Eigentlich hätte das Vereinigte Königreich am 29. März 2019 aus der Europäischen Union austreten sollen. 2016 sprachen sich die britischen Bürger für den sogenannten Brexit aus, auch nach massiver Stimmungsmache der EU-skeptischen und rechtspopulistischen Partei UKIP. Seit den letzten Jahren sind Rechts- und Linkspopulisten in den Landes- und nationalen Parlamenten europaweit auf dem Vormarsch, so Professor Norbert Lammert, der diesen politischen Wandel auf eine einfache Formel bringt: „Die Europaskeptiker sind lauter geworden.“ Doch gleichzeitig stellt der Vorsitzende der Konrad-Adenauer-Stiftung fest, dass die Zustimmung zur EU seit dem Brexit-Referendum gestiegen ist; dem „Eurobarometer“ zufolge halten immerhin 62 Prozent der Befragten die EU-Mitgliedschaft ihres Landes für eine gute Sache: „Das ist im Übrigen der höchste Stand der letzten 25 Jahre.“
Populisten eint die „explizite Vorstellung, Probleme national zu lösen“
Trotz dieser optimistischeren Werte gewinnen europaskeptische Parteien an Zulauf. Die Gründe dafür sind vielfältig. Caroline Kanter macht am Beispiel Italien deutlich, dass der Aufstieg der populistischen Parteien dort durch die Geschichte des Landes selbst zu erklären ist: Der große Korruptionsskandal in den 1990er Jahren erschütterte nicht nur den Glauben an die Volksparteien, sondern „zerstörte maßlos das Vertrauen in die politische Elite“. Paradoxerweise regieren in Rom, wo Kanter das dortige Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung leitet, die linkspopulistische Fünf-Sterne-Bewegung und die rechtspopulistische Lega gemeinsam. Mit ihrer „Wutrhetorik können sie Wähler mobilisieren“, sie eint der Kampf gegen die politische Klasse genauso wie ihre EU-Kritik – und „ihr Fokus ist ganz eindeutig national“. Ein gemeinsames Merkmal europäischer Populisten, findet der Mainzer Historiker Professor Andreas Rödder: Diese „explizite Vorstellung, Probleme national zu lösen, gilt für alle Bewegungen.“
„Aggressive Angriffe“, aber auch aktive Beteiligung am Parlamentarismus
Die wohl gravierendere Gefahr populistischer Parteien zeigt sich jedoch in ihrem Angriff auf die repräsentative Demokratie, mahnt Kanter an: „Sie stellen die Systemfrage.“ In Italien beispielsweise habe Staatspräsident Sergio Mattarella die Medien und das Parlament darauf hinweisen müssen, dass die Staatsgewalten ihre Aufgaben auch wahrnehmen müssten, so Kanter. Trotz dieser grundständigen Herausforderung bringe der Begriff Populismus jedoch auch eine gewisse Unschärfe mit sich, verdeutlicht Dr. Eckart Lohse: „Allein die Zusammensetzung der Bundestagsfraktion der AfD zeigt, das sind nicht nur Leute, die schon immer einen Knall hatten.“ Der Berliner Leiter der F.A.Z.-Hauptstadtredaktion registriert zwar die „aggressiven Angriffe“ der Rechtspopulisten in den deutschen Parlamenten, er erkenne aber auch deren aktive Beteiligung am Parlamentarismus.
„Das Europäische Parlament hat auf die Gestaltung der Lebensverhältnisse auf diesem Kontinent einen stärkeren Einfluss als eine große Zahl der nationalen Parlamente.“
Sein F.A.Z.-Kollege, der verantwortliche Redakteur für Außenpolitik Klaus-Dieter Frankenberger, sieht einen notwendig gewordenen Spagat: „Wir dürfen die Kritiker nicht dämonisieren, aber Europa auch nicht denen überlassen, die es zerstören wollen.“ Dass Europa seine Bürger betrifft, sei ihnen spätestens seit der Wirtschafts- und Finanzkrise deutlich geworden, so Frankenberger. Lammert, der von 2005 bis 2017 Präsident des Deutschen Bundestags war und dem die Auswirkungen parlamentarischer Entscheidungen auf das Leben der Menschen entsprechend bewusst sind, wird noch deutlicher: „Das Europäische Parlament hat auf die Gestaltung der Lebensverhältnisse auf diesem Kontinent einen stärkeren Einfluss als eine große Zahl der nationalen Parlamente.“ Dennoch würden in Deutschland „die Wahlen zum Europäischen Parlament notorisch unterschätzt“, kritisiert er.
„Europa muss den Hintern hochkriegen und sich den Zukunftsfragen stellen.“
Allein deshalb braucht es mehr Debatte, fordert Frankenberger: „Es ist wichtig, was jetzt passiert. Lassen Sie uns diskutieren, was ist uns dieses Europa wert!“ Demokratie, Frieden und Freiheit sind die Errungenschaften des Integrationsprozesses. Aber wie gehen wir mit künftigen Herausforderungen um, gibt es eine gemeinsame Vision von Europa? Auf diese Fragen gibt es (noch) keine Antwort. Wenn europäische Zusammenarbeit wieder einen echten Mehrwert bringt, könnte die EU auch noch weiter an Attraktivität gewinnen, findet Rödder: „Europa muss den Hintern hochkriegen und sich den Zukunftsfragen stellen.“
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