Seit dem 24. Februar 2022 herrscht in Deutschland ein anderer Blick auf die Themen Bundeswehr und Kriegstüchtigkeit. Der russische Angriff auf die Ukraine hat auch die Frage aufgeworfen, wie sich Deutschland gegen potenzielle Bedrohungen schützen kann. Das Regionalbüro Rheinland der Konrad-Adenauer-Stiftung nahm dieses Thema zum Anlass für das erste Niederrheinische Tellerrand-Gespräch in Neukirchen-Vluyn.
In ihrer Eröffnung sagte Simone Gerhards, Leiterin des Büros Rheinland: „Für die Premiere dieser Veranstaltungsreihe haben wir uns ein Thema ausgesucht, welches uns und unser Selbstverständnis als Demokratinnen und Demokraten in den kommenden Jahren prägen wird.“ Die Bundestagsabgeordnete Kerstin Radomski bezeichnete den russischen Angriff auf die Ukraine in ihrem Grußwort als „Zäsur“: „Die Folgen werden wir noch lange erleben und spüren. Die Bundeswehr ist aus der aktuellen Debatte nicht mehr wegzudenken. Die Themen Sicherheit und Geopolitik sind zurück in Europa.“
Die Frage nach der Reformfähigkeit des Staates
Gast des Abends war der Militärhistoriker Prof. Dr. Sönke Neitzel. In seinem Vortrag machte er deutlich, welche Herausforderung in seinen Augen die größte ist: Die Reformfähigkeit des Staates und der einzelnen Institutionen, wie auch der Bundeswehr. In der Gesellschaft habe sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs die Einstellung breit gemacht, „man brauche keine Kriege mehr“. Damit sei die Hoffnung verbunden gewesen, dass sich auch Russland im Laufe der Zeit in die liberale Welt einfüge. „Wir haben Krieg aus dem Referenzrahmen der Politik und der Gesellschaft ausgeschlossen, wir haben uns die Frage gestellt, wozu wir Streitkräfte überhaupt brauchen“, sagte Neitzel.
Im Gespräch mit der Journalistin Charleen Florijn erklärte er, dass es hier zu einem Umdenken kommen müsse – dahin, dass es sich bei der Bundeswehr um eine „Gewaltorganisation“ handelt, die auch existiere, um abzuschrecken. Das Wesen des Militärs sei mit der Zeit umgedeutet worden ins Zivile. Dies sei auch an den jüngsten Einsätzen der Bundeswehr im Ausland zu sehen. Dass ein Soldat aber dazu da sei, im Ernstfall auch für sein Land zu sterben, müsse offen und klar kommuniziert werden.
„Seit dem 24. Februar sind die Gewissheiten am Ende“
Die Moderatorin Charleen Florijn öffnete die Diskussion anschließend für das Publikum. Von den etwa 100 Gästen kam unter anderem die Frage danach, wie die Bundeswehr in der Gesellschaft sichtbarer werden kann. Sönke Neitzel lobte in diesem Zusammenhang den Vorstoß der damaligen Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer, die das kostenlose Bahnfahren für Soldatinnen und Soldaten einführte. Dadurch sei die Bundeswehr – zumindest an den Bahnhöfen – ein Stück weit sichtbarer geworden. Im öffentlichen Erscheinungsbild sei aber noch „Luft nach oben“.
Bei der Frage, wie und wann der Krieg in der Ukraine zu einem Ende kommen könnte, wollte sich Neitzel nicht festlegen: „Seit dem 24. Februar sind die Gewissheiten am Ende. Keiner von uns kann sagen, wie die Weltpolitik weitergeht. Ich bin von diesem Tag überrascht worden – und genauso übrigens auch vom 7. Oktober letzten Jahres. Und über andere Konfliktregionen, wie zum Beispiel Taiwan, sprechen wir heute Abend besser gar nicht.“
„Wir müssen unsere Hausaufgaben machen“
Neitzel machte deutlich, dass auch Deutschland und andere westeuropäische Staaten darüber mitentscheiden, ob die Ukraine den Krieg gewinnt. Die „maximale Unterstützung“ sei unabdingbar: „Wir müssen unsere Hausaufgaben machen. Denn wenn die Ukraine zusammenbricht, weiß keiner, ob Putin den nächsten Schritt macht.“ Die Rückeroberung der von Russland annektierten Gebiete bezeichnete Neitzel allerdings als „militärische Illusion“. Damit das gelingen kann, müssten auch die westlichen Länder deutlich mehr investieren: „Dass das passiert, sehe ich nicht.“
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