oktober, dessen Ausgang offen ist. Bis dahin kann jeden Tag noch viel passieren und es ist schwer vorherzusagen, welche Faktoren dann schließlich die Wähler beeinflussen. Deutlich ist im Moment nur, dass der Wahlkampf der Spitzenkandidaten weniger durch neue Konzepte und Ideen für das Land gekennzeichnet ist, sondern durch Angriffe und Beleidigungen auf beiden Seiten. Es ist zu hoffen, dass die Gewalt nicht eskaliert und es im Falle einer möglichen Wahlniederlage Bolsonaros zu einer friedlichen Amtsübernahme und einer Anerkennung der Ergebnisse kommen wird, auch wenn angesichts der Hinterfragung der Zuverlässigkeit der international anerkannten und getesteten elektronischen Wahlurnen immer noch das Gespenst des Aufruhrs im Raum steht.
Deutlich scheint nur zu sein, dass die Wahl, erst recht bei einem zweiten Durchgang, nicht durch Zustimmung, sondern durch die hohe Ablehnungsquote für einen Kandidaten entschieden wird und dass für die Regierungsfähigkeit des zukünftigen Präsidenten die Zusammensetzung der Abgeordnetenkammer und des Senats entscheidend sein wird.
1 https://g1.globo.com/politica/eleicoes/2022/ao-vivo/pesquisa-datafolha-2209-eleicao-para-presidente.ghtml
2 https://noticias.uol.com.br/eleicoes/2022/09/15/analise-pesquisas-jose-roberto-toledo.htm
3 https://agenciabrasil.ebc.com.br/geral/noticia/2022-06/pesquisa-aponta-que-fome-atinge-331-milhoes-de-pessoas-no-pais
4 https://fdr.com.br/2022/09/13/brasileiros-separam-menos-dinheiro-para-pagamento-de-dividas/
5 https://www.ibge.gov.br/indicadores.html
6 https://brasilescola.uol.com.br/historiab/governo-luis-inacio-lula-da-silva.htm
7 https://www.focus.jor.br/quaest-mais-de-60-dos-eleitores-desaprovam-congressistas-e-nem-se-lembram-em-quem-votaram-em-2018/
8 https://www.infomoney.com.br/politica/renovacao-no-senado-pode-chegar-a-50-mesmo-com-so-1-3-dos-assentos-em-disputa-mas-analistas-sao-ceticos-veja-quem-lidera-em-cada-estado/
9 https://www25.senado.leg.br/web/senadores/em-exercicio/-/e/por-partido
10 https://www.politize.com.br/o-que-e-o-centrao/
11 https://www.infomoney.com.br/politica/quais-sao-os-cargos-para-votar-nas-eleicoes-2022/
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