Entschieden wandten sich Gerichtspräsident Harbarth und die ehemalige Vizepräsidentin des EGMR Nußberger, ebenso wie Gastgeber und Stiftungsvorsitzender, Prof. Nobert Lammert, gegen Diskreditierungen des Rechtsstaates durch Vergleiche zur NS-Diktatur in der Corona-Pandemie. „Alle, die mit dem Diktaturbegriff hantieren, sollten sich die Frage stellen, ob sie sich an Demonstrationen beteiligen würden, wenn sie diesen Vorwurf ernst meinten“, bemerkte Lammert. Harbarth betonte: „Die Bewältigung der Corona-Pandemie vollzieht sich in den Bahnen des Rechts.“ Die Verfassung gelte uneingeschränkt, sei aber auch gegenüber außergewöhnlichen Gefahrenlagen nicht blind. Es dürfe nicht zu langfristigen Verschiebungen im Verfassungsgefüge über die Situation der Pandemie hinaus kommen. Aber auch gegenwärtig seien unter der Überschrift der Pandemiebekämpfung und des Lebens- und Gesundheitsschutzes nicht beliebig weitgehende Grundrechtseingriffe zulässig.
Gerichte können nicht anstelle der Politik entscheiden
Zur Rolle der Gerichte bemerkte Harbarth, diese seien nicht besser geeignet, Wissenslücken zu schließen oder widerstreitende Interessen auszugleichen. Aufgabe der Judikative sei es, die Einhaltung des rechtlichen Rahmens auch in der Pandemie zu kontrollieren. Zur Debatte über die Notwendigkeit parlamentarischen Handelns sagte er, wenn die Gefahrenlage und geeignete Abwehrmaßnahmen deutlicher zu erkennen und die Folgen sich besser abschätzen ließen, liege es in der Verantwortung des Gesetzgebers, von einem gewissen Zeitpunkt an Vorgaben zur Pandemiebekämpfung zu präzisieren – oder das Risiko in Kauf zu nehmen, dass die Gerichte einen Verstoß gegen die geltende Rechtslage rügten.
Hunderte von Corona-Verfahren in Karlsruhe
Das Bundesverfassungsgericht selbst ist mittlerweile mit hunderten sogenannter Corona-Verfahren befasst. Ein großer Teil davon weise allerdings ersichtliche Zulässigkeitsmängel auf, erläuterte Harbarth. Entscheidungen seien bislang nur in Verfahren des Eilrechtsschutzes getroffen worden. Meist hatten Antragsteller, die sich gegen Freiheitsbeschränkungen wehrten, zunächst keinen Erfolg. Grund dafür sei unter anderem die hohe Bedeutung, die der Lebens- und Gesundheitsschutz bei der gerichtlichen Folgenabwägung habe. Eilanträge, mit denen vor dem Karlsruher Gericht weitergehende staatliche Beschränkungen begehrt wurden, seien mit Hinweis auf den weiten Spielraum staatlicher Stellen bei der Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten abgelehnt worden.
„Wir sind kein gespaltenes Land.“
Trotz gesellschaftlich strittiger Fragen, nicht nur in der Corona-Pandemie, sieht Harbarth den gesellschaftlichen Grundkonsens nicht gefährdet, auch wenn die Fliehkräfte stärker geworden seien. „Dennoch sind wir in summa weit davon entfernt, ein gespaltenes Land zu sein.“ Eindringlich warnte er davor, „ohne Grund eine Krise der Rechtsstaatlichkeit in Deutschland herbeizureden“. Harbarth verwies auf EU-Länder „mit gravierenden rechtsstaatlichen Defiziten, in denen von richterlicher Unabhängigkeit kaum mehr gesprochen werden kann.“ Wer intakte Rechtsstaaten wie Deutschland aus Anlass der Pandemie zu Unrecht als rechtsstaatlich defizitär brandmarke, verwandle kategoriale Unterschiede in graduelle und erweise der Hebung rechtsstaatlicher Standards in Staaten mit Defiziten einen Bärendienst.
Sorge über Rechtsstaatsdefizite in EU-Staaten
Rechtsstaatlich gesehen sei die Lage in Polen und Ungarn „sehr besorgniserregend“, bestätigte Nußberger mit Hinweis auf den Rechtsstaatsbericht der EU-Kommission. Nußberger ist unter anderem Mitglied der Venedig-Kommission des Europarates, die unter anderem Stellungnahmen zu Rechtsstaatsfragen erarbeitet. Es sei „konsequent“, EU-Mitgliedstaaten bei systemischer Gefährdung von Rechtsstaatsprinzipen EU-Gelder zu kürzen, sagte sie in dem Podiumsgespräch, das von Dr. Heinrich Wefing, Ressortleiter der "Zeit" moderiert wurde. Für die Sicherung der Rechtsstaatlichkeit brauche man „Zähne“, verteidigte Nußberger den sogenannten EU-Rechtsstaatsmechanismus. Harbarth fügte hinzu, er würde sich wünschen, dass finanzielle Sanktionen nicht nötig seien und erinnerte an die Beiträge Polens und Ungarns zur Förderung des freiheitlichen Rechtsstaatsmodells nach dem Zerfall der Sowjetunion. Aber zu diesem Modell gehörten auch unabhängige Gerichte. Wie solle etwa ein europäisches Asylsystem oder die europäische Zusammenarbeit in Strafsachen ohne unabhängige Gerichte funktionieren?
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